VwGH Ra 2021/07/0061

VwGHRa 2021/07/006116.11.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth sowie die Hofräte Dr. Bachler und Mag. Haunold als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Sinai, über die Revision des J K in W, vertreten durch Dr. Armin Exner, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Meinhardstraße 6/III, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom 31. März 2021, Zl. LVwG‑2021/33/0236‑1, betreffend eine Angelegenheit nach dem Tiroler Wald- und Weideservitutengesetz (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Tiroler Landesregierung als Agrarbehörde), zu Recht erkannt:

Normen

MRK Art6
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §24
WWSLG Tir 1952 §39
WWSLG Tir 1952 §41
WWSLG Tir 1952 §8 Abs5
WWSLG Tir 1952 §9 Abs2

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021070061.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Das Land Tirol hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Auf der Grundlage einer Servitutenregulierungsurkunde vom 25. April 1871 sind im Lastenblatt (C‑Blatt) der Liegenschaft EZ 50, KG W., der Gemeinde W. unter C‑LNR 6 „Dienstbarkeiten der Weide“ (Weiderechte) auf Grundstück Nr. 835/1 zu Gunsten näher bezeichneter Liegenschaften der KG W., darunter EZ 90008 des Revisionswerbers, grundbücherlich einverleibt.

2 Mit Schreiben vom 30. Juni 2020 ersuchte die Gemeinde W. die belangte Behörde um Einleitung des Servitutenverfahrens zur Freistellung von drei Teilflächen des Grundstücks Nr. 835/1 im Gesamtausmaß von 389 m2, um diese mit einem anderen Grundstück der KG W. zu vereinigen.

3 Mit rechtskräftigem Bescheid vom 6. August 2020 stellte die belangte Behörde gemäß § 39 des Tiroler Wald- und Weideservitutengesetzes (WWSG) fest, dass ein gültiger Antrag der Gemeinde W. vorliege, und verfügte die Einleitung des Servitutenverfahrens zur Neuregulierung der auf der Grundlage der Servitutenregulierungsurkunde vom 25. April 1871 einverleibten Weiderechte.

4 Im eingeleiteten Verfahren legte der agrarfachliche Amtssachverständige Ing. A. M. aufgrund eines entsprechenden Auftrags der belangten Behörde ein Neuregulierungskonzept vom 3. Dezember 2020 zur Frage vor, ob bzw. welche Maßnahmen bei einer Entlastung der drei Teilflächen des Grundstücks Nr. 835/1 zum Ausgleich des Futterverlusts im verbleibenden Servitutsgebiet zu treffen seien.

5 Auf Basis dieses Neuregulierungskonzepts erließ die belangte Behörde mit Bescheid vom 15. Dezember 2020 gemäß § 41 WWSG einen Anhang zur Servitutenregulierungsurkunde vom 25. April 1871, nach dessen Spruchpunkt I. die drei Teilflächen des Grundstücks Nr. 835/1 von den unter C-LNR 6 der EZ 50, KG W., einverleibten Weiderechten freigestellt würden.

6 Sie sprach ferner aus, zum Ausgleich des Futterverlusts für die unter Spruchpunkt I. verfügte Entlastung seien auf Grundstück Nr. 835/1 die oberflächlichen Steine mittels Löffelbagger im unmittelbaren Bereich des neu errichteten Zufahrtswegs zur „G.“ ‑ unterhalb des Wegs im Flächenausmaß von ca. 1.500 m2 ‑ zu entfernen. Die Weideverbesserung sei von der Gemeinde W. nach der Schneeschmelze bis spätestens Ende Juni 2021 auf deren Kosten durchzuführen. Die vorhandenen Gehölze seien dabei auf der gegenständlichen Projektfläche zu belassen (Spruchpunkt II.).

7 Im Übrigen blieben die Bestimmungen der Servitutenregulierungsurkunde vom 25. April 1871 weiterhin in Geltung (Spruchpunkt III.).

8 Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde, in der er die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht und die ersatzlose Behebung des Bescheids der belangten Behörde vom 15. Dezember 2020 beantragte.

9 Dazu brachte er vor, mit dem Bescheid der belangten Behörde vom 15. Dezember 2020 würden in Wahrheit keine Ersatzflächen geschaffen, sondern nur bereits bestehende Weideflächen von Steinen geräumt. Hierzu sei allerdings auszuführen, dass sich dieser Flächenteil (gemeint: des Grundstücks Nr. 835/1 im unmittelbaren Bereich des neu errichteten Zufahrtwegs zur „G.“ im Ausmaß von 1.500 m2) genau im Lawinenkegel befinde und davon auszugehen sei, dass auch in den nächsten Jahren diese Flächen regelmäßig mit Geröll, wiederum nach dem nächsten Winter, zugeschüttet würden.

10 Derartiges sei im genannten Bescheid nicht ausgeführt, sodass davon auszugehen sei, dass die einmalige Räumung dieses Bereichs von Geröll (bis spätestens Ende Juni 2021) für die Zukunft für den Revisionswerber und andere Berechtigte nichts bringe. Tatsache sei, dass keine Ersatzfläche, die der Qualität der abgeteilten Grundstücke entspreche, geschaffen werde, sodass die Abtrennung der drei Teilflächen rechtswidrig sei. Die Gemeinde W. werde daher andere Ersatzflächen zur Verfügung zu stellen haben, damit eine Abtrennung rechtlich zulässig sei. Alleine mit der Weideverbesserungsmaßnahme auf Grundstück Nr. 835/1, welche nur für das Jahr 2021 auferlegt worden sei, sei es nicht getan.

11 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde des Revisionswerbers - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ ab. Die ordentliche Revision erklärte es für nicht zulässig.

12 Begründend führte es aus, vom Revisionswerber werde im vorliegenden Fall „im Sinn des § 8 Abs. 5 WWSG“ vorgebracht, dass die geplante Neuregulierung den Ertrag der Nutzungsrechte der übrigen Berechtigten schmälern und die Servitutlast dadurch drückender würde.

13 Dieses Vorbringen habe im Zuge des durchgeführten Beschwerdeverfahrens entkräftet werden können. Vom Amtssachverständigen Ing. A. M. sei in seinem Neuregulierungskonzept vom 3. Dezember 2020 unter anderem ausgeführt worden, dass die gegenständliche Weidefreistellung einen Futterentgang in der Höhe von 44 kg Trockenheu mittlerer Güte bewirke. Dieser Futterentgang könne aus agrarfachlicher Sicht durch die Entfernung der oberflächlichen Steine mittels Löffelbagger auf Grundstück Nr. 835/1 im unmittelbaren Bereich des neu errichteten Zufahrtswegs zur „G.“ ‑ unterhalb des Wegs im Flächenausmaß von ca. 1.500 m2 ‑ kompensiert werden. Somit ergäbe sich ein Mehrertrag an Trockenheu mittlerer Güte im Ausmaß von etwa 45 kg.

14 Dem Revisionswerber sei es nicht gelungen, diese Ausführungen zu entkräften. So sei vom Amtssachverständigen in seinem Neuregulierungskonzept schlüssig und nachvollziehbar dargelegt worden, dass durch die Entfernung der oberflächlichen Steine mittels Löffelbagger auf Grundstück Nr. 835/1 im unmittelbaren Bereich des neu errichteten Zufahrtswegs zur „G.“ ‑ unterhalb des Wegs im Flächenausmaß von ca. 1.500 m2 ‑ der Futterentgang kompensiert werde.

15 Somit sei es dem Revisionswerber nicht gelungen, eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids aufzuzeigen. Insbesondere sei sein Vorbringen nicht auf gleicher fachlicher Ebene erfolgt, weshalb die Beschwerde spruchgemäß als unbegründet abzuweisen gewesen sei.

16 Die Unzulässigkeit der ordentlichen Revision begründete das Verwaltungsgericht im Wesentlichen mit den verba legalia des Art. 133 Abs. 4 B‑VG.

17 Dagegen erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 8. Juni 2021, E 1761/2021-5, ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

18 In der nunmehr erhobenen außerordentlichen Revision werden Rechtswidrigkeit des Inhalts und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht.

19 Die belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der sie die kostenpflichtige Zurück- bzw. Abweisung der Revision beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem nach § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:

20 In der Zulässigkeitsbegründung der Revision wird dem Verwaltungsgericht unter dem Gesichtspunkt eines Abweichens von der hg. Rechtsprechung eine Verletzung der Verhandlungspflicht vorgeworfen.

21 Die Revision erweist sich aus diesem Grund als zulässig und begründet.

22 § 24 VwGVG lautet auszugsweise:

Verhandlung

§ 24. (1) Das Verwaltungsgericht hat auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.

(...)

(...)

(4) Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entgegenstehen.

(...)“

23 Der Revisionswerber hat in seiner Beschwerde gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 15. Dezember 2020 gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht beantragt.

24 Folglich durfte das Verwaltungsgericht nach der ausdrücklichen Anordnung des § 24 Abs. 4 VwGVG von einer Verhandlung grundsätzlich nur dann absehen, wenn die Akten hätten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) entgegenstehen.

25 Nach der ständigen hg. Rechtsprechung ist eine Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht daher durchzuführen, wenn es um „civil rights“ oder „strafrechtliche Anklagen“ im Sinn des Art. 6 EMRK oder um die Möglichkeit der Verletzung einer Person eingeräumter Unionsrechte (Art. 47 GRC) geht und eine inhaltliche Entscheidung in der Sache selbst getroffen wird. Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 47 GRC stehen dem Absehen von einer Verhandlung von Seiten des Verwaltungsgerichtes (§ 24 Abs. 4 VwGVG) nur dann nicht entgegen, wenn der entscheidungsrelevante Sachverhalt feststeht und auch keine Fragen der Beweiswürdigung auftreten können, sodass eine Verhandlung nicht notwendig ist. Des Weiteren hat der Verwaltungsgerichtshof in Bezug auf § 24 Abs. 4 VwGVG bereits wiederholt festgehalten, dass der Gesetzgeber als Zweck einer mündlichen Verhandlung die Klärung des Sachverhalts und die Einräumung von Parteiengehör sowie darüber hinaus auch die mündliche Erörterung einer nach der Aktenlage strittigen Rechtsfrage zwischen den Parteien und dem Gericht vor Augen hatte.

26 Bei konkretem sachverhaltsbezogenem Vorbringen ist jedenfalls eine mündliche Verhandlung durchzuführen (vgl. zu all dem VwGH 28.7.2021, Ra 2020/10/0145, mwN).

27 Dem vorliegenden Revisionsfall liegt die mit Bescheid der belangten Behörde vom 15. Dezember 2020 erfolgte Neuregulierung von Weiderechten gemäß § 41 WWSG zu Grunde. Diese Neuregulierung ist das Ergebnis des mit Bescheid der belangten Behörde vom 6. August 2020 rechtskräftig eingeleiteten „einheitlichen“ Servitutenverfahrens (zum Ablauf des stufenförmig aufgebauten Servitutenverfahrens vgl. grundlegend VwGH 28.4.2005, 2004/07/0054, mwN).

28 Eine solche Neuregulierung von Weiderechten ‑ wie die vorliegende Weidefreistellung belasteter Flächen und die nötigen Kompensationsmaßnahmen für den Futterentgang ‑ betrifft „civil rights“ im Sinn des Art. 6 EMRK (vgl. zur Aufhebung von Bringungsrechten VwGH 26.9.2013, 2011/07/0003).

29 Vor diesem Hintergrund ist der Revisionswerber in seiner Bescheidbeschwerde der Einschätzung der belangten Behörde, wonach der aufgrund der Neuregulierung zu erwartende Futterentgang durch die - einmalig bis Ende Juni 2021 von der mitbeteiligten Partei durchzuführende ‑ Entfernung der oberflächlichen Steine auf Grundstück Nr. 835/1, KG W., im unmittelbaren Bereich des neu errichteten Zufahrtswegs zur „G.“ kompensiert werden könne, mit substantiiertem Vorbringen entgegengetreten. So behauptete er, dass sich dieser von der belangten Behörde ins Auge gefasste Bereich nicht als Ersatzfläche zur Kompensierung des Futterentgangs eigne, weil er in einem Lawinenkegel liege und sich somit auch über das Jahr 2021 hinaus dort wiederkehrend Steine ablagern könnten. Aus diesem Grund bewirke die einmalig bis Ende Juni 2021 der mitbeteiligten Partei aufgetragene Entfernung der Steine keine dauerhafte Sicherung seiner Weiderechte.

30 Im Hinblick auf dieses Vorbringen, mit dem sich das Verwaltungsgericht nicht ansatzweise auseinandergesetzt hat, war der entscheidungsmaßgebliche Sachverhalt nicht als geklärt anzusehen und hätte daher schon deshalb nicht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden dürfen. Bei Missachtung der Verhandlungspflicht im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des Art. 47 GRC ist zudem keine Relevanzprüfung hinsichtlich des Verfahrensmangels vorzunehmen (vgl. VwGH 8.4.2019, Ra 2018/03/0081, 0082, mwN).

31 Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht auch nicht dargelegt, aus welchen Gründen es von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen hat.

32 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

33 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 16. November 2021

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