VwGH Ra 2020/19/0305

VwGHRa 2020/19/030516.4.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser, den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision 1. der K M, vertreten durch M M als Erwachsenenvertreterin, 2. der K M, und 3. der K M, beide Minderjährigen vertreten durch M M als gesetzliche Vertreterin, alle in W, alle vertreten durch Rafael Gilkarov LL.M., Rechtsanwalt in 1010 Wien, Sterngasse 11/4A, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Juni 2020, 1. W189 2205529‑1/5E, 2. W189 2205532‑1/3E und 3. W189 2205534‑1/3E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §21 Abs7
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §24

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020190305.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die revisionswerbenden Parteien, eine Mutter mit ihren beiden minderjährigen Töchtern, sind Staatsangehörige der Russischen Föderation und stellten am 1. März 2017 Anträge auf internationalen Schutz.

2 Mit Beschluss des Bezirksgerichts Favoriten vom 25. September 2017 wurde die Schwester der erstrevisionswerbenden Mutter zu deren Sachwalterin (nunmehr: Erwachsenenvertreterin) bestellt. Ihr Aufgabenbereich umschließt die Vertretung vor Ämtern, Behörden und Gerichten, die Vertretung bei Geschäften, die über Geschäfte des täglichen Lebens hinaus gehen, sowie in finanziellen Angelegenheiten und Verwaltung des Vermögens, die Vertretung bei medizinischen Fragestellungen sowie Fragen, die den Aufenthaltsort betreffen.

3 Mit Bescheiden vom 6. August 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diese Anträge zur Gänze ab und erteilte den revisionswerbenden Parteien keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (jeweils Spruchpunkte I., II. und III.). Die Rückkehrentscheidungen erklärte es für dauerhaft unzulässig und erteilte den revisionswerbenden Parteien eine Aufenthaltsberechtigung (jeweils Spruchpunkte IV.).

4 In seiner Beweiswürdigung erachtete das BFA den körperlichen und geistigen Gesundheitszustand der erstrevisionswerbenden Partei für ausreichend, um dem Verfahren zu folgen; es verkenne auch nicht die schwierige und einschneidende Vergangenheit der erstrevisionswerbenden Partei. Es stehe fest, dass sie schwere Misshandlungen erlitten habe und an einem schweren depressiven Syndrom leide. Es sei aber nicht nachvollziehbar, warum die erstrevisionswerbende Partei diese Vorfälle nicht zur Anzeige gebracht habe. Auch habe sie keine konkreten Zeitangaben zu den Übergriffen machen können und seien jene zur mangelnden Unterstützung durch die Familie nicht nachvollziehbar. Insgesamt würden sich ihre Ausführungen als nicht asylrelevant erweisen.

5 Dagegen erhoben die revisionswerbenden Parteien Beschwerden an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), beantragten die Durchführung einer mündlichen Verhandlung und brachten ‑ zusammengefasst ‑ vor, dass die Länderfeststellungen unzureichend gewesen seien, weil das BFA näher zitierte Berichte zur Lage von Frauen, von Frauen als Missbrauchsopfer im Speziellen sowie zu häuslicher Gewalt nicht beachtet habe. Weiters rügte die Beschwerde zusammengefasst die Einvernahme der erstrevisionswerbenden Partei unter Außerachtlassung ihres psychischen Gesundheitszustandes und der Bestellung einer Erwachsenenvertreterin infolge des psychischen Krankheitsbildes.

6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG diese Beschwerden ‑ ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

7 Das BVwG traf Feststellungen zur Situation in der Russischen Föderation, basierend auf dem neu veröffentlichten Länderinformationsblatt vom 27. März 2020 und ergänzte die Feststellungen des BFA insbesondere durch Feststellungen zu den Behandlungsmöglichkeiten von psychischen Krankheiten in der Russischen Föderation und Tschetschenien. Es schloss sich den beweiswürdigenden Erwägungen des BFA an und ergänzte diese ebenfalls. So sei das Vorbringen zur mangelnden Unterstützung durch die Familie spekulativ und das Vorbringen zur Verfolgung durch den ersten Ehemann widersprüchlich. Hätte dieser die erstrevisionswerbende Partei tatsächlich bedroht, hätte die erstrevisionswerbende Partei dies konkret und gleichbleibend schildern müssen. Auch habe sie nicht wie angekündigt dessen Drohbriefe vorgelegt. Es sei aber kaum nachvollziehbar, dass der erste Ehemann aus der Haft derartige Briefe tatsächlich habe schicken können, zumal von einer Postzensur der Haftpost auszugehen sei. Selbst bei Wahrunterstellung sei aber von einer Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit des Herkunftsstaates auszugehen, zudem stehe den revisionswerbenden Parteien eine innerstaatliche Fluchtalternative offen. Auch ändere der Inhalt des vorgelegten Urteils gegen den ersten Ehemann nicht an den Zweifeln am Fluchtvorbringen. Das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung gründete das BVwG darauf, dass im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA‑VG der Sachverhalt geklärt sei.

8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens ‑ eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet ‑ in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

9 Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit unter anderem vor, das BVwG sei von der (näher genannten) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es zu Unrecht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen habe. Es habe, wie bereits das BFA, keine ausreichenden Ermittlungen zu den psychischen Beeinträchtigungen der erstrevisionswerbenden Partei getätigt. Zudem habe es das Parteiengehör zu den neu ins Verfahren eingeführten Länderberichten verweigert und sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative abgewichen, weil es die in der Rechtsprechung geforderte Prüfung im Einzelfall unterlassen habe.

10 Die Revision ist schon aufgrund ihres Vorbringens zur Verletzung der Verhandlungspflicht zulässig. Sie ist auch begründet:

11 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA‑VG geklärt erscheint und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:

12 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender, für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA‑VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017; sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 22.5.2020, Ra 2019/19/0427, mwN).

13 Im vorliegenden Fall erkannte das BVwG das Erfordernis weiterer Ermittlungen, aktualisierte die Feststellungen des BFA und ergänzte diese insbesondere durch Feststellungen zu den Behandlungsmöglichkeiten von psychischen Krankheiten in der Russischen Föderation und Tschetschenien (vgl. zu einer ähnlichen Sachverhaltskonstellation VwGH 12.12.2018, Ra 2018/19/0527). Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits klargestellt, dass die vom BVwG erkannte Notwendigkeit, zur Situation im Herkunftsstaat eines Asylwerbers aktuelle Länderberichte einzuholen und die Feststellungen des BFA zu ergänzen, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erforderlich macht (vgl. VwGH 12.12.2018, Ra 2018/19/0560, mwN). Dies hat das BVwG verkannt. Weiters ist darauf hinzuweisen, dass auch eine im Beschwerdeverfahren eingeräumte Möglichkeit, zum Inhalt aktueller Länderberichte zur Situation im Herkunftsstaat schriftlich Stellung zu nehmen, grundsätzlich die Durchführung einer Verhandlung nicht ersetzen kann (vgl. VwGH 20.9.2017, Ra 2017/19/0207, mwN).

14 Die revisionswerbenden Parteien haben auch, wie oben dargelegt, die Beweiswürdigung des BFA im Hinblick auf den Gesundheitszustand der erstrevisionswerbenden Partei nicht bloß unsubstantiiert bestritten und die mangelnde Aktualität und Vollständigkeit der Länderberichte gerügt.

15 Die Voraussetzungen für die Abstandnahme von einer Verhandlung lagen somit nicht vor. Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des ‑ wie hier gegeben ‑ Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. VwGH 19.6.2020, Ra 2019/19/0562, mwN).

16 Das angefochtene Erkenntnisse war daher schon deshalb wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.

17 Bei diesem Ergebnis konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG von der Durchführung der beantragten Verhandlung abgesehen werden.

18 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 16. April 2021

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