Normen
BFA-VG 2014 §21 Abs7
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §24
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019190427.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein philippinischer Staatsangehöriger, stellte am 3. Jänner 2018 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, sein Bruder sei auf den Philippinen in Drogengeschäfte verwickelt gewesen, weshalb die Regierung sowohl nach dem Bruder als auch nach ihm gesucht habe bzw. sei er mit seinem Bruder verwechselt und festgenommen worden. Die Regierung lasse mutmaßliche Drogenhändler töten.
2 Mit Bescheid vom 3. Oktober 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung auf die Philippinen zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Das BFA führte zum Fluchtvorbringen begründend aus, der Revisionswerber habe seinen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich ohne gute Gründe nicht zum frühest möglichen Zeitpunkt gestellt. Der Revisionswerber sei mit seiner Familie bereits im Jahr 2005 bzw. 2006 nach Kuwait zum Arbeiten ausgereist, was in keinem Zusammenhang mit seinem Antrag auf internationalen Schutz stehe. Es sei nicht glaubwürdig, dass der Revisionswerber bei einem Urlaub auf den Philippinen im Jahr 2016 wegen einer Verwechslung mit seinem Bruder von der Polizei verhaftet worden sei, aber fliehen und wieder legal nach Kuwait habe ausreisen können. Der Revisionswerber sei vielmehr aus wirtschaftlichen Gründen nach Österreich gekommen, da sein Visum und die Visa seiner Familie in Kuwait nicht verlängert worden seien.
4 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde, in der er die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragte. Darin brachte er u.a. vor, er habe die vermeintliche Verwechslung mit seinem Bruder nicht durch die Vorlage seines Reisepasses aufzuklären versucht, da die Polizei diesen konfiszieren hätte können. Er habe legal ausreisen können, weil die Polizei nach seinem Bruder und nicht nach ihm gesucht habe. Auf den Philippinen drohe ihm auf Grund der Anti‑Drogenpolitik des seit Juni 2016 amtierenden Präsidenten die Verhaftung oder Tötung durch staatliche Behörden.
5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde des Revisionswerbers ‑ ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
6 Begründend führte das BVwG ‑ soweit hier maßgeblich ‑ aus, das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers sei nicht glaubwürdig. Das Vorbringen in der polizeilichen Erstbefragung stehe in Widerspruch zu jenem in der Einvernahme vor dem BFA. Es sei „lebensfremd“, dass der Revisionswerber die angebliche Verwechslung mit seinem Bruder durch die Polizei nicht durch Vorlage seines Reisepasses aufzuklären versucht habe, ihm die Flucht aus dem Polizeigewahrsam gelungen sei und er am nächsten Tag unbehelligt ausreisen habe können. Auch habe die philippinische Regierung ihre Anti‑Drogenkampagne im Jahr 2016 erst nach der Ausreise des Revisionswerbers aus den Philippinen gestartet.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die dagegen erhobene (außerordentliche) Revision nach Einleitung des Vorverfahrens ‑ eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet ‑ in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, das BVwG habe zu Unrecht von einer mündlichen Verhandlung abgesehen und seine amtswegige Ermittlungspflicht verletzt.
9 Die Revision ist zulässig und begründet.
10 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA‑VG geklärt erscheint und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:
11 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA‑VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 bis 0018; sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 9.1.2020, Ra 2018/19/0501, mwN).
12 Diesen Grundsätzen hat das BVwG im vorliegenden Fall nicht entsprochen:
13 Der Revisionswerber hat in seiner Beschwerde, wie dargelegt, die Beweiswürdigung des BFA nicht bloß unsubstantiiert bestritten. Überdies hat sich das BVwG nicht bloß der Beweiswürdigung des BFA angeschlossen, sondern auch weitere Gründe ‑ wie etwa die behauptete Diskrepanz zwischen dem Vorbringen in der polizeilichen Erstbefragung und jenem in der Einvernahme vor dem BFA ‑ aufgezeigt, aus denen es das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers für unglaubwürdig halte. Eine solche (ergänzende) Beweiswürdigung hat jedoch regelmäßig erst nach einer mündlichen Verhandlung, in der auch ein persönlicher Eindruck von der betroffenen Person gewonnen werden kann, zu erfolgen (vgl. VwGH 29.8.2019, Ra 2018/19/0227, mwN).
14 Demnach lagen die Voraussetzungen für das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung nicht vor.
15 Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des ‑ wie hier gegeben ‑ Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. erneut VwGH Ra 2018/19/0501, mwN).
16 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.
17 Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 22. Mai 2020
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