VwGH Ra 2020/19/0308

VwGHRa 2020/19/03085.10.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, in der Revisionssache 1. des N M und 2. des M M, beide in W, beide vertreten durch Dr. Julia Ecker, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Opernring 7/18, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vom 24. April 2020, Zlen. 1. W156 2190039‑1/13E und 2. W156 2190037‑1/15E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1
FlKonv Art1 AbschnA Z2
62017CJ0056 Fathi VORAB

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020190308.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Die Revisionswerber, Staatsangehörige Afghanistans, sind Brüder und stellten am 30. März 2016 Anträge auf internationalen Schutz. Als Fluchtgrund brachten sie im Wesentlichen vor, ihr Vater sei Polizist gewesen und bei einem Angriff der Taliban auf seinen Posten verletzt worden. Ein Nachbar habe die Revisionswerber eines Tages am Rückweg von der Schule abgefangen und erzählt, dass die Taliban das Haus der Familie angegriffen und die Eltern und Brüder entführt hätten.

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies diese Anträge mit Bescheiden vom 15. und 19. Februar 2018 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen die Revisionswerber Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und setzte eine Frist von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen für die freiwillige Ausreise fest.

3 Mit Erkenntnissen vom 24. April 2020 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobenen Beschwerden der Revisionswerber ‑ nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG für nicht zulässig.

4 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, dass eine tatsächliche Verfolgung der Revisionswerber durch die Taliban nicht habe glaubhaft gemacht werden können. Auch hätten die Revisionswerber nicht glaubhaft machen können, dass ihnen in Afghanistan aufgrund ihrer atheistischen Einstellung eine Verfolgung drohen würde. Den Revisionswerbern stehe eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Mazar‑e Sharif oder Herat zur Verfügung. Im Rahmen der Erlassung der Rückkehrentscheidungen führte es zur Interessenabwägung ‑ unter Berücksichtigung aller Aspekte des Privat- und Familienlebens ‑ aus, dass die öffentlichen Interessen überwögen.

5 Mit Beschlüssen vom 26. Juni 2020, E 1867/2020‑5 und E 1870/2020‑5, lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerden ab und trat diese zur Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof ab.

6 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

7 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

8 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

9 Die vorliegende Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit zusammengefasst vor, die beweiswürdigenden Erwägungen des BVwG in Bezug auf die drohende Verfolgungsgefahr aufgrund des Einsatzes des Vaters der Revisionswerber gegen die Taliban seien nicht nachvollziehbar und hätten die Minderjährigkeit der Revisionswerber im Antragszeitpunkt außer Acht gelassen. Zudem habe es das BVwG verabsäumt, der als Zeugin einvernommenen Schwester der Revisionswerber entsprechende Fragen zu stellen. Weiters richtet sich die Revision gegen die Beweiswürdigung zum Vorbringen der Verfolgung aufgrund des Atheismus der Revisionswerber sowie gegen die Annahme einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative. Dabei habe das BVwG unter anderem die Richtlinien von EASO außer Acht gelassen und dem Antrag der Revisionswerber auf Einholung eines Gutachtens des länderkundigen Sachverständigen ohne Begründung nicht entsprochen. Schließlich habe das BVwG bei Erlassung der Rückkehrentscheidung das Familienleben der Revisionswerber mit ihrer in Österreich lebenden Schwester außer Acht gelassen.

10 Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat. Die Beweiswürdigung ist nur insofern einer Überprüfung durch den Verwaltungsgerichtshof zugänglich, als es sich um die Schlüssigkeit dieses Denkvorganges (nicht aber die konkrete Richtigkeit) handelt bzw. darum, ob die Beweisergebnisse, die in diesem Denkvorgang gewürdigt wurden, in einem ordnungsgemäßen Verfahren ermittelt worden sind. Der Verwaltungsgerichtshof ist nicht berechtigt, die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichtes mit der Begründung zu verwerfen, dass auch ein anderer Sachverhalt schlüssig begründbar wäre (vgl. VwGH 19.5.2020, Ra 2019/14/0599, mwN).

11 Eine unvertretbare Fehlbeurteilung im Rahmen der Beweiswürdigung wird in der Revision nicht aufgezeigt. Das BVwG nahm im Erkenntnis auf das Alter der Revisionswerber an mehreren Stellen Bezug und setzte sich mit dem Fluchtvorbringen des (im Zeitpunkt der Einvernahme vor dem BFA gerade noch minderjährigen) Erstrevisionswerbers und des (im Zeitpunkt der Einvernahme vor dem BFA bereits volljährigen) Zweitrevisionswerbers auseinander. Zum Zeitpunkt der beiden mündlichen Verhandlungen vor dem BVwG, in denen sich die erkennende Richterin einen persönlichen Eindruck von den Revisionswerbern und der Glaubwürdigkeit ihrer Angaben verschaffen konnte, waren beide Revisionswerber jedenfalls bereits volljährig (vgl. VwGH 21.2.2020, Ra 2020/18/0003). Das BVwG stufte das Vorbringen anhand näher dargelegter, nicht als unschlüssig anzusehender Überlegungen als unglaubwürdig ein und begründete dies damit, dass das Vorbringen der Revisionswerber im Zusammenhang mit der behaupteten Verfolgung aufgrund der Tätigkeit ihres Vaters als Polizist wegen widersprüchlicher Angaben unglaubwürdig sei und auch die im Verfahren als Zeugin einvernommene Schwester diesbezüglich keine Angaben habe machen können.

12 Die Revision bemängelt, das BVwG habe dem Antrag der Revisionswerber auf Beiziehung eines länderkundigen Sachverständigen ohne Begründung nicht entsprochen.

13 Das BVwG hat sich entgegen dem Vorbringen in der Revision nicht begründungslos über den Antrag hinweggesetzt. Insbesondere wird mit der bloßen Behauptung, der aufgezeigte Verfahrensfehler sei relevant, weil das BVwG bei seiner Vermeidung zu einer inhaltlich anders lautenden Entscheidung gelangen hätte müssen, nicht substantiiert dargetan, welche über die vom Verwaltungsgericht getroffenen Feststellungen hinausgehenden oder davon abweichenden Sachverhaltselemente von einem Sachverständigen konkret zu erwarten und warum diese geeignet gewesen wären, zu einem für die Revisionswerber günstigeren Ergebnis zu kommen.

14 Soweit die Revision eine islamkritische Haltung der Revisionswerber und eine Verfolgungsgefahr wegen einer Abwendung vom Islam anspricht, ist darauf hinzuweisen, dass für die Annahme einer Verfolgung wegen Apostasie Voraussetzung ist, dass die Revisionswerber ihre Konfessionslosigkeit als innere Überzeugung und identitätsstiftendes Merkmal verstehen, die sie auch in ihrem Heimatstaat leben werden (vgl. erneut VwGH 19.5.2020, Ra 2019/14/0599, mwN). Das BVwG setzte sich ausführlich mit dem diesbezüglichen Vorbringen auseinander und begründete umfassend, wie es zum Ergebnis gelangte, dass die Revisionswerber, welche einen Tag vor der ersten mündlichen Verhandlung aus der islamischen Gemeinschaft ausgetreten seien, nicht hätten glaubhaft machen können, dass sie ihre sunnitische Religionszugehörigkeit aus ideellen Gründen abgelegt und eine atheistische Überzeugung oder Konfessionslosigkeit verinnerlicht hätten. Deshalb habe auch nicht festgestellt werden können, dass die Revisionswerber eine solche Einstellung im Fall der Rückkehr nach Afghanistan nach außen zur Schau tragen würden. Dabei stützte sich das BVwG insbesondere auf den in den mündlichen Verhandlungen gewonnenen Eindruck von den Revisionswerbern, wonach eine tatsächliche ablehnende oder feindliche Haltung der Revisionswerber gegenüber dem Islam nicht hervorgekommen sei, sondern vielmehr eine tolerante Einstellung gegenüber der religiösen Einstellung anderer. Zudem hätten die Revisionswerber nicht vorgebracht, jemals feindlich oder ablehnend gegenüber dem Islam aufgetreten zu sein bzw. abgesehen vom Nichtpraktizieren der Glaubensregeln gegen den Islam gerichtete Aktivitäten zu setzen. Dass bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine Abwendung vom Islam oder eine Abwendung von jeglichem Glauben bei den Revisionswerbern nach außen in Erscheinung treten würde, habe sich somit nicht ergeben. Durch die ledigliche Nichtausübung ihres Glaubens würde ihnen in den Städten Mazar‑e Sharif und Herat keine Verfolgung drohen, zumal sie sich nicht islamkritisch geäußert hätten und auch nicht davon auszugehen sei, dass sie dies in Zukunft vorhätten. Überdies habe der Zweitrevisionswerber in der mündlichen Verhandlung selbst angegeben, dass er sich im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan „schon einigermaßen“ an die Regeln der Religion halten würde, jedoch versuchen würde, nicht in die Moschee zu gehen, manchmal würde er das jedoch machen müssen. Es sei den Revisionswerbern daher nicht gelungen glaubhaft zu machen, dass ihnen im Falle der Rückkehr nach Afghanistan wegen Konfessionslosigkeit, einer Abwendung vom Islam oder einer areligiösen bzw. atheistischen Überzeugung Verfolgung drohen würde.

15 Der Revision gelingt es nicht aufzuzeigen, dass diese Beweiswürdigung und die Beurteilung des BVwG zur Verfolgungsgefahr fallbezogen unvertretbar wären.

16 Wenn die Revision in diesem Zusammenhang rügt, dass die Aussage der als Zeugin vernommenen Schwester sowie die im Akt erliegenden Empfehlungsschreiben nicht berücksichtigt worden seien, ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach die Relevanz des behaupteten Verfahrensfehlers in der Revision konkret darzulegen ist (vgl. VwGH 27.6.2019, Ra 2019/14/0085, mwN). Mit dem Vorbringen, bei vollinhaltlicher Auseinandersetzung mit dem Vorbringen der als Zeugin befragten Schwester und den Empfehlungsschreiben wäre festgestellt worden, dass die Revisionswerber ihre Konfessionslosigkeit als innere Überzeugung und identitätsstiftendes Merkmal verstehen würden, wird eine Relevanz des behaupteten Verfahrensmangels nach den Leitlinien der oben zitierten Rechtsprechung nicht dargetan. Hinzu kommt, dass das BVwG ohnehin davon ausgegangen ist, dass die Revisionswerber ihren sunnitischen Glauben nicht mehr streng leben würden, sich auch emotional davon distanziert hätten und ‑ in einem sehr eingeschränkten Personenkreis ‑ über den Islam und Religionen diskutieren würden. Ein, die Rechtssicherheit beeinträchtigender, Verfahrensfehler kann daher nicht erblickt werden.

17 Die Revision wendet sich in ihrer Zulässigkeitsbegründung weiters gegen die Annahme der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Mazar‑e Sharif und Herat und bringt dazu im Wesentlichen vor, das BVwG habe keine grundlegenden Ermittlungen zu den Auswirkungen der Covid‑19‑Pandemie in Afghanistan vorgenommen, keine Feststellungen zu den Auswirkungen der Covid‑19‑Pandemie auf die sozioökonomische Lage in Afghanistan getroffen und sich auch nicht mit dem für die Revisionswerber entstehenden Risiko einer Ansteckung auseinandergesetzt. Es hätte ermittelt werden müssen, ob die Revisionswerber in Afghanistan zu einer Risikogruppe zu zählen seien, welchen Gefahren sie im Fall einer Infektion ausgesetzt wären und ob es ihnen möglich wäre, ihre Krankheit auf adäquate Weise behandeln zu lassen. Hätte das BVwG Ermittlungen zur Beantwortung dieser Fragen getätigt, hätte sich ergeben, dass in Afghanistan mit einer Durchseuchung großer Teile der Bevölkerung zu rechnen sei, die Revisionswerber einer Risikogruppe zuzurechnen seien und nicht mit adäquater Versorgung gerechnet werden könne. Darüber hinaus seien den Revisionswerbern die Städte Herat und Mazar‑e Sharif völlig fremd. Sie hätten Afghanistan noch im Kindesalter verlassen und sich seitdem in kultureller sowie religiöser Hinsicht von ihrem Herkunftsstaat sehr deutlich entfremdet. Sie würden in beiden Städten über kein familiäres oder soziales Netz verfügen, auf das sie zurückgreifen könnten.

18 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Beurteilung einer möglichen Verletzung des Art. 3 EMRK eine Einzelfallprüfung vorzunehmen, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Eine solche Situation ist nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK reicht nicht aus. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. etwa VwGH 20.8.2020, Ra 2020/19/0239, mwN).

19 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung weiters dargelegt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative sprechen zu können. Demzufolge reicht es nicht aus, dem Asylwerber entgegen zu halten, dass er in diesem Gebiet keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erwarten hat. Es muss ihm vielmehr möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. etwa erneut VwGH 20.8.2020, Ra 2020/19/0239, mwN).

20 Werden Verfahrensmängel als Zulassungsgründe ins Treffen geführt, so muss die Relevanz dieser Verfahrensmängel, weshalb also bei Vermeidung des Verfahrensmangels in der Sache ein anderes, für die Revisionswerber günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können, dargetan werden. Die Relevanz der geltend gemachten Verfahrensfehler ist in konkreter Weise, also fallbezogen darzulegen (vgl. etwa VwGH 27.7.2020, Ra 2020/01/0130, mwN). Dies setzt (in Bezug auf Feststellungsmängel) voraus, dass ‑ auf das Wesentliche zusammengefasst ‑ jene Tatsachen dargestellt werden, die sich bei Vermeidung des behaupteten Verfahrensfehlers als erwiesen ergeben hätten (vgl. etwa VwGH 26.2.2020, Ra 2020/20/0049, mwN).

21 Die Ausführungen in der Zulässigkeitsbegründung werden diesen Anforderungen an eine konkrete Relevanzdarlegung nicht gerecht. Darüber hinaus handelt es sich bei den Revisionswerbern unstrittig um junge und gesunde Männer. Dass die Revisionswerber in Bezug auf Covid‑19 einer Risikogruppe angehören würden, ist ‑ entgegen dem unsubstantiierten Vorbringen in der Revision ‑ nicht ersichtlich.

22 Die Revisionswerber legten auch nicht dar, dass ‑ in Hinblick auf die Covid‑19‑Pandemie in Afghanistan ‑ solche exzeptionellen Umstände vorlägen, welche konkret die reale Gefahr einer Verletzung ihrer nach Art. 3 EMRK garantierten Rechte darstellen würden (vgl. erneut VwGH 27.7.2020, Ra 2020/01/0130, mwN).

23 Weiters ist in Bezug auf Afghanistan auf die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach es gesunden Asylwerbern im erwerbsfähigen Alter, die eine der Landessprachen Afghanistans beherrschen, mit den kulturellen Gepflogenheiten ihres Herkunftsstaates vertraut sind und die Möglichkeit haben, sich durch Gelegenheitstätigkeiten eine Existenzgrundlage zu sichern, die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in bestimmten Gebieten Afghanistans zugemutet werden kann, und zwar selbst dann, wenn sie nicht in Afghanistan geboren wurden, dort nie gelebt und keine Angehörigen in Afghanistan haben, sondern im Iran aufgewachsen und dort in die Schule gegangen sind (vgl. VwGH 19.5.2020, Ra 2019/14/0599, mwN).

24 Vor diesem Hintergrund begegnet die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Mazar‑e Sharif oder Herat im Licht der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes keinen Bedenken.

25 Schließlich wendet sich die Revision gegen die Rückkehrentscheidung und bringt dazu vor, das BVwG habe das bestehende Familienleben der Revisionswerber zu der in Österreich lebenden Schwester nicht beachtet. Die Revisionswerber und die einvernommene Schwester hätten mehrmals verdeutlicht, dass zwischen ihnen eine enge Bindung bestehe, wie es für Beziehungen zwischen Geschwistern in ihrem Alter außergewöhnlich sei. Zudem sei von einer herausragenden Integration auszugehen. Auch die Vereinsmitgliedschaften, intensive Freundschaften und der beachtliche Schulerfolg in Österreich seien nicht berücksichtigt worden.

26 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichthofs ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel (vgl. VwGH 29.8.2019, Ra 2019/19/0187, mwN).

27 Familiäre Beziehungen unter Erwachsenen fallen nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nur dann unter den Schutz des Art. 8 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. VwGH 8.9.2016, Ra 2015/20/0296 bis 0299, mwN).

28 Das BVwG hat die in der Revision angesprochene Bindung zu der in Österreich asylberechtigten Schwester der Revisionswerber berücksichtigt, jedoch ein schutzwürdiges Familienleben aufgrund fehlender finanzieller Abhängigkeit sowie eines fehlenden gemeinsamen Wohnsitzes verneint. Allein deshalb, weil die Revisionswerber nach dem Vorbringen der Revision regelmäßig am Wochenende zu der Schwester kommen würden, um ihr dabei zu helfen, die beeinträchtigte Tochter zu versorgen und von der Schwester unterstützt würden, kann auf ein schützenswertes Familienleben im obigen Sinne nicht geschlossen werden (vgl. etwa VwGH 15.7.2019, Ra 2019/18/0233).

29 Entgegen dem Revisionsvorbringen hat das BVwG im Rahmen der vorgenommenen Interessenabwägung auch die absolvierte weitere Schuldbildung und einen vorhandenen Freundeskreis berücksichtigt. Den Revisionswerbern gelingt es daher nicht aufzuzeigen, dass die im Rahmen der Rückkehrentscheidung vorgenommene Interessenabwägung ‑ selbst bei Berücksichtigung von Vereinsmitgliedschaften ‑ in einer unvertretbaren Weise erfolgt wäre.

30 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.

Wien, am 5. Oktober 2020

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