VwGH Ra 2020/19/0139

VwGHRa 2020/19/013917.11.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Hinterwirth sowie die Hofräte Mag. Stickler und Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. März 2020, W169 2141785‑1/30E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: W A A in W, vertreten durch die K M R Rechtsanwaltssocietät Dr. Longin Josef Kempf, Dr. Josef Maier in 4722 Peuerbach, Steegenstraße 3), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
BFA-VG 2014 §9 Abs3
FrPolG 2005 §52
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020190139.L00

 

Spruch:

Das Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin hinsichtlich seiner Spruchpunkte A.II. und A.III., wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 7. Mai 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom 31. Oktober 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkt I. und II.), erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung des Mitbeteiligten nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.) und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt IV.).

2 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. des angefochtenen Bescheides als unbegründet ab (Spruchpunkt A.I.). Im Übrigen gab es der Beschwerde Folge und sprach aus, dass eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig sei und dem Mitbeteiligten eine „Aufenthaltsberechtigung plus“ erteilt werde (Spruchpunkt A.II.). Den Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides hob es ersatzlos auf (Spruchpunkt A.III.). Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig (Spruchpunkt B.).

3 Begründend führte das BVwG aus, der Mitbeteiligte stamme aus der Stadt Herat, wo sich auch weiterhin seine Mutter, mehrere seiner Geschwister und andere Familienangehörige aufhielten. Das Fluchtvorbringen des Mitbeteiligten sei nicht glaubhaft. Bei einer Rückkehr nach Herat drohe dem gesunden und arbeitsfähigen Mitbeteiligten, der von seinen Verwandten Unterstützung erhalten könne, keine Verletzung seiner Rechte nach Art. 2 oder 3 EMRK. Der Mitbeteiligte habe sehr gute Deutschkenntnisse erworben und zuletzt eine Integrationsprüfung auf dem Niveau B1 erfolgreich absolviert. Er habe diverse ehrenamtliche Tätigkeiten ausgeübt und sei Mitglied in einem Sportverein. In Österreich habe er zwar keine Familienangehörigen, aber viele Freunde und Bekanntschaften. Der Mitbeteiligte, dem eine Beschäftigungsbewilligung bis zum 6. Jänner 2021 erteilt worden sei, sei seit Juni 2018 mehrfach in der Landwirtschaft und der Gastronomie beschäftigt gewesen. Seit 7. Jänner 2020 stehe er in einem Beschäftigungsverhältnis als gewerbliche Hilfskraft mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Wochenstunden. Seit Juli 2019 habe er keine Leistungen aus der Grundversorgung mehr in Anspruch genommen.

4 In rechtlicher Hinsicht führte das BVwG aus, der Mitbeteiligte führe zwar kein Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK in Österreich. Es sei aber ein Eingriff in sein Privatleben zu prüfen, wobei bei der vorzunehmenden Interessenabwägung hinsichtlich der Erlassung einer Rückkehrentscheidung zunächst die Dauer des Aufenthaltes des Mitbeteiligten im Inland von bald fünf Jahren von Bedeutung sei. Die lange Dauer des Verfahrens hinsichtlich seines Antrages auf internationalen Schutz könne ihm nicht angelastet werden, zumal er das Verfahren nicht verzögert habe. Neben seinen erworbenen Deutschkenntnissen bzw. der Absolvierung der Integrationsprüfung auf dem Niveau B1, seinen ehrenamtlichen Tätigkeiten, der Mitgliedschaft in einem Verein und dem Bestehen eines Freundes- und Bekanntenkreises sei vor allem zu berücksichtigen, dass der Mitbeteiligte einer Erwerbstätigkeit nachgehe, aus der er ein Arbeitsentgelt beziehe, das ausreichend sei, seinen Lebensunterhalt zu decken, und das die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 ASVG) übersteige. Insgesamt überwiege daher das private Interesse des Mitbeteiligten an einem Verbleib im Inland die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung.

5 Gegen die Spruchpunkte A.II. und A.III. des angefochtenen Erkenntnisses (Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung, Erteilung eines Aufenthaltstitels, ersatzlose Aufhebung der Festlegung der Frist für die freiwillige Ausreise) richtet sich die vorliegende Revision des BFA. Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der er beantragte, die Revision zurückzuweisen, in eventu abzuweisen.

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Das BFA bringt zur Zulässigkeit seiner Amtsrevision zusammengefasst vor, das BVwG habe bei seiner Interessenabwägung dem Kriterium des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG ‑ dem Umstand, dass das Privatleben des Mitbeteiligten in Österreich zu einem Zeitpunkt entstanden sei, als er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst gewesen sei ‑ keine Beachtung geschenkt. Dem öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen habe das BVwG nicht die nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zukommende Bedeutung beigemessen, indem es die Integration des Mitbeteiligten in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt habe. Damit sei das BVwG von (näher dargestellter) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen.

8 Die Revision ist zulässig und berechtigt.

9 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (vgl. etwa VwGH 10.4.2020, Ra 2019/19/0108, mwN). Die durch das BVwG durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das BVwG die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003).

10 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. VwGH 19.6.2020, Ra 2019/19/0475, mwN).

11 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass einer Aufenthaltsdauer von ‑ wie vorliegend ‑ weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt und in Fällen, in denen eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vorliegt, regelmäßig erwartet wird, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären (vgl. etwa VwGH 15.4.2020, Ra 2019/14/0420, mwN).

12 Es entspricht weiters der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA‑VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. etwa VwGH 10.4.2020, Ra 2019/19/0108, mwN; vgl. näher in Zusammenhang mit der Ausübung eines Berufes oder einer Lehre nochmals VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003). Die Revision weist zutreffend darauf hin, dass das BVwG diesen Umstand bei seiner Interessenabwägung gänzlich außer Acht gelassen hat.

13 Vor diesem Hintergrund zeigt die Amtrevision zutreffend auf, dass das BVwG die für das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung sprechenden Umstände nicht den Leitlinien der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechend gewichtet hat. Dem Mitbeteiligten ist zwar zuzugestehen, dass er ‑ wie das BVwG festgestellt hat ‑ seit seiner Einreise erfolgreiche Integrationsbemühungen unternommen hat. Eine derartige Verdichtung der persönlichen Interessen, dass im Sinn der dargestellten Rechtsprechung von einer „außergewöhnlichen Konstellation“ gesprochen werden könnte und dem Mitbeteiligten allein wegen seiner erfolgreichen Integrationsbemühungen ‑ ungeachtet des fünf Jahre nicht erreichenden Inlandsaufenthalts und des Umstands, dass bei ihm nur ein Eingriff in das Privatleben und nicht auch in ein Familienleben in Rede steht ‑ unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Verbleib in Österreich ermöglicht werden müsste, ist jedoch nicht zu erkennen (vgl. zu ähnlichen Konstellationen etwa VwGH 16.7.2020, Ra 2020/21/0133; 23.10.2019, Ra 2019/19/0289; 18.9.2019, Ra 2019/18/0189).

14 Da das angefochtene Erkenntnis somit von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist, war es im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 17. November 2020

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