VwGH Ra 2019/14/0420

VwGHRa 2019/14/042015.4.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, den Hofrat Mag. Eder sowie die Hofrätin Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Schweinzer, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 31. Juli 2019, W210 2188766-1/18E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: X Y in Z, vertreten durch Mag. Georg Bürstmayr, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Hahngasse 25/5), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs2 Z8
BFA-VG 2014 §9 Abs3
MRK Art8
VwGG §42 Abs2 Z1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019140420.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird in seinen Spruchpunkten A) IV. und A) V. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 28. Dezember 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl wies mit Bescheid vom 31. Jänner 2018 diesen Antrag sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkte I. und II.), erteilte keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.), erließ gegen den Mitbeteiligten eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.) und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt VI.).

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die dagegen erhobene Beschwerde hinsichtlich der Spruchpunkte I. bis III. ab.

4 Hinsichtlich der Spruchpunkte IV. und V. gab es der Beschwerde statt und stellte fest, dass die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gegen den Mitbeteiligten auf Dauer unzulässig sei. Unter einem erteilte das Bundesverwaltungsgericht dem Mitbeteiligten gemäß §§ 5455 und 58 Abs. 2 AsylG 2005 den Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten (Spruchpunkt A IV.) und hob den Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheides ersatzlos auf (Spruchpunkt A V.). Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Bundesverwaltungsgericht für nicht zulässig.

5 Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht zur Person des Mitbeteiligten (unter anderem) aus, dieser habe in Österreich zunächst von August 2017 bis Februar 2018 einen "Brückenkurs" und daran anschließend einen Pflichtschulabschlusslehrgang besucht. Im Sommer 2018 habe er die Summer School der "Young Caritas" zum Thema Integration absolviert. Er habe wiederholt an Jugendcolleges teilgenommen, die Prüfung zum "Energie-Führerschein" abgelegt und einen Kompetenzworkshop für erwachsene Asylwerber absolviert. Im Dezember 2018 habe der Mitbeteiligte die Prüfung für den Pflichtschulabschluss bestanden. Seit Februar 2019 sei er Schüler einer Abendschule der Handelsakademie für Berufstätige des International Business College/BHAK/BHAS. Ebenfalls seit Februar 2019 arbeite der Mitbeteiligte zweimal wöchentlich vormittags als ehrenamtlicher Mitarbeiter im Bildungszentrum des Vereins "Ute Bock", wo er bei Rezeptionstätigkeiten behilflich sei und Übersetzungsarbeiten für den Verein tätige. Jedenfalls im Zeitraum 2016 bis 2018 sei der Mitbeteiligte aktives Ensemblemitglied im Wiener Vorstadttheater gewesen, wo er in mehreren gesellschaftskritischen Stücken mitgespielt habe. Aufgrund seines derzeitigen Besuchs einer Abendschule habe er sein Theaterengagement einschränken müssen, er probe aber aktuell im Verein "Young Caritas" für ein neues Theaterstück. Der Mitbeteilige engagiere sich seit dem Jahr 2017 als freiwilliger Mitarbeiter bei der Caritas und sei Teilnehmer am Integrationsprojekt "nice to meet you" der Jugendplattform der Caritas. Im März 2019 habe er im Rahmen eines Seminars des österreichischen Gewerkschaftsbundes ein Referat über die Europäische Union gehalten. Er werde seit April 2017 von einer Familie in Österreich in ehrenamtlicher Patenschaft betreut und unterstützt, stehe mit seiner "Patenfamilie" täglich in Kontakt und werde als Teil der Familie angesehen. Der Mitbeteiligte verbringe einen Großteil seiner Freizeit mit und bei seiner "Patenfamilie", unternehme mit dieser Ausflüge und gemeinsame Urlaube. Die vorgelegten Empfehlungs- und Bestätigungsschreiben sowie die einvernommen Zeugen würden allesamt ein äußerst positives Charakterbild vom Mitbeteiligten zeichnen. Dieser wohne seit April 2018 alleine in einer privaten Mietwohnung in der Nähe seiner "Patenfamilie", die diese gemietet und an den Mitbeteiligten untervermietet habe. Der Mitbeteiligte besuche diverse Deutschkurse und spreche bereits gut Deutsch. Am 2. Februar 2017 habe er ein ÖSD-Sprachzertifikat für das Deutschniveau A2, am 27. September 2017 für das Niveau B1 und im Juni 2018 für das Niveau B2 erworben. Seine Kernfamilie halte sich außerhalb Afghanistans auf. In Afghanistan würden noch in Ghazni der Onkel und drei Tanten mütterlicherseits des Mitbeteiligten leben sowie dessen Grußmutter mütterlicherseits und zwei Tanten väterlicherseits. Eine weitere Tante mütterlicherseits lebe in Mazar-e Sharif. In Österreich habe der Mitbeteiligte keine Verwandten oder Familienangehörige. Er sei strafrechtlich unbescholten.

6 Rechtlich führte das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung zusammengefasst aus, der Mitbeteiligte habe sich seit seiner Einreise sehr erfolgreich bemüht, sich umfassend in die österreichische Gesellschaft zu integrieren. Dem Umstand, dass der Aufenthaltsstatus des Mitbeteiligten stets ein unsicherer gewesen sei komme zwar Bedeutung zu, er habe aber nicht zur Konsequenz, dass der während des unsicheren Aufenthaltes erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen sei. Vielmehr sei dem Mitbeteiligten zu Gute zu halten, dass er sich trotz seines unsicheren Aufenthaltsstatus von Beginn an um eine soziale und wirtschaftliche Integration bemüht habe. Vor dem Hintergrund seines mehr als dreijährigen Aufenthaltes im Bundesgebiet (konkret: drei Jahre und sieben Monate im Entscheidungszeitpunkt) könne somit nicht gesagt werden, dass eine in diesem Zeitraum in diesem Ausmaß erlangte Integration, wie sie hier vorliege, keine außergewöhnliche, die Erteilung eines Aufenthaltstitels rechtfertigende Konstellation begründen könne. Der Mitbeteiligte habe einen entsprechend hohen Grad der Integration in sprachlicher und sozialer Hinsicht erreicht, der sich nicht zuletzt im nachhaltigen Erwerb von Deutschkenntnissen, im gelungenen Miteinander mit seinem sozialen Umfeld, in den erfolgreich unternommenen und nach wie vor andauernden Bildungsschritten und der dargelegten Verbundenheit des Beschwerdeführers mit österreichischen bzw. europäischen Werten manifestiere. Zwar sei der Mitbeteiligte in Afghanistan geboren, habe dort den Großteil seines Lebens verbracht und verfüge in Afghanistan nach wie vor über Familienangehörige "in Form" seiner Onkel, Tanten und einer Großmutter, dennoch begründe die mit der fortgeschrittenen Aufenthaltsdauer des Mitbeteiligten im Bundesgebiet korrelierende abnehmende Bindung zum Herkunftsstaat vor dem Hintergrund der umfassenden und nachhaltigen Integration in Österreich ein überwiegendes Interesse des Mitbeteiligten am Verbleib in Österreich. In einer Gesamtschau und Abwägung aller Umstände sei das persönliche und private Interesse des Mitbeteiligten an der - nicht bloß vorübergehenden - Fortführung seines Privatlebens in Österreich höher zu bewerten, als das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung zugunsten eines geordneten Fremdenwesen. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung erweise sich daher als unverhältnismäßig im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK.

7 Die vorliegende außerordentliche Amtsrevision richtet sich gegen die Spruchpunkte A) IV. (Feststellung der Unzulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung sowie Erteilung eines Aufenthaltstitels "Aufenthaltsberechtigung plus") und A) V. (Behebung des Spruchpunktes VI. des in Beschwerde gezogenen Bescheides vom 31. Jänner 2018).

8 Zur Zulässigkeit bringt die Amtsrevision zusammengefasst und unter Verweis auf näher bezeichnete Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vor, das Bundesverwaltungsgericht sei von dieser Judikatur abgewichen, weil es die Frage, ob das Privatleben in einem Zeitpunkt entstanden sei, in dem sich der Fremde des unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst gewesen sei, nicht entsprechend berücksichtigt habe. Die Integration des Mitbeteiligten sei in unverhältnismäßiger Weise in den Vordergrund gestellt worden. Sämtliche der vom Bundesverwaltungsgericht herangezogenen Aspekte seien während eines unsicheren Aufenthalts entstanden und daher in ihrem Gewicht gemindert. Es liege keine derartige Verdichtung der persönlichen Interessen vor, dass von außergewöhnlichen Umständen gesprochen werden könne, aufgrund derer ihm ein Verbleib nach Art. 8 EMRK ermöglicht werden müsste.

 

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die außerordentliche Amtsrevision nach Aktenvorlage und Einleitung des Vorverfahrens - der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10 Die Revision ist zulässig und auch begründet.

11 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes

ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. etwa VwGH 19.6.2019, Ra 2019/01/0051, mwN).

12 Die durch das Bundesverwaltungsgericht durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist nur dann vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifen, wenn das Bundesverwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien bzw. Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse bzw. unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003).

13 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa VwGH 19.2.2020, Ra 2020/14/0052, mwN).

14 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung zukommt und in Fällen, in denen eine relativ kurze Aufenthaltsdauer des Betroffenen in Österreich vorliegt, regelmäßig erwartet wird, dass die in dieser Zeit erlangte Integration außergewöhnlich ist, um die Rückkehrentscheidung auf Dauer für unzulässig zu erklären (vgl. etwa VwGH 23.1.2020, Ra 2019/18/0322, mwN).

15 Weiters hat der Verwaltungsgerichtshof mehrfach darauf hingewiesen, dass es im Sinne des § 9 Abs. 2 Z 8 BFA-VG maßgeblich relativierend ist, wenn integrationsbegründende Schritte in einem Zeitpunkt gesetzt wurden, in dem sich der Fremde seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste (vgl. wiederum VwGH 28.2.2019, Ro 2019/01/0003; 8.1.2020, Ra 2019/18/0329, mwN). 16 Die Amtsrevision zeigt zutreffend auf, dass das Bundesverwaltungsgericht dem Umstand, dass der Mitbeteiligte seine integrationsbegründenden Schritte in einem Zeitraum gesetzt hat, in dem er sich seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein musste, zu wenig Beachtung geschenkt hat. Der Mitbeteiligte hielt sich zum Entscheidungszeitpunkt rund dreieinhalb Jahre im Bundesgebiet auf. Dem Mitbeteiligten ist zwar zuzugestehen, dass er - wie das Bundesverwaltungsgericht ins Treffen führte - seit seiner Einreise erfolgreich Integrationsbemühungen in beruflicher und sozialer Hinsicht setzte, darunter seine jahrelange ehrenamtliche Betätigung und die intensive soziale Bindung zu seiner "Patenfamilie", mit der er allerdings in keiner Haushaltsgemeinschaft lebt, sowie auch nachhaltig Deutschkenntnisse erworben hat. Ausgehend von den verwaltungsgerichtlichen Feststellungen besteht jedoch keine derartige Verdichtung seiner persönlichen Interessen, dass bereits von "außergewöhnlichen Umständen" im Sinn der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gesprochen werden könnte und dem Mitbeteiligten - ungeachtet seines relativ kurzen Inlandsaufenthalts und des Umstands, dass bei ihm nur ein Eingriff in das Privatleben und nicht auch in ein Familienleben zur Debatte steht - schon deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Aufenthalt in Österreich ermöglicht werden müsste.

17 Indem das Bundesverwaltungsgericht daher insgesamt fallbezogen die für das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung gegenüber den für die privaten Interessen des Mitbeteiligten sprechenden Umstände nicht den Leitlinien der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechend gewichtet und nicht ausreichend berücksichtigt hat, dass der Mitbeteiligte sämtliche Integrationsschritte im Bewusstsein seines unsicheren Aufenthaltsstatus setzte, hat das Bundesverwaltungsgericht seinen Anwendungsspielraum überschritten.

18 Das Erkenntnis war somit im angefochtenen Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben. 19 Bei diesem Ergebnis war dem Mitbeteiligten gemäß § 47 Abs. 3 VwGG Aufwandersatz für die Erstellung der Revisionsbeantwortung nicht zuzusprechen.

Wien, am 15. April 2020

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