VwGH Ro 2020/09/0011

VwGHRo 2020/09/001122.12.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel sowie die Hofräte Dr. Doblinger, Dr. Hofbauer, Mag. Feiel und Hofrätin Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Dr. Hotz, über die Revision der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien Esteplatz gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. Juli 2020, W209 2231968‑1/5E, betreffend Antrag auf Ausstellung einer Bestätigung gemäß § 3 Abs. 8 Ausländerbeschäftigungsgesetz (mitbeteiligte Partei: A B in C, vertreten durch die SRG Stock Rafaseder Gruszkiewicz Rechtsanwälte GmbH in 1040 Wien, Schwindgasse 7/6), zu Recht erkannt:

Normen

AuslBG §1 Abs2 litl
AuslBG §12
AuslBG §12b
AuslBG §12c
AuslBG §3 Abs8
AuslBG §32a Abs4
EURallg
FrPolG 2005 §31 Abs1 Z2
MRK Art6
NAG 2005 §3 Abs5
NAG 2005 §54
NAG 2005 §54 Abs1
NAG 2005 §55
NAG 2005 §9
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §24 Abs1
VwGVG 2014 §24 Abs4
VwGVG 2014 §27
VwGVG 2014 §28
VwRallg
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47
32004L0038 Unionsbürger-RL
32004L0038 Unionsbürger-RL Art10 Abs2
32004L0038 Unionsbürger-RL Art12
32004L0038 Unionsbürger-RL Art13
32004L0038 Unionsbürger-RL Art14 Abs2
32004L0038 Unionsbürger-RL Art2 Abs2 litc
32004L0038 Unionsbürger-RL Art23

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RO2020090011.J00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Die am 25. Februar 1997 geborene Mitbeteiligte ist serbische Staatsangehörige. Ihre Eltern leben in Wien; ihre Mutter ist ungarische Staatsangehörige und im Besitz einer Anmeldebescheinigung gemäß § 53 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG). Der Mitbeteiligten ist eine vom 16. April 2016 bis 16. April 2021 gültige Aufenthaltskarte für Angehörige eines EWR‑Bürgers gemäß § 54 NAG ausgestellt.

2 Mit Antrag vom 24. März 2020 begehrte die Mitbeteiligte die Ausstellung einer Bestätigung gemäß § 3 Abs. 8 Ausländerbeschäftigungsgesetz (AuslBG).

3 Diesen Antrag, mit dem festgestellt werden sollte, dass die Mitbeteiligte als Familienangehörige einer EU‑Bürgerin, welche aufgrund eines Rechtsakts der Europäischen Union Freizügigkeit genießt, nicht dem Geltungsbereich des Ausländerbeschäftigungsgesetzes unterliege, wies die vor dem Verwaltungsgericht belangte Behörde mit Bescheid vom 5. Mai 2020 gemäß § 3 Abs. 8 in Verbindung mit § 1 Abs. 2 lit. l AuslBG ab.

4 Begründet wurde dies im Wesentlichen damit, dass die Mitbeteiligte, die das 21. Lebensjahr bereits vollendet habe, die tatsächliche Gewährung von Unterhalt durch ihre Eltern nicht nachgewiesen habe.

5 Gegen diesen Bescheid erhob die Mitbeteiligte mit dem Vorbringen, dass ihr tatsächlich Unterhalt geleistet werde, Beschwerde.

6 Mit dem ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergangenen angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht der Beschwerde Folge und bestätigte gemäß § 3 Abs. 8 AuslBG, dass die Mitbeteiligte gemäß § 1 Abs. 2 lit. l AuslBG vom Geltungsbereich des Ausländerbeschäftigungsgesetzes ausgenommen sei. Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG erklärte das Verwaltungsgericht für zulässig.

7 Über den eingangs ausgeführten Sachverhalt hinaus stellte das Bundesverwaltungsgericht lediglich fest, dass nach Mitteilung der zuständigen Aufenthaltsbehörde dieser bisher kein Sachverhalt bekannt geworden oder mitgeteilt worden sei, der zu einer Befassung des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl gemäß § 55 Abs. 3 NAG geführt hätte.

8 Rechtlich beurteilte das Verwaltungsgericht diesen Sachverhalt dahingehend, dass die Mitbeteiligte ihre bis 16. April 2021 gültige Aufenthaltskarte für Angehörige eines EWR‑Bürgers gemäß § 54 NAG im Alter von 19 Jahren erhalten habe. Zu diesem Zeitpunkt sei sie gemäß § 52 Abs. 1 Z 2 NAG unabhängig von einer tatsächlichen Unterhaltsgewährung durch ihre Eltern als Familienangehörige einer Unionsbürgerin für mehr als drei Monate zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt gewesen. Sie habe daher gemäß Art. 23 Freizügigkeitsrichtlinie Arbeitnehmerfreizügigkeit genossen, auf Grund derer sie gemäß § 1 Abs. 2 lit. l AuslBG vom Geltungsbereich des Ausländerbeschäftigungsgesetzes ausgenommen gewesen sei. Nunmehr habe sie das 21. Lebensjahr vollendet, weshalb ihr das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht für mehr als drei Monate (und die damit verbundene Arbeitnehmerfreizügigkeit) nur mehr zukäme, wenn ihr von ihren Eltern tatsächlich Unterhalt gewährt werde, was im vorliegenden Fall strittig sei.

9 Eine Aufenthaltskarte nach § 54 NAG zähle zu den Dokumentationen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts. In diesen Fällen ergebe sich das Aufenthalts- und Niederlassungsrecht nicht aus einer nationalen gesetzlichen Berechtigung, sondern kraft unmittelbar anwendbaren Unionsrechts. Die Bescheinigung habe bloß deklaratorische Wirkung, ein das Aufenthaltsrecht konstitutiv begründender „Aufenthaltstitel“ liege mit der Aufenthaltskarte nicht vor (Hinweis auf VwGH 26.4.2016, Ra 2015/09/0137).

10 Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 18. Juni 2013, 2012/18/0005, festgehalten habe, bleibe ein Fremder, für den eine Dokumentation eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts ausgestellt worden sei, aber selbst bei Wegfall der Voraussetzungen für das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht bis zum Abschluss des nach § 55 NAG vorgesehenen Verfahrens gemäß § 31 Abs. 1 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) rechtmäßig aufhältig. Damit solle es einem Drittstaatsangehörigen möglich sein, trotz des Wegfalls der Voraussetzungen für ein aus dem Unionsrecht abgeleitetes Aufenthaltsrecht, während seines Aufenthalts im Inland auf einen für seinen künftigen Aufenthaltszweck passenden Aufenthaltstitel „umzusteigen“, ohne dass dies zur Folge hätte, dass während dieses Verfahrens sein Aufenthalt unrechtmäßig wäre. Dass der Aufenthalt allein schon wegen des Vorhandenseins einer (noch gültigen) Dokumentation als rechtmäßig anzusehen sei, brächten die Erläuterungen laut Verwaltungsgerichtshof insofern deutlich zum Ausdruck, als sie davon ausgingen, dass ohne die der Niederlassungsbehörde eingeräumte Überprüfungsmöglichkeit die Gefahr bestünde, Fremde könnten „weiterhin ihr gemeinschaftsrechtliches Aufenthaltsrecht behalten, auch wenn die Voraussetzungen hierfür nicht mehr vorliegen“.

11 Dass im Gegensatz dazu die mit dem unionsrechtlichen Aufenthaltsrecht verbundene Arbeitnehmerfreizügigkeit der Angehörigen bereits mit dem Wegfall der Voraussetzungen für das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht verloren ginge, sei nicht ersichtlich. Wie nämlich den oben zitierten Erläuterungen weiters zu entnehmen sei, liege für den Fall, dass keine Ausweisung des Angehörigen erfolge, „keine Beschränkung im Sinne der Art. 27 ff Freizügigkeitsrichtlinie“ vor. Dementsprechend sei davon auszugehen, dass der Gesetzgeber auch die Arbeitnehmerfreizügigkeit während des Verfahrens zur Überprüfung des Fortbestands des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts ‑ im Einklang mit dem Unionsrecht ‑ nicht habe beschränken wollen und daher auch diese bis zur rechtskräftigen Ausweisung des Angehörigen fortbestehe. Damit genieße die Mitbeteiligte ‑ unabhängig von der tatsächlichen Unterhaltsgewährung durch ihre Eltern ‑ bis zum Abschluss eines (von der Niederlassungs- und Aufenthaltsbehörde zu initiierenden) Verfahrens nach § 55 NAG Arbeitnehmerfreizügigkeit.

12 Den Entfall der Durchführung einer mündlichen Verhandlung trotz dahingehenden Antrags begründete das Verwaltungsgericht damit, dass der festgestellte Sachverhalt aus der Aktenlage hinreichend geklärt scheine und keine Fragen der Beweiswürdigung aufgetreten seien, die die Durchführung einer mündlichen Verhandlung notwendig gemacht hätten.

13 Die Zulässigkeit der Revision sah das Bundesverwaltungsgericht darin gelegen, dass der Verwaltungsgerichtshof bereits klargestellt habe, dass ein Fremder, für den eine Dokumentation eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts ausgestellt worden sei, selbst bei Wegfall der Voraussetzungen für das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht bis zum Abschluss des nach § 55 NAG vorgesehenen Verfahrens weiterhin rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig bleibe. Es fehle aber an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, ob im Falle des Wegfalls der Voraussetzungen für das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht auch die mit dem unionsrechtlichen Aufenthaltsrecht verbundene Arbeitnehmerfreizügigkeit bis zum Abschluss des nach § 55 NAG vorgesehenen Verfahrens fortbestehe.

14 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die Rechtswidrigkeit des Inhalts geltend machende Revision der vor dem Verwaltungsgericht belangten Behörde. Die Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

15 Die Revision, die sich darauf stützt, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Aufenthaltskarte für Familienangehörige von Unionsbürgern keine Bindungswirkung im Verfahren über die Ausstellung einer Bestätigung nach § 3 Abs. 8 AuslBG entfaltet und die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice das Vorliegen der Voraussetzungen selbst zu prüfen hat, ist ‑ weil das Bundesverwaltungsgericht von dieser Rechtsprechung abgewichen ist ‑ zulässig und begründet.

16 Die maßgeblichen Bestimmungen des Ausländerbeschäftigungsgesetzes (AuslBG), BGBl. Nr. 218/1975, in der Fassung BGBl. I Nr. 104/2019, lauten (auszugweise):

„§ 1. (1) Dieses Bundesgesetz regelt die Beschäftigung von Ausländern (§ 2) im Bundesgebiet.

(2) Die Bestimmungen dieses Bundesgesetzes sind nicht anzuwenden auf:

...

l) Ausländer, die aufgrund eines Rechtsaktes der Europäischen Union Arbeitnehmerfreizügigkeit genießen;

...

§ 2. (1) Als Ausländer im Sinne dieses Bundesgesetzes gilt, wer nicht die österreichische Staatsbürgerschaft besitzt.

...

§ 3. ...

(8) Die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice hat Ausländern, die gemäß § 1 Abs. 2 oder aufgrund einer Verordnung gemäß § 1 Abs. 4 vom Geltungsbereich dieses Bundesgesetzes ausgenommen sind, auf deren Antrag eine Bestätigung darüber auszustellen.

...“

17 Die Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 („Freizügigkeitsrichtlinie“, auch: „Unionsbürgerrichtlinie“ ‑ in der Folge kurz: Freizügigkeitsrichtlinie) lautet (auszugsweise):

„Artikel 2

Begriffsbestimmungen

Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

1.

2. ‚Familienangehöriger‘

a) den Ehegatten;

b) den Lebenspartner, mit dem der Unionsbürger auf der Grundlage der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats eine eingetragene Partnerschaft eingegangen ist, sofern nach den Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats die eingetragene Partnerschaft der Ehe gleichgestellt ist und die in den einschlägigen Rechtsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaats vorgesehenen Bedingungen erfüllt sind;

c) die Verwandten in gerader absteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchstabe b, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder denen von diesen Unterhalt gewährt wird;

d) die Verwandten in gerader aufsteigender Linie des Unionsbürgers und des Ehegatten oder des Lebenspartners im Sinne von Buchstabe b, denen von diesen Unterhalt gewährt wird;

...

Artikel 7

Recht auf Aufenthalt für mehr als drei Monate

(1) Jeder Unionsbürger hat das Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er

a) Arbeitnehmer oder Selbstständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist oder

b) für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, und er und seine Familienangehörigen über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügen oder

c) - bei einer privaten oder öffentlichen Einrichtung, die von dem Aufnahmemitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften oder seiner Verwaltungspraxis anerkannt oder finanziert wird, zur Absolvierung einer Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung als Hauptzweck eingeschrieben ist und

- über einen umfassenden Krankenversicherungsschutz im Aufnahmemitgliedstaat verfügt und der zuständigen nationalen Behörde durch eine Erklärung oder durch jedes andere gleichwertige Mittel seiner Wahl glaubhaft macht, dass er für sich und seine Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel verfügt, so dass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats in Anspruch nehmen müssen, oder

d) ein Familienangehöriger ist, der den Unionsbürger, der die Voraussetzungen des Buchstabens a), b) oder c) erfüllt, begleitet oder ihm nachzieht.

(2) Das Aufenthaltsrecht nach Absatz 1 gilt auch für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die den Unionsbürger in den Aufnahmemitgliedstaat begleiten oder ihm nachziehen, sofern der Unionsbürger die Voraussetzungen des Absatzes 1 Buchstabe a), b) oder c) erfüllt.

...

Artikel 10

Ausstellung der Aufenthaltskarte

(1) Zum Nachweis des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, wird spätestens sechs Monate nach Einreichung des betreffenden Antrags eine ‚Aufenthaltskarte für Familienangehörige eines Unionsbürgers‘ ausgestellt.

...

Artikel 11

Gültigkeit der Aufenthaltskarte

(1) Die Aufenthaltskarte gemäß Artikel 10 Absatz 1 gilt für fünf Jahre ab dem Zeitpunkt der Ausstellung oder für die geplante Aufenthaltsdauer des Unionsbürgers, wenn diese weniger als fünf Jahre beträgt.

...

Artikel 12

Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen bei Tod oder Wegzug des Unionsbürgers

(1) ...

(2) Unbeschadet von Unterabsatz 2 führt der Tod des Unionsbürgers für Familienangehörige, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen und die sich im Aufnahmemitgliedstaat als Familienangehörige vor dem Tod des Unionsbürgers mindestens ein Jahr lang aufgehalten haben, nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts.

...

(3) Der Wegzug des Unionsbürgers aus dem Aufnahmemitgliedstaat oder sein Tod führt weder für seine Kinder noch für den Elternteil, der die elterliche Sorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit, bis zum Abschluss der Ausbildung zum Verlust des Aufenthaltsrechts, wenn sich die Kinder im Aufnahmemitgliedstaat aufhalten und in einer Bildungseinrichtung zu Ausbildungszwecken eingeschrieben sind.

Artikel 13

Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts der Familienangehörigen bei Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder bei Beendigung der eingetragenen Partnerschaft

(1) ...

(2) Unbeschadet von Unterabsatz 2 führt die Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder die Beendigung der eingetragenen Partnerschaft im Sinne von Artikel 2 Nummer 2 Buchstabe b) für Familienangehörige eines Unionsbürgers, die nicht die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzen, nicht zum Verlust des Aufenthaltsrechts, wenn

...

Artikel 14

Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts

(1) ...

(2) Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen steht das Aufenthaltsrecht nach den Artikeln 7, 12 und 13 zu, solange sie die dort genannten Voraussetzungen erfüllen.

...

Artikel 23

Verbundene Rechte

Die Familienangehörigen eines Unionsbürgers, die das Recht auf Aufenthalt oder das Recht auf Daueraufenthalt in einem Mitgliedstaat genießen, sind ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit berechtigt, dort eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbstständiger aufzunehmen.

...“

18 Die ‑ der Umsetzung der Freizügigkeitsrichtlinie dienenden ‑ maßgebenden Bestimmungen des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005, lauten (auszugsweise):

„§ 9. (1) Zur Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts für mehr als drei Monate werden auf Antrag ausgestellt:

1. ...

2. eine ‚Aufenthaltskarte für Angehörige eines EWR‑Bürgers‘ (§ 54) für Drittstaatsangehörige, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR‑Bürgern sind.

...

4. Hauptstück

Unionsrechtliches Aufenthaltsrecht

Unionsrechtliches Aufenthaltsrecht von EWR‑Bürgern für mehr als drei Monate

§ 51. (1) Auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie sind EWR‑Bürger zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie

1. in Österreich Arbeitnehmer oder Selbständige sind;

2. für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts weder Sozialhilfeleistungen noch die Ausgleichszulage in Anspruch nehmen müssen, oder

3. als Hauptzweck ihres Aufenthalts eine Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung bei einer öffentlichen Schule oder einer rechtlich anerkannten Privatschule oder Bildungseinrichtung absolvieren und die Voraussetzungen der Z 2 erfüllen.

(2) ...

...

Aufenthaltsrecht für Angehörige von EWR-Bürgern

§ 52. (1) Auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie sind EWR‑Bürger, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR‑Bürgern (§§ 51 und 53a) sind, zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie

1. ...

2. Verwandter des EWR‑Bürgers, seines Ehegatten oder eingetragenen Partners in gerader absteigender Linie bis zur Vollendung des 21. Lebensjahres und darüber hinaus sind, sofern ihnen von diesen Unterhalt tatsächlich gewährt wird;

3. ...

Aufenthaltskarten für Angehörige eines EWR-Bürgers

§ 54. (1) Drittstaatsangehörige, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR‑Bürgern (§ 51) sind und die in § 52 Abs. 1 Z 1 bis 3 genannten Voraussetzungen erfüllen, sind zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt. Ihnen ist auf Antrag eine Aufenthaltskarte für die Dauer von fünf Jahren oder für die geplante kürzere Aufenthaltsdauer auszustellen. ...

(2) ...

(3) Das Aufenthaltsrecht der Angehörigen gemäß Abs. 1 bleibt trotz Tod des EWR‑Bürgers erhalten, wenn sie sich vor dem Tod des EWR‑Bürgers mindestens ein Jahr als seine Angehörigen im Bundesgebiet aufgehalten haben und nachweisen, dass sie die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Z 1 bis 2 erfüllen.

(4) Das Aufenthaltsrecht von minderjährigen Kindern eines unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR‑Bürgers, die Drittstaatsangehörige sind, bleibt auch nach dem Tod oder nicht bloß vorübergehenden Wegzug des EWR‑Bürgers bis zum Abschluss der Schulausbildung an einer öffentlichen Schule oder einer rechtlich anerkannten Privatschule erhalten. Dies gilt auch für den Elternteil, der Drittstaatsangehöriger ist, sofern dieser die Obsorge für die minderjährigen Kinder tatsächlich wahrnimmt.

(5) Das Aufenthaltsrecht der Ehegatten oder eingetragenen Partner, die Drittstaatsangehörige sind, bleibt bei Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder Auflösung der eingetragenen Partnerschaft erhalten, wenn sie nachweisen, dass sie die für EWR‑Bürger geltenden Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Z 1 oder 2 erfüllen und

...“

19 Sowohl nach dem klaren Wortlaut von Art. 10 Abs. 1 Freizügigkeitsrichtlinie („Zum Nachweis des Aufenthaltsrechts ...“), dementsprechend auch nach § 9 Abs. 1 NAG („Zur Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts ...“), als auch der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zählt eine Aufenthaltskarte nach § 54 NAG zu den Dokumentationen des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts. In diesen Fällen ergibt sich das Aufenthalts- und Niederlassungsrecht nicht aus einer nationalen gesetzlichen Berechtigung, sondern kraft unmittelbar anwendbaren Unionsrechts. Diese Bescheinigung hat bloß deklaratorische Wirkung; ein das Aufenthaltsrecht konstitutiv begründender „Aufenthaltstitel“ liegt mit der Aufenthaltskarte nicht vor (VwGH 16.5.2019, Ro 2019/21/0004, unter Hinweis auf VwGH 26.4.2016, Ra 2015/09/0137, Rn. 10, mwN).

20 Wie das Bundesverwaltungsgericht insoweit zutreffend ausführt, hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner fremdenrechtlichen Judikatur aus § 9 NAG sowie § 31 Abs. 1 Z 2 FPG, wonach sich Fremde u.a. rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, wenn sie auf Grund einer Dokumentation des Aufenthaltsrechts nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz zur Niederlassung oder zum Aufenthalt berechtigt sind, abgeleitet, dass bei Wegfall des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts nicht automatisch auch der rechtmäßige Aufenthalt im Bundesgebiet beendet ist. So bleibt ein Fremder, für den eine Dokumentation eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts ausgestellt wurde, selbst bei Wegfall des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts bis zum Abschluss des nach § 55 NAG vorgesehenen Verfahrens gemäß § 31 Abs. 1 Z 2 FPG rechtmäßig aufhältig (VwGH 18.6.2013, 2012/18/0005, unter Hinweis auf die Erläuterungen der Regierungsvorlage zur mit BGBl. I Nr. 122/2009 erfolgten Änderung des § 55 NAG [ErläutRV 333 BlgNR 24. GP  53]).

21 Allein aus dem ‑ trotz Wegfalls des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts ‑ rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet ist für die hier zu beurteilende Frage der Ausstellung einer Bestätigung nach § 3 Abs. 8 AuslBG jedoch nichts zu gewinnen.

22 Mit anderen Worten: Ebenso wenig wie mit einer Bestätigung nach § 3 Abs. 8 iVm § 1 Abs. 2 lit. l AuslBG bindend über das Bestehen eines Aufenthaltsrechts abgesprochen wird (siehe dazu VwGH 12.12.2017, Ra 2015/22/0149, u.a.), erfüllt ein innerstaatlich rechtmäßiger Aufenthalt für sich die Voraussetzungen für die Ausstellung einer Bestätigung nach § 3 Abs. 8 AuslBG.

23 Während nämlich § 31 Abs. 1 Z 2 FPG (ebenso wie § 3 Abs. 5 NAG) auf das Vorliegen einer (ausgestellten) Dokumentation des (unionsrechtlichen) Aufenthaltsrechts abstellt und an diese anknüpft, kommt es für die Bestätigung nach § 3 Abs. 8 AuslBG iVm § 1 Abs. 2 lit. l AuslBG auf eine solche nicht an.

24 § 1 Abs. 2 lit. l AuslBG stellt im Gegensatz zu den genannten fremdenrechtlichen Normen nämlich unmittelbar darauf ab, ob der Ausländer aufgrund eines Rechtsakts der Europäischen Union Arbeitnehmerfreizügigkeit genießt.

25 Soweit das Bundesverwaltungsgericht nun im Kern seiner Begründung damit argumentiert, dass nicht ersichtlich wäre, dass bereits mit dem Wegfall der Voraussetzungen für das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht die damit verbundene Arbeitnehmerfreizügigkeit wegfalle, ist dazu auszuführen:

26 Bezogen auf den hier zu entscheidenden Fall sind Familienangehörige im Verständnis der Freizügigkeitsrichtlinie nach deren Art. 2 Abs. 2 lit. c die Verwandten in gerader absteigender Linie des Unionsbürgers, die das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet haben oder (sofern sie das 21. Lebensjahr bereits vollendet haben) denen von diesen Unterhalt gewährt wird. Arbeitnehmerfreizügigkeit aufgrund eines Rechtsakts der Europäischen Union kommt (hier von Interesse) nach Art. 23 Freizügigkeitsrichtlinie jenen Familienangehörigen eines Unionsbürgers ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit zu, die das Recht auf Aufenthalt oder Daueraufenthalt in einem Mitgliedstaat genießen.

27 Anders als das Bundesverwaltungsgericht meinte, ist daher die Arbeitnehmerfreizügigkeit essentiell mit dem unionsrechtlichen Aufenthaltsrecht verbunden. Nur solange einer Person ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zukommt, hat sie das unionsrechtliche Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit. Besteht ersteres nicht (mehr), ist auch ein Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht (mehr) gegeben.

28 Es ist daher zu untersuchen, ob und unter welchen Bedingungen das Unionsrecht nach einem Wegfall der Voraussetzungen für das Bestehen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts ein solches weiterhin gewährt.

29 Art. 14 Abs. 2 Freizügigkeitsrichtlinie normiert den Grundsatz, dass Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen das Aufenthaltsrecht solange zusteht, als sie die in der Freizügigkeitsrichtlinie näher genannten Voraussetzungen erfüllen.

30 Anders als das österreichische Fremdenrecht in der Frage des rechtmäßigen Aufenthalts nach Wegfall des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts knüpft die Freizügigkeitsrichtlinie für das Fortbestehen eines einmal erworbenen unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts nicht an den Umstand an, ob eine Aufenthaltskarte ausgestellt wurde. Eine Aufrechterhaltung des Aufenthaltsrechts von Familienangehörigen sieht die Freizügigkeitsrichtlinie gemäß ihrer Art. 12 und 13 (unter weiteren Voraussetzungen) nur für den Fall des Todes oder des Wegzugs des Unionsbürgers bzw. bei Scheidung oder Aufhebung der Ehe oder bei Beendigung der eingetragenen Partnerschaft vor.

31 Über das 21. Lebensjahr hinaus genießt ein Verwandter in gerader absteigender Linie eines Unionsbürgers hingegen nur dann ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht und damit Arbeitnehmerfreizügigkeit, wenn ihm von diesem oder dessen Ehe- oder Lebenspartner Unterhalt gewährt wird. Auch die Ausstellung einer Aufenthaltskarte vor Abschluss des 21. Lebensjahrs verlängert ein solches unionsrechtliches Aufenthaltsrecht daher nicht über das 21. Lebensjahr hinaus, sofern nicht die Voraussetzung der Unterhaltsgewährung erfüllt ist.

32 Für die hier zu beurteilende Frage der Ausstellung einer Bestätigung nach § 3 Abs. 8 iVm § 1 Abs. 2 lit. l AuslBG ist somit an der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes festzuhalten:

33 Eine Aufenthaltskarte nach § 54 Abs. 1 NAG dokumentiert ‑ also bescheinigt ‑ ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht für Angehörige eines Unionsbürgers. Das Aufenthaltsrecht ergibt sich in diesen Fällen jedoch nicht aus einer nationalen gesetzlichen Berechtigung, sondern Kraft unmittelbar anwendbaren Unionsrechts. Die Bescheinigung selbst hat bloß deklaratorische Wirkung. Demnach ist aus dieser keine Bindungswirkung für die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice abzuleiten, sondern hat diese im Verfahren über die Ausstellung einer Bestätigung nach § 3 Abs. 8 AuslBG die diesbezüglichen Voraussetzungen selbst zu prüfen (vgl. zum Ganzen VwGH 26.4.2016, Ra 2015/09/0137, VwSlg. 19357A, mwN).

34 Der Umstand, dass noch kein fremdenrechtliches Verfahren zur Beendigung des aufgrund innerstaatlicher Normen vorläufig weiterhin rechtmäßigen Aufenthalts eingeleitet wurde, ist nicht hinreichend, um vom Fortbestehen eines unionsrechtlichen Rechts auf Arbeitnehmerfreizügigkeit auszugehen.

35 Wie sich dem oben Ausgeführten entnehmen lässt, kommt es zur Entscheidung der Frage, ob der Mitbeteiligten aufgrund eines Rechtsakts der Europäischen Union Arbeitnehmerfreizügigkeit zukommt, und sie deshalb nach § 1 Abs. 2 lit. l AuslBG vom Anwendungsbereich des Ausländerbeschäftigungsgesetzes ausgenommen ist, was ihr mittels Bestätigung nach § 3 Abs. 8 AuslBG zu bescheinigen wäre, daher wesentlich darauf an, ob ihr von ihren Eltern noch Unterhalt gewährt wird.

36 Das Bundesverwaltungsgericht hätte sich daher mit dem dazu erstatteten Beschwerdevorbringen auseinanderzusetzen und zum Umstand einer allfälligen Unterhaltsgewährung Feststellungen zu treffen gehabt.

37 Indem es dies verkannte, belastete es sein Erkenntnis mit sekundären Feststellungsmängeln. Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

38 Bereits an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es sich bei der Ausstellung einer Bestätigung nach § 3 Abs. 8 AuslBG um ein „civil right“ im Sinn der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte handelt, weshalb bei einer inhaltlichen Entscheidung in der Sache im Regelfall eine mündliche Verhandlung durchzuführen ist (siehe etwa VwGH 25.9.2019, Ra 2018/09/0211).

Wien, am 22. Dezember 2020

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