VwGH Ra 2020/02/0182

VwGHRa 2020/02/01822.10.2020

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Mag. Dr. Köller und die Hofrätin Mag. Dr. Maurer‑Kober als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revision des S in W, vertreten durch Dr. Johann Postlmayr, Rechtsanwalt in 5230 Mattighofen, Stadtplatz 6, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom 10. Juli 2020, LVwG‑2019/43/1036‑12, betreffend Übertretung der StVO (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Schwaz), zu Recht erkannt:

Normen

VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §45 Abs2
VwGVG 2014 §47
VwGVG 2014 §47 Abs4

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020020182.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Das Land Tirol hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Das Verwaltungsgericht hat über den Revisionswerber wegen einer Übertretung von § 18 Abs. 1 StVO nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 99 Abs. 2c Z 4 StVO eine Geldstrafe von € 180,‑ ‑ (Ersatzfreiheitsstrafe 48 Stunden) verhängt, weil er zu einem vor ihm am gleichen Fahrstreifen fahrenden Fahrzeug nicht einen solchen Abstand eingehalten habe, dass ein rechtzeitiges Anhalten möglich gewesen wäre, auch wenn das vordere Fahrzeug plötzlich abgebremst worden wäre, wobei der mittels Videomessung festgestellte zeitliche Abstand 0,39 Sekunden betragen habe. Zudem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

2 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, zu der die belangte Behörde eine Revisionsbeantwortung erstattet hat.

3 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

4 Nach § 18 Abs. 1 StVO hat der Lenker eines Fahrzeuges stets einen solchen Abstand vom nächsten vor ihm fahrenden Fahrzeug einzuhalten, dass ihm jederzeit das rechtzeitige Anhalten möglich ist, auch wenn das vordere Fahrzeug plötzlich abgebremst wird.

5 Gemäß § 99 Abs. 2c Z 4 StVO begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe von € 72,‑ ‑ bis € 2.180,‑ ‑, im Fall ihrer Uneinbringlichkeit mit Freiheitsstrafe von 24 Stunden bis sechs Wochen, zu bestrafen, wer als Lenker eines Fahrzeuges den erforderlichen Sicherheitsabstand zum nächsten vor ihm fahrenden Fahrzeug gemäß § 18 Abs. 1 nicht einhält, sofern der zeitliche Sicherheitsabstand 0,2 Sekunden oder mehr, aber weniger als 0,4 Sekunden beträgt.

6 Als zulässig erachtet der Revisionswerber die Revision unter Hinweis auf VwGH 22.3.2018, Ra 2017/02/0228, und VwGH 18.11.2003, 2001/03/0297, weil das Verwaltungsgericht „Feststellungen zur Frage, ob die Messlinien an den in der Betriebsanleitung vorgesehenen Stellen gesetzt wurden, um die Verlässlichkeit der vorgenommenen Abstandsmessung abschließend beurteilen zu können“ unterlassen habe.

7 Dabei verabsäumt der Revisionswerber jedoch darzustellen, inwiefern der vorliegende Fall auf der Sachverhaltsebene mit den angeführten Erkenntnissen vergleichbar ist; nur dann könnte nämlich eine Abweichung des vorliegenden Erkenntnisses von dieser Rechtsprechung überprüft werden.

8 Dazu ist festzuhalten, dass im vorliegenden Verfahren ein Sachverständiger die von den Beamten durchgeführte Abstandsmessung nicht nur als der Betriebsanleitung entsprechend beurteilt, sondern eine eigene Messung durchgeführt hat, während der Aufhebungsgrund von VwGH 22.3.2018, Ra 2017/02/0228, darin bestand, dass eben kein Sachverständiger zur Nachvollziehbarkeit der Messung beigezogen worden ist. Der Unterschied zu VwGH 18.11.2003, 2001/03/0297, liegt darin, dass dort die Zulassung des Messgerätes fraglich war, während vorliegend ein geeichtes Abstandsmessgerät verwendet worden ist. Eine Vergleichbarkeit der diesen Verfahren zu Grunde liegenden Sachverhalte mit dem vorliegenden Fall ist daher nicht zu sehen und wurde vom Revisionswerber ‑ wie oben ausgeführt ‑ auch nicht dargelegt.

9 Sieht der Revisionswerber in der Folge als Zulässigkeitsgrund einen Verstoß gegen das Doppelverwertungsgebot, ist er darauf zu verweisen, dass das Verwaltungsgericht bei der Strafbemessung den nicht unerheblichen Unrechtsgehalt des Deliktes und den Zweck der Bestimmung evident auf § 18 Abs. 1 StVO und nicht auf die Qualifikation nach § 99 Abs. 2c Z 4 StVO bezog. Im Hinblick auf die nahe der Untergrenze des Strafrahmens liegende Strafhöhe erweist sich die Strafbemessung insgesamt daher als rechtmäßig.

10 Weiter soll die Zulässigkeit der Revision darin begründet sein, dass das Verwaltungsgericht entgegen der Rechtsprechung (Verweis auf VwGH 21.7.2020, Ra 2020/02/0011) das Erkenntnis nach Schluss der Verhandlung nicht mündlich verkündet hat.

11 Die Revision ist aus diesem Grunde zulässig und berechtigt.

12 Nach § 47 Abs. 4 letzter Satz VwGVG sind in Verfahren in Verwaltungsstrafsachen nach dem Schluss der Verhandlung der Spruch des Erkenntnisses und seine wesentliche Begründung nach Möglichkeit sofort zu beschließen und zu verkünden.

13 Die Verkündung der Entscheidung direkt nach der Verhandlung stellt den gesetzlichen, wenn auch in der Praxis nicht immer umsetzbaren, Regelfall dar. Ist eine anschließende Verkündung nicht möglich, etwa wegen der Komplexität der Sach- oder Rechtslage, hat die Entscheidung schriftlich zu ergehen. Bedarf die Fällung des Erkenntnisses (etwa die Beweiswürdigung) reiflicher Überlegung, so kann das Verwaltungsgericht von der sofortigen Verkündung Abstand nehmen, andernfalls belastet die rechtswidrige Unterlassung der Verkündung durch das Verwaltungsgericht das Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit (VwGH 11.9.2019, Ra 2019/02/0110).

14 Im Revisionsfall hat das Verwaltungsgericht weder in der mündlichen Verhandlung noch im schriftlichen Erkenntnis begründet, warum es ihm nicht möglich (gewesen) [ist] sei, das Erkenntnis nach Schluss der Verhandlung sofort zu beschließen und verkünden. Eine solche Begründung wäre ‑ infolge ihrer Einzelfallbezogenheit ‑ im Regelfall, wenn sie in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze erfolgt, nicht revisibel. Im Revisionsfall ist auch nicht offensichtlich, dass die Verkündung des Spruches des Erkenntnisses und seiner wesentlichen Begründung nach dem Schluss der Verhandlung nicht möglich gewesen wäre (vgl. VwGH 26.5.2020, Ra 2018/11/0195, mwN).

15 Die Verpflichtung zur Verkündung hängt auch nicht davon ab, dass die Parteien des Verfahrens bei der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht anwesend sind (VwGH 18.10.2016, Ra 2016/03/0069, mwN).

16 Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung hat das Verwaltungsgericht durch das unbegründete Unterlassen der Verkündung des Erkenntnisses nach Schluss der mündlichen Verhandlung in einer Verwaltungsstrafsache das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet. Es war daher gemäß§ 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

17 Im weiteren Verfahren hat das Verwaltungsgericht Gelegenheit, dem Unmittelbarkeitsgrundsatz entsprechend jene Beweisergebnisse ins Verfahren einzuführen ‑ etwa durch Verlesung von Behördenakten und Gutachten ‑, die es dann seiner Entscheidung zu Grunde legt.

18 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 2. Oktober 2020

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