VwGH Ra 2018/19/0510

VwGHRa 2018/19/051021.5.2019



Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Dr.in Lachmayer als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Schara, über die Revision des V T in W, vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 6. August 2018, Zl. W103 1432894-6/2E, betreffend Wiederaufnahme in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §46
AVG §69 Abs1 Z2
VwGVG 2014 §32 Abs1 Z2

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018190510.L00

 

Spruch:

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, stellte am 2. Mai 2017 den verfahrensgegenständlichen Folgeantrag auf internationalen Schutz. Er war im Jahr 2012 - damals als Minderjähriger - gemeinsam mit seiner Mutter und seinen beiden Geschwistern nach Österreich eingereist, welche ebenfalls um internationalen Schutz angesucht hatten. Nachdem zunächst alle Anträge negativ entschieden worden waren, wurde der Mutter und den Geschwistern des Revisionswerbers zwischenzeitlich der Status von subsidiär Schutzberechtigten verliehen. 2 Der vorliegende Folgeantrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28. April 2018 wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde nicht erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei. Eine Frist für die freiwillige Ausreise wurde nicht gewährt.

3 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde, in welcher unter anderem auf die Erkrankung der Mutter des Revisionswerbers hingewiesen und ihre Einvernahme beantragt wurde, wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 5. Juni 2018 ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung rechtskräftig abgewiesen. Dabei ging das BVwG bei seiner Beurteilung gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK davon aus, dass zwischen dem nunmehr volljährigen Revisionswerber und seinen in Österreich lebenden Familienangehörigen kein Abhängigkeitsverhältnis besteht (vgl. S. 15 dieses Erkenntnisses).

4 Der Revisionswerber stellte am 9. Juli 2018 einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens und legte unter einem einen ärztlichen Befund vom 25. Juni 2018 betreffend die Erkrankung seiner Mutter vor. Aus diesem gehe hervor, dass sie an schweren psychischen Erkrankungen leide und auf die Hilfe des Revisionswerbers angewiesen wäre. Es bestehe somit ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen den beiden, da der Gesundheitszustand seiner Mutter von der Unterstützung des Revisionswerbers abhänge. Der vom BVwG ins Treffen geführte Umstand, dass der Revisionswerber nicht mit seiner Mutter im gemeinsamen Haushalt lebe, liege nur daran, dass ihnen dies durch eine Wohnsitzbeschränkung verunmöglicht worden sei. Das gemeinsame Familienleben habe entgegen den Ausführungen des BVwG schon immer bestanden und sei daher keinesfalls erst zu einem Zeitpunkt entstanden, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst sein hätten müssen. Der Befundbericht habe im Zeitpunkt des letzten Erkenntnisses des BVwG noch nicht existiert, weshalb nunmehr eine andere Entscheidung hinsichtlich der aufenthaltsbeendenden Maßnahme notwendig sei.

5 Mit Beschluss des BVwG vom 6. August 2018 wurde der Antrag auf Wiederaufnahme abgewiesen und ausgesprochen, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. Dies wurde im Wesentlichen damit begründet, dass eine Wiederaufnahme nur bei Hervorkommen von "nova reperta" zulässig sei, der vorgelegte Befundbericht jedoch erst nach rechtskräftiger Beendigung des Verfahrens entstanden sei ("nova producta"). Zudem hätte das neu entstandene Beweismittel weder allein noch in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich eine anders lautende Entscheidung herbeigeführt, zumal das Familienleben des Revisionswerbers schon im vorangegangenen Erkenntnis behandelt worden sei.

 

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Beschluss erhobene Revision nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit unter anderem vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abgewichen, indem es verkannt habe, dass neu entstandene Beweismittel einen Wiederaufnahmegrund darstellen könnten, wenn diese sich auf bereits vor der Erlassung der Entscheidung gegebene Tatsachen beziehen würden. Der vorgelegte Befundbericht stelle genau ein solches Beweismittel dar. Er zeige ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Revisionswerber und seiner Mutter auf, welches im Zuge der Interessenabwägung gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zu berücksichtigen sei und im Hinblick auf die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung mit erheblicher Wahrscheinlichkeit zu einem für den Revisionswerber günstigeren Ergebnis geführt hätte. Den Revisionswerber treffe schon aufgrund des Ausstellungsdatums kein Verschulden daran, dass der Befundbericht nicht vor Erlass der inhaltlichen Entscheidung des BVwG vorgelegt worden sei, zudem habe er in der Beschwerde auf den Gesundheitszustand seiner Mutter hingewiesen und deren Einvernahme beantragt. In den Revisionsgründen wies der Revisionswerber überdies darauf hin, dass die Begründung der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung nicht den in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs aufgestellten Anforderungen entspreche.

8 Die Revision ist zulässig und auch begründet. 9 Gemäß § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG ist dem Antrag einer Partei auf Wiederaufnahme eines durch Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes abgeschlossenen Verfahrens stattzugeben, wenn neue Tatsachen oder Beweismittel hervorkommen, die im Verfahren ohne Verschulden der Partei nicht geltend gemacht werden konnten und denen allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich ein im Hauptinhalt des Spruchs anders lautendes Erkenntnis herbeigeführt hätten.

10 Gemäß § 32 Abs. 1 Z 2 VwGVG rechtfertigen neu hervorgekommene Tatsachen und Beweismittel (also solche, die bereits zur Zeit des früheren Verfahrens bestanden haben, aber erst später bekannt wurden) - bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen - eine Wiederaufnahme des Verfahrens, wenn sie die Richtigkeit des angenommenen Sachverhalts in einem wesentlichen Punkt als zweifelhaft erscheinen lassen. Gleiches gilt nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes für neu entstandene Beweismittel, sofern sie sich auf "alte" - d.h. nicht ebenfalls erst nach Abschluss des wiederaufzunehmenden Verfahrens entstandene - Tatsachen beziehen. Hingegen ist bei Sachverhaltsänderungen, die nach der Entscheidung eingetreten sind, kein Antrag auf Wiederaufnahme, sondern ein neuer Antrag zu stellen, weil in diesem Fall einem auf der Basis des geänderten Sachverhaltes gestellten Antrag die Rechtskraft bereits erlassener Bescheide nicht entgegensteht (VwGH 20.3.2019, Ra 2019/20/0096, mwN; 8.8.2017, Ra 2017/19/0120, mwN).

11 Wie in der Revision zutreffend aufgezeigt wird, liegt gegenständlich ein Beweismittel im oben beschriebenen Sinn vor. Der nach Zustellung des Erkenntnisses, also "neu", entstandene Befundbericht bezieht sich nämlich auf die bereits vor Abschluss des wiederaufzunehmenden Verfahrens bestehende Erkrankung der Mutter des Revisionswerbers und ihr allenfalls aus diesem Grund bestehendes Abhängigkeitsverhältnis. Das BVwG ging folglich zu Unrecht davon aus, dass der Befundbericht als "nova producta" kein taugliches Beweismittel für die Wiederaufnahme darstellen könne. 12 Die Wiederaufnahme des Verfahrens setzt die Eignung der neuen Tatsachen oder Beweismittel voraus, dass diese allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Verfahrens voraussichtlich ein im Hauptinhalt des Spruchs anders lautendes Ergebnis herbeigeführt hätten. Ob diese Eignung vorliegt, ist eine Rechtsfrage, die im Wiederaufnahmeverfahren zu beantworten ist; ob tatsächlich ein anderes Ergebnis des Verfahrens zustande kommt, ist sodann eine Frage, die im wiederaufgenommenen Verfahren zu klären ist.

Tauglich ist ein Beweismittel als Wiederaufnahmegrund (ungeachtet des Erfordernisses der Neuheit) also nur dann, wenn es nach seinem objektiven Inhalt und unvorgreiflich der Bewertung seiner Glaubwürdigkeit die abstrakte Eignung besitzt, jene Tatsachen in Zweifel zu ziehen, auf welche das BVwG entweder die den Gegenstand des Wiederaufnahmeverfahrens bildende Entscheidung oder zumindest die zum Ergebnis dieser Entscheidung führende Beweiswürdigung tragend gestützt hat (vgl. zu alldem VwGH 18.1.2017, Ra 2016/18/0197, mwN).

13 Diese abstrakte Eignung ist im vorliegenden Fall gegeben:

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs fallen familiäre Beziehungen unter Erwachsenen nur dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. etwa VwGH 30.5.2017, Ra 2017/19/0143, mwN). 14 Das vorgelegte neue Beweismittel thematisiert inhaltlich die Erkrankung der subsidiär schutzberechtigten Mutter des Revisionswerbers und die Frage, ob bzw. inwieweit sie auf dessen Unterstützung angewiesen ist. Es ist somit abstrakt geeignet, über die rechtserhebliche Tatsache des Vorliegens eines besonderen Abhängigkeitsverhältnisses Auskunft zu geben.

15 Die Revision weist in ihrer Begründung zu Recht drauf hin, dass dem BVwG im Hinblick darauf ein Begründungsmangel vorzuwerfen ist. Das BVwG führt in seinen Erwägungen diesbezüglich lediglich aus, dass die Frage des Familienlebens mit der Mutter des Revisionswerbers "wie im Erstverfahren ersichtlich, und der Antragsteller auch selbst in seinem Wiederaufnahme Antrag angibt" bereits im vorangegangenen Erkenntnis behandelt worden sei. 16 Die Begründung von Entscheidungen der Verwaltungsgerichte hat nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs jenen Anforderungen zu entsprechen, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Danach erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Fall des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheids geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben. Das Verwaltungsgericht hat neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhalts erforderlichen Beweise dabei auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhalts von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. zu alldem etwa VwGH 20.09.2017, Ra 2017/19/0284, mwN).

17 Diesen Anforderungen entspricht der angefochtene Beschluss jedenfalls nicht, weil sich diesem nicht entnehmen lässt, weshalb eine Berücksichtigung des vorgelegten Beweismittels nicht zu einem im Hauptinhalt des Spruches anders lautenden Ergebnis führen hätte können. Der bloße, abstrakte Verweis darauf, dass die Frage des Familienlebens im Erstverfahren - in dem das neue Beweismittel noch gar nicht vorlag - behandelt worden sei, wird - insbesondere auch angesichts der Verneinung eines Abhängigkeitsverhältnisses im Erkenntnis vom 5. Juni 2018 - den Anforderungen jedenfalls nicht gerecht, zumal ihm kein inhaltlicher Begründungswert zukommt. 18 Ein Verschulden des Revisionswerbers daran, dass das neue Beweismittel erst nach Abschluss des Verfahrens vor dem BVwG vorgelegt wurde, wurde vom Bundesverwaltungsgericht nicht festgestellt.

19 Ausgehend davon hat das BVwG seine Entscheidung mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit sowie mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet. Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen (prävalierender) Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 21. Mai 2019

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