VwGH Ra 2018/18/0442

VwGHRa 2018/18/044214.2.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision der F A in M, vertreten durch den Sachwalter Dr. Wolf Mazakarini, dieser vertreten durch Mag.a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das mündlich verkündete und am 10. Jänner 2018 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. Oktober 2017, Zl. W245 2142965- 1/17E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

32011L0095 Status-RL Art9 Abs1;
AsylG 2005 §3 Abs1;
AVG §58 Abs2;
AVG §60;
EURallg;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGVG 2014 §29;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018180442.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die Revisionswerberin ist afghanische Staatsangehörige und stellte am 18. Jänner 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Mit Beschluss des Bezirksgerichts Baden vom 14. September 2016 wurde für die Revisionswerberin wegen einer geistigen Behinderung und Intelligenzminderung ein Sachwalter (nunmehr: Erwachsenenvertreter) bestellt.

3 Mit Bescheid vom 17. November 2016 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag der Revisionswerberin auf internationalen Schutz hinsichtlich Asyl (Spruchpunkt I) ab, erkannte ihr den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II) und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III).

4 Gegen Spruchpunkt I dieses Bescheids erhob die Revisionswerberin Beschwerde, in der sie u.a. mit näherer Begründung eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der geistig behinderten Personen sowie der alleinstehenden Frauen vorbrachte.

5 Die Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, mit mündlich verkündetem Erkenntnis vom 3. Oktober 2017 als unbegründet ab und erklärte eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

6 Begründend führte das BVwG insbesondere aus, dass eine individuell konkrete Verfolgung der Revisionswerberin in Afghanistan im Verfahren nicht hervorgekommen sei, zumal ihre Behinderung im Herkunftsstaat noch nicht zu bemerken gewesen sei. Auch das Vorbringen der Revisionswerberin hinsichtlich des Umganges mit Menschen mit Behinderung in Afghanistan und zur Asylrelevanz einer psychischen Erkrankung sei mangels Konkretisierung im Hinblick auf das Bestehen eines exponierten Risikos der Bedrohung oder Verfolgung nicht geeignet, eine Gefährdungslage, die mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit erwartet werden müsse, und den insoweit notwendigen Grad an Intensität zu begründen. Die bloße Möglichkeit einer Gefährdung reiche nicht aus. Letztlich beruhten die diesbezüglichen Angaben der Revisionswerberin bzw. ihrer Mutter nur auf Annahmen auf Grund der allgemeinen Situation in Afghanistan. Eine in der Person der Revisionswerberin gelegene Individualisierung im Sinne einer besonders erhöhten Gefahrenlage habe sie bzw. ihre Mutter damit nicht darzulegen vermocht. Die in der Stellungnahme der Revisionswerberin angeführten Berichte wiesen nicht den notwendigen Bezug zur konkreten Situation auf, sondern führten lediglich mögliche Gefährdungsrisiken ins Treffen, ohne konkret zu begründen, warum besonders die Revisionswerberin Gefahr laufe, von diesen betroffen zu sein. Aus den Stellungnahmen lasse sich entnehmen, dass (psychisch) Behinderte Vorurteilen, Ausgrenzungen sowie Stigmatisierungen ausgesetzt seien und systematisch ausgestoßen werden könnten. Jedoch könne daraus eine Verfolgung nicht abgeleitet werden, weil aufgrund dieser unbestimmten Begriffe nicht erkennbar werde, mit welchen Eingriffen in ihre persönliche Sphäre die Revisionswerberin bei ihrer Rückkehr nach Afghanistan konkret zu rechnen hätte.

7 Gegen dieses Erkenntnis erhob die Revisionswerberin Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof (VfGH). Mit Beschluss vom 11. Juni 2018, E 598/2018-7, lehnte dieser die Beschwerde gemäß Art 144 Abs. 2 B-VG ab und trat sie über nachträglichen Antrag mit Beschluss vom 21. Juni 2018, E 593/2018-9, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

8 Die vorliegende außerordentliche Revision richtet sich gegen das oben dargestellte Erkenntnis des BVwG. Zur Zulässigkeit wird darin im Wesentlichen vorgebracht, das BVwG habe sein Erkenntnis mangelhaft begründet. Aufgrund der herangezogenen Länderberichte hätte es zu dem Ergebnis gelangen müssen, dass psychisch Kranken in Afghanistan eine systematische Verfolgung drohe. Das BVwG habe, seine eigenen Länderfeststellungen übergehend, keine ausreichende Differenzierung zwischen "mayub" (Behinderungen, welche mit dem "Schicksal" zusammenhingen) und "malul" ("erworbenen" Behinderungen, welche mit eindeutig identifizierbaren Vorfällen wie Kriegsverletzungen und Arbeitsunfällen zusammenhingen) getroffen. Das BVwG vermenge überdies die Fragen der Eingriffsintensität und der Wahrscheinlichkeit eines Eingriffs.

9 Das BFA erstattete keine Revisionsbeantwortung.

 

10 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

11 Die Revision ist zulässig und begründet.

12 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Erkenntnisses geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. VwGH 15.3.2018, Ra 2016/20/0291, 0292).

13 Zu Recht zeigt die Revision einen Begründungsmangel des angefochtenen Erkenntnisses auf, der dessen nachprüfende Kontrolle am Maßstab der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs unmöglich macht und daher tragenden Grundsätzen des Verfahrensrechts widerspricht.

14 Das BVwG hat im angefochtenen Erkenntnis zur Person der Revisionswerberin die Sachverhaltsfeststellung getroffen, dass diese unter einer chronischen geistigen Behinderung und Intelligenzminderung leide. Aufgrund ihrer geistigen Behinderung habe sie nicht einvernommen werden können.

15 In seinen Länderfeststellungen traf es sodann die Feststellung, dass im Herkunftsstaat der Revisionswerberin Personen mit angeborener Behinderung ("mayub") von sozialer Ausgrenzung betroffen seien und "systematisch ausgestoßen" würden, weil davon ausgegangen werde, dass ihre Behinderung mit ihrem Schicksal zusammenhänge. Diese Personen würden von der Gesellschaft für ihre Behinderung verantwortlich gemacht und als "ungesund" und "Halb-Menschen" angesehen. Während "malul" für "erworbene", d.h. mit eindeutig identifizierbaren Vorfällen wie Kriegsverletzungen und Arbeitsunfällen zusammenhängende Behinderungen stehe, verweise "mayub" auf religiöse bzw. übernatürliche, ungeklärte Ursachen (z. B. auf den Willen Gottes, Geister, Dschinns, schwarze Magie, Schicksal etc.). Die Unterscheidung zwischen "mayub" und "malul" beeinflusse alle Lebensbereiche. Menschen mit Behinderung, insbesondere Personen mit geistiger Behinderung oder psychischer Erkrankung, seien verbalen und psychischen Misshandlungen durch Mitglieder der Gesellschaft ausgesetzt. Es gebe nur wenige Möglichkeiten der Bildung und des Lebensunterhalts, kaum Aussicht auf Heirat und Familie und die erforderliche Gesundheitsfürsorge sei unzureichend. Die soziale Abgrenzung werde durch Diskriminierung und Verlassen durch die Familie deutlich, so würden zum Beispiel geistig behinderte Menschen in Maristoons (psychiatrische Anstalten) abgegeben. Die soziale Isolation betreffe nicht nur Personen mit Behinderung, sondern auch den sozialen Status der ganzen Familie. Frauen mit geistiger Behinderung seien dabei einem besonders hohen Risiko ausgesetzt. Traditionell mangle es in Afghanistan an einem Konzept für die Behandlung psychisch Kranker. Sie würden "nicht selten in spirituellen Schreinen unter teilweise unmenschlichen Bedingungen ‚behandelt'". Auch gebe es einen Bericht über ein religiöses Heiligtum in der Provinz Nangarhar, in dem Personen, die von ihren Familien als "verrückt" eingestuft worden seien, in Ketten gelegt würden und Tee, Brot und schwarzen Pfeffer als einzige Nahrung bekämen, um deren psychische Krankheiten zu heilen. Andererseits stellte das BVwG aber auch fest, dass es aktuelle Bemühungen gebe, die Akzeptanz und Kapazitäten für psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten zu stärken und verstärkt Aufklärung zu betreiben.

16 In den UNHCR-Richtlinien vom 19. April 2016 seien nach den weiteren Ausführungen des BVwG "Personen mit Behinderungen, insbesondere geistigen Beeinträchtigungen, und Personen, die unter psychischen Erkrankungen leiden" als Risikogruppe genannt, die "abhängig von den im Einzelfall besonderen Umständen" internationalen Schutz benötigen könnten.

17 Für den Revisionsfall folgerte das BVwG daraus, dass aufgrund der unbestimmten Begriffe in den Länderberichten nicht erkennbar sei, mit welchen Eingriffen in ihre persönliche Sphäre die Revisionswerberin bei ihrer Rückkehr nach Afghanistan zu rechnen hätte. Es sei im Verfahren auch weder eine konkret auf die Revisionswerberin bezogene asylrelevante Verfolgung erkennbar geworden noch sei aus den Länderberichten eine Gruppenverfolgung von Menschen mit psychischen Behinderungen ableitbar.

18 Diese Beweiswürdigung hält einer Schlüssigkeitsprüfung nicht stand.

19 Unter Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist nach der hg. Rechtsprechung ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als "Verfolgung" im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinie) (vgl. VwGH 22.5.2018, Ra 2018/18/0220; VwGH 22.3.2017, Ra 2016/19/0350, mwN).

20 Zwar hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner bisherigen Rechtsprechung angesichts der in den jeweiligen Revisionsfällen getroffenen Sachverhaltsfeststellungen (ungeachtet der darin beschriebenen Härten der Lage von Personen mit geistiger Behinderung) keine Gruppenverfolgung psychisch erkrankter Personen in Afghanistan angenommen (vgl. VwGH 19.6.2018, Ra 2018/20/0262 sowie 18.10.2018, Ra 2018/19/0461).

21 Nach den im Revisionsfall vom BVwG getroffenen Länderfeststellungen sind Personen mit geistiger Behinderung in Afghanistan jedoch vielfach von einer "systematischen" sozialen Ausgrenzung betroffen, mit der auch "Misshandlungen" bis zu "unmenschlichen" Behandlungsversuchen einhergehen, wobei die Revisionswerberin als Frau mit geistiger Behinderung auch ein ausdrückliches Risikoprofil des UNHCR-Berichts aus 2016 erfüllt, das eine genaue Prüfung der Umstände des Einzelfalles erfordert.

22 Vor diesem Hintergrund hätte sich das BVwG im Revisionsfall daher ausgehend von seinen eigenen Länderfeststellungen mit den bei Rückkehr zu erwartenden persönlichen Lebensumständen der Revisionswerberin (wie ihrer Einbettung in ein familiäres und soziales Umfeld und der Gestaltung ihres Tagesablaufs) näher auseinander setzen müssen, um nachvollziehbar prognostisch beurteilen zu können, welchen Risiken die Revisionswerberin als Person mit geistiger Behinderung bei Rückkehr in ihre Herkunftsregion begegnen würde und ob ihr solcherart mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung im Sinne einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte drohe.

23 Dabei kommt zweifelsfrei auch der Frage, welches Ausmaß die psychische Behinderung der Revisionswerberin hat, maßgebliche Bedeutung zu. Auch dazu hat das BVwG jedoch keine ausreichenden Feststellungen getroffen, weil aus der pauschal gehaltenen Feststellung des BVwG, die Revisionswerberin leide unter einer chronischen geistigen Behinderung und Intelligenzminderung, der Grad der Behinderung der Revisionswerberin nicht hervorgeht.

24 Soweit das BVwG im angefochtenen Erkenntnis in seinen eigenen Länderfeststellungen verwendete unbestimmte Begriffe (wie "systematische Ausstoßung" oder "Ausgrenzung") als ungenügend konkret für Schlussfolgerungen hinsichtlich einer Verfolgung kritisiert, ist es im Übrigen darauf hinzuweisen, dass es Aufgabe des BVwG ist, unzureichend aussagekräftige Feststellungen in Länderberichten erforderlichenfalls nach weiteren Ermittlungen zu ergänzen.

25 Wäre im fortgesetzten Verfahren eine Verfolgung im asylrechtlichen Sinn zu bejahen, so ließe sich deren Zusammenhang mit einem Konventionsgrund (soziale Gruppe) nicht verneinen.

26 Das angefochtene Erkenntnis war sohin wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

27 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 14. Februar 2019

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