European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018220180.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein indischer Staatsangehöriger, stellte am 6. März 2008 einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 29. Juli 2008 in Verbindung mit einer Ausweisung abgewiesen. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 24. Oktober 2008 als unbegründet abgewiesen.
2 Mit Schreiben vom 18. Mai 2015 beantragte der Revisionswerber die Ausstellung einer Karte für Geduldete gemäß § 46a Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG). Mit dem (im zweiten Rechtsgang ergangenen) Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA, belangte Behörde) vom 7. Oktober 2016 wurde dieser Antrag gemäß § 46a Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 1 Z 3 FPG abgewiesen.
3 Am 9. Dezember 2015 brachte der Revisionswerber einen Antrag auf Erteilung einer "Aufenthaltsberechtigung plus" gemäß § 55 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ein. Mit Bescheid vom 31. Oktober 2016 wies das BFA diesen Antrag gemäß § 55 AsylG 2005 ab und erließ gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung.
4 Mit dem hier gegenständlichen Spruchpunkt A II. seines Erkenntnisses vom 19. Februar 2018 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen den Bescheid des BFA vom 31. Oktober 2016 gerichtete Beschwerde des Revisionswerbers mit der Maßgabe ab, dass der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG 2005 zurückgewiesen werde; zudem werde gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 in Verbindung mit § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG erlassen, die Zulässigkeit der Abschiebung des Revisionswerbers nach Indien gemäß § 46 FPG festgestellt und die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen festgesetzt. Die ordentliche Revision wurde für unzulässig erklärt. (Mit Spruchpunkt A I. dieses Erkenntnisses wies das BVwG die gegen den Bescheid des BFA vom 7. Oktober 2016 gerichtete Beschwerde des Revisionswerbers gemäß § 46a Abs. 4 in Verbindung mit Abs. 1 Z 3 FPG ab.)
5 Das BVwG stellte fest, dass der Revisionswerber im März 2008 legal mit seinem (bis zum 29. August 2016 gültigen) Reisepass und einem italienischen Visum aus Italien kommend nach Österreich eingereist sei. Dass er (wie von ihm vorgebracht) mit Unterstützung eines Schleppers eingereist sei und dieser den Reisepass an sich genommen habe, erachtete das BVwG (insbesondere angesichts der legalen Einreisemöglichkeit und der im Jahr 2012 anonym übermittelten Reisepasskopien) als unglaubwürdig. Bei den im Jahr 2012 anonym an die Polizei übermittelten Reisepasskopien handle es sich um Kopien des Reisepasses des Revisionswerbers. Das BVwG ging mit näherer Begründung (im Zusammenhang mit dem Auftauchen der Reisepasskopien im Jahr 2012) davon aus, dass der Revisionswerber - entgegen seinen Behauptungen - nach wie vor im Besitz seines Reisepasses sei. In der mündlichen Verhandlung am 10. August 2017 habe der Revisionswerber eine mit 7. März 2012 datierte Kopie einer Übersetzung seiner Geburtsurkunde vorgelegt. Diese Dokumente (Reisepass bzw. Übersetzung der Geburtsurkunde) habe er im Verfahren zur Beschaffung eines Ersatzreisedokumentes nicht vorgelegt.
Das BVwG ging davon aus, dass der Revisionswerber der Einladung der indischen Botschaft zum "Interview" vom 6. Februar 2009 nicht gefolgt sei. Die in der mündlichen Verhandlung erstattete Aussage, "alle zwei bis drei Monate" bei der Botschaft gewesen zu sein, erachtete das BVwG angesichts seiner insoweit widersprüchlichen Angaben und mangels einer Bestätigung seiner Antragstellung auf Ausstellung eines Reisedokumentes als unglaubwürdig. Das BVwG hielt daher fest, dass der Revisionswerber die indische Botschaft nicht zwecks Erlangung eines Ersatzreisedokumentes aufgesucht habe.
Der Revisionswerber sei nach seiner Ausweisung über neun Jahre unrechtmäßig in Österreich geblieben. Er habe Deutschkenntnisse auf dem Niveau B1, verfüge über vielfältige soziale Kontakte und arbeite seit Mitte 2011 ohne behördliche Genehmigung als Küchenhelfer. Er sei selbsterhaltungsfähig und sozialversichert, seine Ehefrau und seine zwei Kinder lebten in Indien.
6 In seinen Spruchpunkt A II. betreffenden rechtlichen Erwägungen verwies das BVwG darauf, dass die Nichtvorlage eines Reisedokumentes grundsätzlich eine auf § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG 2005 gestützte Zurückweisung rechtfertige. Der Revisionswerber habe weder ein gültiges Reisedokument vorgelegt noch einen Heilungsantrag nach § 4 Abs. 1 Asylgesetz-Durchführungsverordnung 2005 gestellt. Er sei seiner Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen, der Antrag sei daher zurückzuweisen gewesen.
Im Zusammenhang mit der Rückkehrentscheidung verwies das BVwG auf (näher zitierte) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach bei einem mehr als zehn Jahre dauernden Inlandsaufenthalt regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen des Fremden an einem Verbleib in Österreich auszugehen sei. Anderes gelte, wenn dem Umstände entgegenstünden, die das gegen einen Verbleib sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer relativieren würden. Das BVwG verwies auf die jahrelange Nichtbeachtung der Ausweisung, auf die falschen Angaben zur Einreise und zum Verbleib des Reisepasses sowie auf das Zurückhalten des Reisepasses und die damit einhergehende Verhinderung der Effektuierung der Ausweisungsentscheidung. Dadurch werde die lange Aufenthaltsdauer relativiert. Der Revisionswerber habe zwar sprachliche, berufliche und soziale Integrationsschritte gesetzt, allerdings sei seine Erwerbstätigkeit nicht behördlich genehmigt und er habe noch starke Bindungen zu seinem Herkunftsstaat. Zudem müsse sich der Revisionswerber bei seinen Integrationsschritten der Vorläufigkeit (in den ersten acht Monaten) bzw. Unrechtmäßigkeit (in der Zeit danach) seines Aufenthaltes bewusst gewesen sein. Im Rahmen seiner Abwägungsentscheidung ging das BVwG von einem Überwiegen des öffentlichen Interesses an einer Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthaltes des Revisionswerbers im Bundesgebiet aus.
Abschließend erfolgten Ausführungen zur Zulässigkeit der Abschiebung und zur Festsetzung der Frist für die freiwillige Ausreise.
7 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, deren Behandlung dieser mit Beschluss vom 12. Juni 2018, E 1676/2018, ablehnte und die Beschwerde in der Folge über Antrag des Revisionswerbers an den Verwaltungsgerichtshof abtrat.
8 In der Folge erhob der Revisionswerber eine außerordentliche Revision, die - soweit sie sich gegen Spruchpunkt A II. (Zurückweisung des Antrags auf Erteilung einer "Aufenthaltsberechtigung plus" sowie Erlassung einer Rückkehrentscheidung) des Erkenntnisses richtet - Gegenstand des vorliegenden, zu Ra 2018/22/0180 protokollierten Revisionsverfahrens ist. (Soweit sich die Revision gegen Spruchpunkt A I. (Abweisung des Antrags auf Ausstellung einer Karte für Geduldete) dieses Erkenntnisses richtet, wurde sie unter Ra 2018/21/0149 protokolliert und ergeht darüber eine gesonderte Entscheidung.)
9 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.
Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
10 Der Revisionswerber bringt zum hier gegenständlichen Spruchpunkt A II. einzig vor, das BVwG sei bei Erlassung der Rückkehrentscheidung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen. Der Verwaltungsgerichtshof gehe bei einem mehr als zehnjährigen Aufenthalt in Österreich von einer Unverhältnismäßigkeit der Aufenthaltsbeendigung aus. Nur wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt habe, um sich zu integrieren, sei eine Aufenthaltsbeendigung ausnahmsweise zulässig. Vorliegend habe der Revisionswerber keine unrichtigen Identitätsangaben gemacht, die unterlassene Vorlage "des als Kopie vorhandenen Reisepasses" sei nicht ursächlich dafür, dass seitens der indischen Botschaft kein Heimreisezertifikat ausgestellt worden sei. Es lägen somit keine besonderen Umstände vor, die trotz der langen Aufenthaltsdauer ein Überwiegen des öffentlichen Interesses rechtfertigen könnten.
11 Vorweg ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, der zufolge die unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommene Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen, wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze erfolgte, nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG ist (vgl. VwGH 3.10.2017, Ra 2016/22/0056, mwN).
12 Der Revisionswerber verweist zwar zutreffend darauf, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen sei. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt habe, um sich sozial und beruflich zu integrieren, seien Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen worden (vgl. VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0340, Rn. 11, mwN).
Allerdings ist - worauf schon das BVwG zutreffend hingewiesen hat - auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem (hier unstrittig gegebenen) Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte dann nicht zwingend von einem Überwiegen des persönlichen Interesses auszugehen, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren. Auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt ist daher eine Gesamtabwägung unter Einbeziehung aller fallbezogen maßgeblichen Aspekte vorzunehmen, wenn auch unter besonderer Gewichtung der langen Aufenthaltsdauer (vgl. VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, Rn. 13 bis 16).
13 Das BVwG hat im Rahmen seiner Interessenabwägung auf diese Rechtsprechung hinreichend Bedacht genommen. Es ist nicht zu beanstanden, wenn es den Umstand, dass der Revisionswerber durch die Nichtvorlage seines Reisepasses die Effektuierung der Ausweisung behindert hat (siehe dazu unten Rn. 16), als geeignet angesehen hat, die Länge der Aufenthaltsdauer zu relativieren (vgl. etwa VwGH 14.11.2017, Ra 2017/21/0197, Rn. 9, in dem darauf abgestellt wurde, dass die lange Aufenthaltsdauer und das dabei erreichte Maß an Integration auf Grund einer Täuschungshandlung ermöglicht worden ist; bzw. VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0009, Rn. 15, mwN, in dem darauf abgestellt wurde, dass die Beschaffung eines Heimreisezertifikates - dort: durch unrichtige Angaben - erschwert bzw. behindert worden ist).
14 Der Verwaltungsgerichtshof hat auch wiederholt ausgesprochen, dass das durch eine soziale Integration erworbene Interesse an einem Verbleib in Österreich in seinem Gewicht gemindert ist, wenn der Fremde keine genügende Veranlassung hatte, von einer Erlaubnis zu einem dauernden Aufenthalt auszugehen (vgl. wiederum VwGH Ra 2016/22/0056). Der Umstand, dass der Inlandsaufenthalt überwiegend unrechtmäßig war, ist ebenfalls zu berücksichtigen (vgl. auch dazu VwGH Ro 2016/22/0005, Rn. 15, mwN). Es begegnet daher keinen Bedenken, dass das BVwG in seine Interessenabwägung auch miteinbezog, dass der Revisionswerber nach Abschluss seines lediglich acht Monate dauernden Asylverfahrens unrechtmäßig im Inland geblieben ist und sich seines unsicheren bzw. unrechtmäßigen Aufenthaltsstatus während seiner Integration bewusst gewesen sei musste.
15 Die vom BVwG angestellte Abwägung nach § 9 BFA-VG erweist sich somit im Ergebnis nicht als unvertretbar.
16 Soweit der Revisionswerber den - seiner Auffassung nach - fehlenden "Kausalzusammenhang zwischen der langen Dauer des Aufenthaltes und der unterlassenen Vorlage der Kopie des Reisepasses" ins Treffen führt, vermag er damit keine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Erkenntnisses aufzuzeigen, zumal das BVwG in nicht zu beanstandender Weise auf ein Zurückhalten des Reisepasses (und nicht bloß einer Kopie) sowie darauf abgestellt hat, dass der Revisionswerber der Einladung der indischen Botschaft zum "Interview" nicht Folge geleistet und auch andere Urkunden (wie die Kopie der Übersetzung seiner Geburtsurkunde) nicht vorgelegt habe.
Sollte der Revisionswerber damit der Sache nach die Beweiswürdigung des BVwG im Zusammenhang mit der Feststellung zum Besitz eines Reisepasses rügen, genügt der Hinweis, dass die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichtes nur in beschränktem Maße, nämlich nur hinsichtlich ihrer Schlüssigkeit, nicht aber hinsichtlich ihrer Richtigkeit, einer Überprüfung durch den Verwaltungsgerichtshof unterliegt (vgl. wiederum VwGH Ro 2016/22/0005, mwN). Eine vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifende Unschlüssigkeit der Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichtes vermag der Revisionswerber nicht aufzuzeigen.
17 In der Revision wird somit keine Rechtsfrage aufgeworfen, der im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme.
18 Die gegen Spruchpunkt A II. des Erkenntnisses vom 19. Februar 2018 gerichtete Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.
Wien, am 29. August 2018
Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)