Normen
AVG §68 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGVG 2014 §17;
VwGVG 2014 §27;
VwGVG 2014 §28 Abs1;
VwRallg;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018220078.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit Bescheid des Bürgermeisters der Stadt Wien vom 29. Juni 2017 wurde der Antrag der revisionswerbenden Partei vom 21. April 2017 auf Ausstellung eines österreichischen Reisepasses wegen entschiedener Sache zurückgewiesen.
2 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht Wien mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis ab. Weiters sprach es aus, dass eine ordentliche Revision gegen dieses Erkenntnis unzulässig sei.
3 In seiner Begründung stellte das Verwaltungsgericht fest, dass bereits mit Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Oberösterreich vom 5. Oktober 2016 ein Antrag der revisionswerbenden Partei auf Ausstellung eines Reisepasses mit dem Geschlechtseintrag "X" rechtskräftig abgewiesen worden sei. Im Zuge des neuerlichen Antrages vom 21. April 2017, in dem wieder der Geschlechtseintrag "X" beantragt worden sei, habe die revisionswerbende Partei angegeben, dass sie ihren Reisepass verloren hätte.
4 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht aus, dass die zu klärende Rechtsfrage, nämlich ob ein Geschlechtseintrag "X" im Reisepass zulässig sei, mit dem angeführten Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Oberösterreich rechtskräftig entschieden worden sei. "Dass nunmehr die Reisepassurkunde in Verlust gegangen wäre, (stelle) eine tatsächliche Umgestaltung (res facti non iuris) aber keine neuerlich zu beantwortende Rechtsfrage dar."
5 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. In der Zulässigkeitsbegründung wird u.a. ausgeführt, dass die revisionswerbende Partei in dem vor dem Landesverwaltungsgericht Oberösterreich abgeschlossenen Verfahren noch über einen Reisepass verfügt habe; den gegenständlichen Antrag vom 21. April 2017 habe sie jedoch im Hinblick darauf, dass sie ihren Reisepass verloren hätte und einen neuen benötige, gestellt. Es liege somit "keine idente Sache" vor.
6 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung eines Vorverfahrens - die mitbeteiligte Partei erstattete eine Revisionsbeantwortung - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 Die Revision ist zulässig und berechtigt.
8 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wurde der Antrag der revisionswerbenden Partei vom 21. April 2017 im Instanzenzug gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen. Eine inhaltliche Entscheidung über den Antrag auf Ausstellung eines Reisepasses mit dem Geschlechtereintrag "X" wurde nicht getroffen, weil dieser das Hindernis der "res iudicata" entgegengestanden sei.
9 Gemäß § 7 Passgesetz 1992 sind Pässe u.a. auf Antrag auszustellen. Die revisionswerbende Partei verfügt gemäß ihrem Vorbringen über keinen Reisepass.
10 Wie der Verwaltungsgerichtshof zum VwGVG bereits ausgesprochen hat, darf über in Rechtskraft erwachsene Entscheidungen (grundsätzlich) nicht mehr in merito entschieden werden; die Beachtung rechtskräftiger Entscheidungen zählt zu den Grundsätzen eines geordneten rechtsstaatlichen Verfahrens. Auch die Entscheidung eines Verwaltungsgerichtes wird mit ihrer Erlassung rechtskräftig, wobei alle Parteien eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens einen Rechtsanspruch auf Beachtung der eingetretenen Rechtskraft haben. Im Zusammenhang mit diesem Grundsatz ist die einschlägige Rechtsprechung zu § 68 AVG in sinngemäßer Weise heranzuziehen. Daraus ist abzuleiten, dass über ein und dieselbe Rechtssache nur einmal rechtskräftig zu entscheiden ist. Mit der Rechtskraft ist die Wirkung verbunden, dass die mit der Entscheidung unanfechtbar und unwiderruflich erledigte Sache nicht neuerlich entschieden werden kann (Wiederholungsverbot). Einer nochmaligen Entscheidung steht das Prozesshindernis der entschiedenen Sache (res iudicata) entgegen. Zudem folgt aus dem Gedanken der materiellen Rechtskraft grundsätzlich eine Bindungswirkung an eine behördliche Entscheidung (vgl. VwGH 24.5.2016, Ra 2016/03/0050, Rn. 6, mwN).
11 Bei der Prüfung des Vorliegens der entschiedenen Sache ist auch vom Verwaltungsgericht von der rechtskräftigen Vorentscheidung auszugehen, ohne deren sachliche Richtigkeit nochmals zu überprüfen. Identität der Sache liegt dann vor, wenn sich gegenüber der früheren Entscheidung weder die Rechtslage noch der wesentliche Sachverhalt geändert hat und sich das neue Parteibegehren im Wesentlichen mit dem früheren deckt (vgl. VwGH 28.4.2017, Ra 2017/03/0027, Rn. 11).
12 Bei der Prüfung, ob res iudicata vorliegt, ist auf die dem ursprünglichen Antrag von der Partei zugrunde gelegten Gründe - daher auch auf das Tatsachenvorbringen - abzustellen (vgl. VwGH 21.12.2016, Ra 2016/10/0135, 0136, Rn. 6).
13 Der Sachverhalt hat sich gemäß der Aktenlage im Vergleich zu dem mit Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Oberösterreich vom 5. Oktober 2016 abgeschlossenen Verfahren bereits insofern maßgeblich geändert, als die revisionswerbende Partei im Zusammenhang mit ihrem nunmehrigen Antrag auf Ausstellung eines Reisepasses vom 21. April 2017 vorbrachte, dass sie ihren Reisepass verloren hätte. Entgegen den Ausführungen der belangten Behörde in ihrer Revisionsbeantwortung stellt diese Sachverhaltsänderung keinen "nicht ins Gewicht fallende(n) Nebenumstand" dar, zumal die revisionswerbende Partei gemäß ihrem Vorbringen nunmehr über keinen gültigen Reisepass verfügt. Die aus der Entscheidung des Landesverwaltungsgerichtes Oberösterreich vom 5. Oktober 2016 erfließende Bindungswirkung kann nicht (auf Dauer) der Ausstellung eines Reisepasses entgegenstehen. Die Behörde wäre daher verpflichtet gewesen, über den gegenständlichen Antrag inhaltlich zu entscheiden.
14 Dies hat das Verwaltungsgericht verkannt, sodass das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.
15 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Der revisionswerbenden Partei gebührt im Umfang der Eingabegebühr nach § 24a VwGG kein Aufwandersatz, weil sie von der Entrichtung dieser Gebühr aufgrund der mit hg. Beschluss vom 19. April 2018, Ra 2018/22/0078-3, bewilligten Verfahrenshilfe befreit ist. Wien, am 9. August 2018
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