Normen
32011L0095 Status-RL;
32013L0032 IntSchutz-RL Art31 Abs2;
62016CJ0652 Ahmedbekova VORAB;
AsylG 2005 §2 Abs1 Z22;
AsylG 2005 §3 Abs1;
AsylG 2005 §34 Abs4;
AsylG 2005 §34 Abs5;
AsylG 2005 §34;
EURallg;
VwRallg;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RO2018190004.J00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, stellte gemeinsam mit seinem Sohn am 23. Jänner 2012 einen Antrag auf internationalen Schutz. Zur gleichen Zeit war bereits ein Verfahren über den Antrag auf internationalen Schutz der Ehefrau des Mitbeteiligten und zweier weiterer gemeinsamer Kinder vor dem damaligen Bundesasylamt (BAA) anhängig. Der Antrag des Mitbeteiligten wurde vom BAA mit Bescheid vom 11. April 2012, ohne in die Sache einzutreten, nach der Dublin II-Verordnung zurückgewiesen. Dies wurde letztlich vom Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 9. Oktober 2013 bestätigt. Der Mitbeteiligte verblieb jedoch im Bundesgebiet und stellte am 17. Februar 2015 einen Folgeantrag auf internationalen Schutz. Zwischenzeitlich reiste die Ehefrau aus dem Bundesgebiet aus, weshalb ihr Verfahren vom nunmehr zuständigen Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 21. April 2016 eingestellt wurde. Der Folgeantrag des Mitbeteiligten wurde vom BFA mit Bescheid vom 22. September 2016 zur Gänze abgewiesen, ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und eine Rückkehrentscheidung erlassen. Er erhob mit Schriftsatz vom 7. Oktober 2016 Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG). Am 14. November 2016 reiste die Ehefrau des Mitbeteiligten wieder in das Bundesgebiet ein, weshalb ihr Verfahren vor dem BFA am 22. Februar 2017 fortgesetzt wurde.
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis des BVwG vom 15. März 2018 wurde der Bescheid vom 22. September 2016 gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG in Verbindung mit § 34 Abs. 4 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) aufgehoben. Die ordentliche Revision wurde zugelassen. Das BVwG begründete dies mit der Direktive des § 34 AsylG 2005, nach welcher Familienverfahren unter einem zu führen seien. Das BVwG halte dieses Vorgehen aber für "fraglich", weil es dem Ziel der "Beschleunigung der Asylverfahren von Asylwerbern im Familienverband" sowie "der Straffung und Vereinfachung von Asylverfahren" entgegenstehe. Zu einer vergleichbaren Konstellation gebe es nur ein Erkenntnis des Verfassungsgerichthofes (VfGH 18.9.2015, E 1174/2014). Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehle.
3 Die nunmehr vorliegende Revision des BFA bringt in ihrer Zulässigkeitsbegründung vor, es werde der Auslegung des § 34 Abs. 4 AsylG 2005 durch den Verfassungsgerichtshof mit Bedenken begegnet. Es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu der Rechtsfrage, ob das BVwG Bescheide des BFA aufzuheben habe, wenn zu seinem Entscheidungszeitpunkt beim BFA ein weiteres Asylverfahren eines Familienangehörigen anhängig sei. Das betreffende Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes (VfGH 18.9.2015, E 1174/2014) stütze sich auf ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 9.4.2008, 2008/19/0205), dessen zugrundeliegender Sachverhalt nicht mit dem fallgegenständlichen vergleichbar sei.
4 Die vom Mitbeteiligten erhobene Revisionsbeantwortung beantragt, der Revision nicht Folge zu geben und bringt vor, die Rechtslage sei durch die Judikatur zu § 28 Abs. 2 VwGVG geklärt und der Gesetzeswortlaut völlig klar. Das rechtspolitische Ziel, Verfahren rasch durchzuführen, rechtfertige keine Interpretation des § 34 AsylG 2005 entgegen seinem Wortlaut.
5 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
6 Die Revision erweist sich als zulässig. Sie ist auch
berechtigt.
7 § 34 Abs. 4 und 5 AsylG 2005 lautet:
"§ 34 ...
(4) Die Behörde hat Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid. Ist einem Fremden der faktische Abschiebeschutz gemäß § 12a Abs. 4 zuzuerkennen, ist dieser auch seinen Familienangehörigen zuzuerkennen.
(5) Die Bestimmungen der Abs. 1 bis 4 gelten sinngemäß für das Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht."
8 Das in § 34 Abs. 4 AsylG 2005 normierte Gebot, die Verfahren von Familienmitgliedern "unter einem" zu führen, richtet sich nach dem Gesetzeswortlaut an die Behörde. Abs. 5 der zitierten Gesetzesstelle legt fest, dass die Bestimmungen der Abs. 1 bis 4 sinngemäß auch für das Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht gelten, wodurch sichergestellt wird, dass die Verfahren von jenen Familienmitgliedern, die beim BVwG anhängig sind, auch gemeinsam entschieden werden (vgl. dazu VwGH 9.4.2008, 2008/19/0205). Dem Gesetz ist jedoch keine Anordnung zu entnehmen, dass sämtliche Verfahren im Familienverband, die bereits in verschiedenen Instanzen anhängig sind, ebenfalls unter einem geführt werden müssen.
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung bereits dargelegt, dass § 34 AsylG 2005 der Beschleunigung der Asylverfahren von Asylwerbern im Familienverband dient. Ziel der Bestimmungen ist es, Familienangehörigen (im Sinn des § 2 Abs. 1 Z 22 AsylG 2005) den gleichen Schutz zu gewähren, ohne sie um ihr Verfahren im Einzelfall zu bringen (vgl. etwa VwGH 24.10.2018, Ra 2018/14/0040 bis 0044; 30.4.2018, Ra 2017/01/0418; 24.3.2015, Ra 2014/19/0063).
10 Den genannten Zweck bringen auch die Materialien zum Fremdenrechtspaket 2005 (BGBl. I Nr. 100/2005) unmissverständlich zum Ausdruck. Dort wird zu § 34 AsylG 2005 (auszugsweise) festgehalten (RV 952 BlgNR 22. GP , 54):
"Der vorgeschlagene § 34 - er entspricht im Wesentlichen dem § 10 AsylG 1997 - dient der Beschleunigung der Asylverfahren von Asylwerbern im Familienverband; das durch die AsylG-Nov 2003 geschaffene Regelungssystem ersetzt die so genannte ‚Asylerstreckung'.
Die Bestimmungen des § 34 sind auf die Ehegatten und minderjährigen, unverheirateten Kinder eines Asylberechtigten oder eines Asylwerbers oder sonst Schutzberechtigten anzuwenden; deren Antrag auf internationalen Schutz wird ex-lege als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes nach den Bestimmungen des § 34 zu behandeln sein.
Ziel der Bestimmungen ist Familienangehörigen (§ 2 Z 22) den gleichen Schutz zu gewähren, ohne sie um ihr Verfahren im Einzelfall zu bringen. Wenn einem Familienmitglied der Status eines Asylberechtigten zuerkannt wird, soll dieser allen anderen Familienmitgliedern - im Falle von offenen Verfahren zur gleichen Zeit von der gleichen Behörde - zuerkannt werden. (...)
Die Asylverfahren einer Familie sind unter einem zu führen, wobei jeder Antrag auf internationalen Schutz gesondert zu prüfen ist; es erhalten alle Familienmitglieder einen eigenen Bescheid, mit dem über die Asylgewährung oder über die subsidiäre Schutzgewährung abgesprochen wird. Jener Schutzumfang, der das stärkste Recht gewährt, ist auf alle Familienmitglieder anzuwenden. Das gemeinsame Führen der Verfahren hat den Vorteil, dass möglichst zeitgleich über die Berechtigungen, die Österreich einer Familie gewährt, abgesprochen wird. Diese Vereinfachung und Straffung der Verfahren wird auch im Berufungsverfahren fortgesetzt. (...)"
11 Auch die Erläuterungen zu § 10 Asylgesetz 1997 idF der AsylG-Novelle 2003 führen den genannten Zweck ausdrücklich als Grund für ihre Schaffung ins Treffen (RV 120 BlgNR 22. GP , 15):
"Der vorgeschlagene § 10 dient der Beschleunigung der Asylverfahren von Asylwerbern im Familienverband und ersetzt die sogenannte ‚Asylerstreckung'. Die Bestimmungen des § 10 sind auf die Ehegatten und minderjährigen, unverheirateten Kinder eines Asylwerbers oder sonst Schutzberechtigten anzuwenden. (...) Die Asylverfahren einer Familie sind unter einem zu führen, wobei jeder Asylantrag gesondert zu prüfen ist; es erhalten alle Familienmitglieder einen eigenen Bescheid, mit dem über die Asylgewährung oder über die subsidiäre Schutzgewährung abgesprochen wird. Jener Schutzumfang, der das stärkste Recht gewährt, ist auf alle Familienmitglieder anzuwenden. Das gemeinsame Führen der Verfahren hat den Vorteil, dass - wenn möglich zeitgleich - über die Berechtigungen, die Österreich einer Familie gewährt, abgesprochen wird. Diese Vereinfachung und Straffung der Verfahren wird auch im Berufungsverfahren fortgesetzt. (...)"
12 Aus den Materialien ist ersichtlich, dass der Gesetzgeber bei der Normierung, dass die Verfahren von Familienangehörigen unter einem zu führen sind, in § 34 Abs. 4 AsylG 2005 jene Fälle vor Augen hatte, bei denen die Anträge aller Familienangehörigen zur selben Zeit oder zumindest zeitnahe gestellt und damit auch weitgehend zeitgleich von derselben Behörde bearbeitet werden können. Diese gemeinsame Verfahrensführung vor dem BFA soll sich weiters nach den Vorstellungen des Gesetzgebers im Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht fortsetzen.
13 Dem Ziel der Beschleunigung von Asylverfahren im Familienverband dient es demgegenüber nicht, wenn die jeweiligen Verfahren auch in jenen Fällen zwingend gemeinsam bei derselben Behörde geführt werden müssten, in denen Asylanträge von einzelnen Familienangehörigen erst gestellt werden, wenn das Verfahren eines oder mehrerer Familienmitglieder bereits vom BFA abgeschlossen wurde und in der Folge - aufgrund einer Beschwerde - beim Bundesverwaltungsgericht anhängig ist. Wie die Amtsrevision zu Recht anmerkt, würde dies den Zweck des § 34 Abs. 4 AsylG 2005 ins Gegenteil verkehren und bspw. bei der späteren Antragstellung nachgeborener Kinder zu Asylverfahren führen, die über einen längeren Zeitraum hinweg nicht rechtskräftig abgeschlossen werden könnten.
14 Auch der Gerichtshof der Europäischen Union hat sich jüngst in einem Urteil ua mit der Vereinbarkeit der Statusrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU ) und der Verfahrensrichtlinie (Richtlinie 2013/32/EU ) mit verschiedenen Fragen in Bezug auf Familienverfahren beschäftigt und dabei festgehalten, dass nach dem in Art. 31 Abs. 2 der Verfahrensrichtlinie aufgestellten Grundsatz die Verfahren zur Prüfung von Anträgen auf internationalen Schutz so rasch wie möglich bearbeitet werden müssen und zum Abschluss zu bringen sind, wobei es nicht zulässig sei, die Prüfung eines Antrages eines Familienmitgliedes bis zum Abschluss des Verfahrens zur Prüfung eines Antrages eines anderen Familienmitgliedes auszusetzen (EuGH 4.10.2018, C-652/16 , Ahmedbekova, Rn 60). Auch der unionsrechtliche Grundsatz der Verfahrensbeschleunigung spricht gegen die Aufhebung einer Entscheidung des BFA nur aus dem Grund, dass vor dem BFA das Verfahren eines Familienangehörigen anhängig ist.
15 Vor diesem Hintergrund schließt sich der Verwaltungsgerichtshof der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes in dem vom BVwG zitierten Erkenntnis (VfGH 18.9. 2015, E 1174/2014) nicht an. § 34 Abs. 4 AsylG 2005 ist vielmehr dahingehend auszulegen, dass eine gemeinsame Führung der Verfahren nur dann zu erfolgen hat, wenn diese gleichzeitig beim BFA oder gleichzeitig im Beschwerdeverfahren beim Bundesverwaltungsgericht anhängig sind. Ist wie im vorliegenden Fall über den Antrag der mitbeteiligten Partei seitens des BFA bereits entschieden worden, ist § 34 Abs. 4 AsylG 2005 im Verfahren der Ehefrau vor dem BFA bzw. im Verfahren der mitbeteiligten Partei vor dem BVwG insoweit nicht anwendbar, als diese Verfahren nicht unter einem zu führen sind.
16 Erkennt das BFA der Ehefrau einen Schutzstatus zu, kann die mitbeteiligte Partei aufgrund dieser neu entstandenen Tatsache gestützt auf § 34 Abs. 1 AsylG 2005 einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz stellen, weil in diesem Fall hinsichtlich § 34 Abs. 2 und 3 AsylG 2005 keine entschiedene Sache vorliegt. Damit wird dem Ziel des § 34 Abs. 4 AsylG 2005, allen Familienangehörigen denselben Schutzstatus zu gewähren, entsprochen.
17 Bestätigt das BVwG den Bescheid des BFA hinsichtlich der Nichtgewährung von Asyl und subsidiären Schutz mit Erkenntnis, bevor das Verfahren der Ehefrau abgeschlossen ist, hat das BVwG allerdings unter dem Blickwinkel des durch Art. 8 EMRK geschützten Familienlebens zu prüfen, ob die gegen die mitbeteiligte Partei erlassene Rückkehrentscheidung sowie die darauf aufbauenden Aussprüche aus überwiegenden öffentlichen Interessen geboten sind und die Familie eine vorübergehende, ihnen zuzumutende Trennung in Kauf nehmen müsste (vgl. VwGH 28.4.2015, Ra 2014/18/0146). Der Ehefrau kommt nämlich auf Grund des anhängigen Asylverfahrens ein faktischer Abschiebeschutz nach § 12 Abs. 1 AsylG 2005 zu, wodurch eine Abschiebung der mitbeteiligten Partei einen unzulässigen Eingriff in ihr Familienleben gemäß Art. 8 EMRK darstellen könnte.
18 Das angefochtene Erkenntnis ist nach dem Gesagten daher mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.
Wien, am 15. November 2018
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