Normen
ASVG §330a idF 2017/I/125
ASVG §707a Abs2 idF 2017/I/125
AVG §56
B-VG Art133 Abs4
SHG NÖ 2000 §46
SHG NÖ 2000 §46 Abs2 Z3
SHG NÖ 2000 §47
SHG NÖ 2000 §47 Abs2 Z3
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §27
VwRallg
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018100062.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Begründung
I.
1 1. Mit Bescheid vom 14. November 2017 verpflichtete die belangte Behörde den Mitbeteiligten gemäß § 37 Abs. 1 Z 1 und § 38 Abs. 1 Z 2 NÖ Sozialhilfegesetz 2000 - NÖ SHG zum Ersatz von für diesen im Zeitraum vom 18. August 2015 bis 11. September 2017 entstandenen Sozialhilfekosten in der Höhe von EUR 70.784,68.
2 Dem legte die belangte Behörde zugrunde, der Mitbeteiligte befinde sich "auf Kosten der Sozialhilfe des Landes Niederösterreich in der Lebenshilfe Niederösterreich (Werkstätte Felixdorf und Wohngemeinschaft Wiener Neustadt)". Da der Mitbeteiligte Vermögenswerte im Gesamtbetrag von EUR 116.025,03 habe, sei er zum Kostenersatz im Umfang der offenen Sozialhilfekosten von EUR 70.784,86 zu verpflichten.
3 2. Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 11. Jänner 2018 behob das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich diesen Bescheid ersatzlos und stellte das "Verfahren zur Geltendmachung des Ersatzanspruches" ein, wobei es die Revision nicht zuließ.
4 Das Verwaltungsgericht stützte seine Entscheidung auf die Verfassungsbestimmungen der §§ 330a und 707a Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz - ASVG (idF BGBl. I Nr. 125/2017) und führte begründend lediglich aus, dem (von der belangten Behörde auferlegten) Kostenersatz liege die "Unterbringung des (Mitbeteiligten) in der Lebenshilfe Niederösterreich (Werkstätte Felixdorf und Wohngemeinschaft Wiener Neustadt) und somit in einer stationären Pflegeeinrichtung" zugrunde. Damit gelange § 330a ASVG zur Anwendung, weshalb ohne weiteres Verfahren der bekämpfte Bescheid zu beheben und das Verfahren einzustellen sei.
5 3. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision der Niederösterreichischen Landesregierung.
6 Der Mitbeteiligte hat eine Revisionsbeantwortung erstattet, in der er die Zurückweisung, in eventu Abweisung der Revision beantragt.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
7 1. Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
8 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
9 2. Zur Begründung der Zulässigkeit der Revision führt die Revisionswerberin zum einen - im Kern - aus, es fehle hg. Rechtsprechung dazu, ob eine bereits vor dem 31. Dezember 2017 bescheidmäßig ausgesprochene Kostenersatzverpflichtung nach § 707a Abs. 2 ASVG ab dem 1. Jänner 2018 unter Einstellung des Verfahrens behoben werden dürfe.
10 Damit zeigt die Revisionswerberin die Zulässigkeit der Revision nicht auf: Wie der Gerichtshof bereits ausgesprochen hat, steht die Auffassung des Verwaltungsgerichtes, § 707a Abs. 2 ASVG verpflichte ab dem 1. Jänner 2018 - bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 330a ASVG - zur Einstellung laufender Verfahren zur Geltendmachung der darin genannten Ersatzansprüche (und zwar auch im Stadium des Beschwerdeverfahrens vor einem Verwaltungsgericht), in Einklang mit dem insoweit eindeutigen Gesetzeswortlaut (vgl. VwGH 8.8.2018, Ra 2018/10/0076 (Rz 14)).
11 3. Im Weiteren bringt die Revision zu ihrer Zulässigkeit vor, als grundsätzliche Rechtsfrage sei zu klären, ob unter den Begriff der "stationären Pflegeeinrichtungen" gemäß § 330a ASVG auch stationäre Betreuungseinrichtungen mit Teilzeitbetreuungsformen für Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu subsumieren seien.
12 Der Mitbeteiligte habe vorliegend (jedenfalls während eines Teils des gegenständlichen Zeitraumes) Hilfe zur sozialen Eingliederung in Form des Aufenthaltes in einer Tagesstätte und des teilzeitbetreuten Aufenthaltes in einer Wohngemeinschaft in Anspruch genommen. Dies habe das Verwaltungsgericht zu Unrecht - ohne Feststellungen zur Dauer und Art der im gegenständlichen Leistungszeitraum konkret vorliegenden Betreuungsformen zu treffen - als Aufenthalt in einer "stationären Pflegeeinrichtung" im Sinn des § 330a ASVG angesehen.
13 4. Die Revision erweist sich mit Blick auf dieses Vorbringen als zulässig. Sie ist auch berechtigt.
14 4.1. Die vorliegend maßgeblichen Bestimmungen der §§ 330a und 707a Abs. 2 ASVG (BGBl. Nr. 189/1955 idF BGBl. I Nr. 125/2017) lauten wie folgt:
"Verbot des Pflegeregresses
§ 330a. (Verfassungsbestimmung) Ein Zugriff auf das Vermögen von in stationären Pflegeeinrichtungen aufgenommenen Personen, deren Angehörigen, Erben/Erbinnen und Geschenknehmer/inne/n im Rahmen der Sozialhilfe zur Abdeckung der Pflegekosten ist unzulässig.
(...)
Weitere Schlussbestimmungen zu Art. 1 des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 125/2017
§ 707a. (1) (...)
(2) (Verfassungsbestimmung) § 330a samt Überschrift in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 125/2017 tritt mit 1. Jänner 2018 in Kraft. Ab diesem Zeitpunkt dürfen Ersatzansprüche nicht mehr geltend gemacht werden, laufende Verfahren sind einzustellen. Insoweit Landesgesetze dem entgegenstehen, treten die betreffenden Bestimmungen zu diesem Zeitpunkt außer Kraft. Nähere Bestimmungen über den Übergang zur neuen Rechtslage können bundesgesetzlich getroffen werden. Die Durchführungsverordnungen zu einem auf Grund dieser Bestimmung ergehenden Bundesgesetz sind vom Bund zu erlassen."
15 In den Blick zu nehmen sind außerdem folgende Bestimmungen des NÖ Sozialhilfegesetz 2000 - NÖ SHG, LGBl. 9200-0 idF LGBl. Nr. 63/2017:
"Hilfen für Menschen mit besonderen Bedürfnissen
§ 24
Zielgruppen
(1) Menschen mit besonderen Bedürfnissen sind Personen, die auf Grund einer wesentlichen körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigung oder einer Beeinträchtigung der Sinne nicht in der Lage sind, aus eigener Kraft zu einer selbständigen Lebensführung zu gelangen oder diese beizubehalten.
(2) Die in Abs. 1 bezeichneten Menschen sind hilfebedürftige Menschen im Sinne dieses Gesetzes, wenn sie in einem lebenswichtigen sozialen Beziehungsfeld mindestens 6 Monate wesentlich beeinträchtigt sind oder wenn auf Grund einer konkreten Störung von Lebensfunktionen eine solche Beeinträchtigung in absehbarer Zeit droht und diese nicht altersbedingt ist.
Lebenswichtige soziale Beziehungsfelder sind die Bereiche Erziehung, Schulbildung, Beschäftigung, Wohnen, Betreuung und Pflege.
(...)
Kostenersatz und Anspruchsübertragung
§ 37
Kostenersatzverpflichtete
(1) Für die Kosten von Sozialhilfemaßnahmen, auf die ein Rechtsanspruch besteht, haben Ersatz zu leisten:
1. der Hilfeempfänger,
(...)
§ 38
Ersatz durch den Hilfeempfänger
(1) Der Hilfeempfänger ist zum Ersatz der für ihn
aufgewendeten Kosten verpflichtet, wenn
1. er zu hinreichendem Einkommen gelangt oder
2. nachträglich bekannt wird, dass er zur Zeit der
Hilfeleistung hinreichendes Einkommen hatte.
(...)
§ 46
Teilstationäre Dienste
(1) Teilstationäre Dienste sind Einrichtungen zur Unterbringung, Betreuung und Aktivierung von pflegebedürftigen Menschen oder Menschen mit besonderen Bedürfnissen während eines Teiles des Tages oder während der Nachtzeit.
(2) Teilstationäre Dienste umfassen insbesondere:
1. Geriatrische Tageszentren,
2. Tagesstätten für ältere Menschen und
3. Tagesstätten für Menschen mit besonderen Bedürfnissen.
§ 47
Stationäre Dienste
(1) Stationäre Dienste sind Einrichtungen zur dauernden Unterbringung, Versorgung, aktivierenden Betreuung und Pflege überwiegend betagter Menschen oder Menschen mit besonderen Bedürfnissen sowie Menschen in außerordentlichen Notsituationen, die nicht oder nicht mehr in der Lage sind, selbstständig einen eigenen Haushalt zu führen und denen die notwendige Hilfe weder im familiären Bereich noch durch teilstationäre oder ambulante Dienste ausreichend oder zufrieden stellend geboten wird (werden kann).
(2) Stationäre Dienste umfassen:
(...)
3. Wohnhäuser und Wohnformen für Menschen mit besonderen Bedürfnissen (§ 24),
(...)
(3) Stationäre Dienste sind auch Einrichtungen zur Kurzzeitunterbringung. Diese umfasst insbesondere Kurzzeitbetreuung, Kurzzeitpflege oder Übergangspflege."
16 4.2. § 330a ASVG stellt auf in "stationären Pflegeeinrichtungen" aufgenommene Personen ab.
17 Dem angefochtenen Erkenntnis liegt die Auffassung zugrunde, die Unterbringung des Mitbeteiligten "in der Lebenshilfe Niederösterreich", nämlich in der "Werkstätte Felixdorf" und der "Wohngemeinschaft Wiener Neustadt", sei - ohne Weiteres - eine Unterbringung in einer "stationären Pflegeeinrichtung" im Sinn dieser Bestimmung.
18 Dies trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu. 19 Wie bereits die Revisionswerberin zutreffend ausführt, ist
dem Gesetz eine Legaldefinition der "stationären Pflegeeinrichtung" nicht zu entnehmen. Auszugehen ist davon, dass der Begriff der stationären Pflegeeinrichtung schon nach seinem Wortlaut nicht auf Pflegeheime für betagte oder kranke Personen beschränkt ist. Allerdings ist für die in § 330a ASVG angesprochene Aufnahme in einer "stationären Pflegeeinrichtung" erforderlich, dass die davon - etwa auch wegen einer Behinderung (vgl. etwa Pfeil, ÖZPR 2017, 184 (185), oder Weißensteiner, DRdA-nfas 2018, 56 (57)) - betroffenen Personen dort dauernd (Tag und Nacht; arg. "stationär") untergebracht sind und Pflege- und Betreuungsleistungen erhalten (vgl. etwa Müllner, JRP 2017, 182 (190)).
20 4.3. Die Aufnahme in einer "stationären Pflegeeinrichtung" in diesem Sinn ist daher im Fall der ausschließlichen Inanspruchnahme eines "teilstationären Dienstes" gemäß § 46 NÖ SHG, wie beispielsweise einer Tagesstätte für Menschen mit besonderen Bedürfnissen (§ 46 Abs. 2 Z 3 NÖ SHG), zu verneinen. Bei "stationären Diensten" (vgl. § 47 NÖ SHG), etwa im Fall eines Wohnhauses oder einer Wohnform für Menschen mit besonderen Bedürfnissen (vgl. § 47 Abs. 2 Z 3 NÖ SHG), kommt hingegen - bei entsprechender Pflege und Betreuung der darin dauernd untergebrachten Person - eine Qualifikation als "stationäre Pflegeeinrichtungen" im Sinn des § 330a ASVG in Betracht.
21 4.4. Im angefochtenen Erkenntnis hat das Verwaltungsgericht allerdings bereits wegen des Umstandes der Unterbringung des Mitbeteiligten in Einrichtungen der Lebenshilfe Niederösterreich (einer Werkstätte und einer Wohngemeinschaft) allein dessen Aufnahme in einer "stationären Pflegeeinrichtung" im Sinn des § 330a ASVG angenommen und - ausgehend von dieser unrichtigen Rechtsauffassung - zum Aufenthalt des Mitbeteiligten in diesen Einrichtungen und den darin von ihm (insgesamt) in Anspruch genommenen Pflege- und Betreuungsleistungen keinerlei Feststellungen getroffen.
22 5. Damit hat das Verwaltungsgericht das angefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, weshalb dieses gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.
Wien, am 29. November 2018
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