Normen
AVG §57
RAO 1868 §16 Abs4
RAO 1868 §26 Abs5
StPO 1975 §285 Abs2
VwGG §21 Abs1 Z4
VwGG §63
VwRallg
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017030061.L00
Spruch:
1. beschlossen:
Die Revision des Erstrevisionswerbers wird zurückgewiesen.
Der Erstrevisionswerber hat der Rechtsanwaltskammer Tirol Aufwendungen in der Höhe von € 553,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
2. zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird aufgrund der Revision der zweitrevisionswerbenden Partei wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Der Antrag der zweitrevisionswerbenden Partei auf Aufwandersatz wird abgewiesen.
Begründung
1 Mit Eingabe vom 4. Dezember 2014 beantragte der Erstrevisionswerber unter Übermittlung eines Kostenverzeichnisses für die in einer bestimmten Strafsache beim Landesgericht Innsbruck erbrachten anwaltlichen Leistungen gemäß § 16 Abs. 4 RAO in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 159/2013 eine Vergütung in Höhe von € 189.839,05 (brutto).
2 Mit Bescheid vom 11. Juni 2015 bestimmte die Abteilung 1 des Ausschusses der Tiroler Rechtsanwaltskammer die Vergütung des Erstrevisionswerbers mit € 26.373,60 (brutto). Das Mehrbegehren von € 163.465,45 (brutto) wurde abgewiesen. In der dagegen gerichteten Vorstellung vom 6. Juli 2015 bezifferte der Erstrevisionswerber die von ihm begehrte Vergütung (abzüglich des bereits erfolgten Zuspruchs) ‑ unter detaillierter Darlegung der von ihm verzeichneten Leistungen und der ihm dafür nach seiner Ansicht gebührenden angemessenen Vergütung ‑ nur mehr mit € 44.764,59. Die zweitrevisionswerbende Partei gab der Vorstellung mit Bescheid vom 26. November 2015 keine Folge.
3 Die zweitrevisionswerbende Partei legte ihrer Entscheidung zugrunde, dass der Erstrevisionswerber am 22. Oktober 2013 als Verfahrenshelfer bestellt wurde. Beginnend mit der ersten Hauptverhandlung am 28. Oktober 2013 habe er bis zur Urteilsverkündung in erster Instanz am 6. Dezember 2013 insgesamt 8 Verhandlungstage bzw. 33,5 Verhandlungsstunden verrichtet, sodass damit der gesetzlich normierte Schwellenwert von zehn Verhandlungstagen bzw. 50 Verhandlungsstunden für einen Anspruch auf Sonderpauschalvergütung nicht erreicht worden sei. Mit Beschluss des Landesgerichts Innsbruck sei die Frist zur Ausführung des angemeldeten Rechtsmittels um insgesamt 13 Wochen verlängert worden; der Erstrevisionswerber habe am 2. Juni 2014 die Ausführung der Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung eingebracht. Aufgrund der gesetzlichen Bestimmung, wonach die Verlängerung der Rechtsmittelfrist in Ansehung jeder vollen Woche, um die die Rechtsmittelfrist verlängert wurde, der Teilnahme an zehn Verhandlungsstunden gleichzuhalten sei, habe der Erstrevisionswerber innerhalb eines Jahres ab Verrichtung der ersten Hauptverhandlung als Verfahrenshelfer den gesetzlich vorgesehenen Schwellenwert von zehn Verhandlungstagen bzw. 50 Verhandlungsstunden überschritten. Der Erstrevisionswerber habe in seinem Antrag auf Sonderpauschalvergütung Kosten für die von ihm tatsächlich erbrachten Verhandlungsstunden sowie zusätzlich für „fiktive“ 130 Verhandlungsstunden verzeichnet, also auch für die 50 Verhandlungsstunden, die unterhalb des gesetzlichen Schwellenwertes liegen. Eine Honorierung komme jedoch nur für die Leistungen in Betracht, die nach Überschreitung des Schwellenwertes lägen. Die Berechnungsformel des § 16 Abs. 4 zweiter Satz RAO sei nur für die Beurteilung, ob der Schwellenwert überschritten worden sei, anzuwenden, nicht aber für die Bemessung der Leistungsvergütung (für das Verfassen des Rechtsmittels). Der vom Erstrevisionswerber gewählten Abrechnungsmethode, pro Verlängerungswoche der Rechtsmittelfrist zehn Verhandlungsstunden zu verrechnen, könne daher nicht gefolgt werden, vielmehr sei eine angemessene Vergütung der Rechtsmittelschrift vorzunehmen.
4 In seiner gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde vom 9. Februar 2016 beantragte der Erstrevisionswerber die Abänderung des Bescheides der zweitrevisionswerbenden Partei insofern, als ihm an Sonderpauschalvergütung ein weiterer Betrag von € 44.764,59 zugesprochen werden möge. Dies begründete er im Wesentlichen damit, dass die Verlängerung der Rechtsmittelfrist um 13 Wochen 130 Verhandlungsstunden gleichzuhalten sei; damit seien daher, unter Berücksichtigung der verrichteten 33 Verhandlungsstunden, 163 Verhandlungsstunden anzunehmen; die Sondervergütungsgrenze werde um 113 Stunden überschritten. Daher seien alle tatsächlich erbrachten Leistungen (Gegenäußerung zur Anklageschrift, 33 Verhandlungsstunden, Rechtsmittelausführung, Gegenausführung, etc.) angemessen zu vergüten; zudem sei dem Erstrevisionswerber auch ein Erfolgszuschlag gemäß § 12 AHK von 30% zu gewähren.
5 Mit Eingabe an das Verwaltungsgericht vom 13. Februar 2017 erklärte der Erstrevisionswerber eine „Ausdehnung der Beschwerde“ und beantragte die Abänderung des Bescheides der zweitrevisionswerbenden Partei insofern, als ihm über den bereits zugesprochenen Betrag von € 26.373,60 ein weiterer Betrag von € 163.465,45, mindestens aber ein weiterer Betrag von € 44.764,59, zugesprochen werden möge.
6 Der Beschwerde des Erstrevisionswerbers wurde vom Verwaltungsgericht mit dem in Revisionen gezogenen Erkenntnis insofern Folge gegeben, als dem Erstrevisionswerber „neben der bereits mit Bescheid des Ausschusses der Tiroler Rechtsanwaltskammer, Abteilung 1, vom 11.06.2015 zu VS 13‑0798 F zugesprochenen Vergütung gemäß § 16 Abs 4 RAO für seine in der Strafsache [...] des Landesgerichtes Innsbruck“ erbrachten anwaltlichen Leistungen in der Höhe von € 26.373,60 (brutto) weitere € 24.290,60 (brutto) zugesprochen wurden. Das Mehrbegehren wurde abgewiesen. Die ordentliche Revision wurde für unzulässig erklärt.
7 Zur Abweisung des Mehrbegehrens hielt das Verwaltungsgericht fest, dass es sich bei der Vorstellung um ein aufsteigendes Rechtsmittel handle und eine Vergleichbarkeit mit der Vorstellung nach § 57 Abs. 2 AVG nicht gegeben sei. Der Bescheid der Abteilung des Ausschusses der Tiroler Rechtsanwaltskammer vom 11. Juni 2015 sei daher durch die Erhebung der Vorstellung nicht außer Kraft getreten. Auf Grund des Umstandes, dass dieser Bescheid nur teilweise angefochten worden sei, sei hinsichtlich des nicht bekämpften Teiles Rechtskraft eingetreten. Insofern sei es nicht zulässig gewesen, die Beschwerde dahingehend auszudehnen, als nunmehr ein Betrag von € 163.465,45 gefordert werde.
Den weiteren Zuspruch von € 24.290,60 begründete das Verwaltungsgericht unter Verweis auf die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom 18. Mai 2010, 2009/06/0263, und vom 19. September 2013, 2011/01/0146 (die auf § 16 Abs. 4 RAO in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 111/2007 Bezug nehmen), damit, dass die spätere, aber ebenfalls noch innerhalb der Jahresfrist erfolgende Ausführung eines Rechtsmittels, für das das Gericht eine Verlängerung der Ausführungsfrist beschlossen hat, dazu führe, dass für die früheren, bereits als „sondervergütungsfrei“ feststehenden Verhandlungsleistungen nachträglich doch ein Anspruch auf Sondervergütung entstehe. Die ordentliche Revision sei deswegen nicht zulässig, weil zur Frage, ab welchem Zeitpunkt bzw. für welche Leistungen eines Verfahrenshelfers eine Vergütung nach § 16 Abs. 4 RAO zuzusprechen sei, bereits die vorzitierten Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes ergangen seien.
8 Gegen dieses Erkenntnis richten sich die außerordentlichen Revisionen, über die der Verwaltungsgerichtshof das Vorverfahren eingeleitet und die er zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbunden hat. Der Erstrevisionswerber hat zur Revision der zweitrevisionswerbenden Partei, die zweitrevisionswerbende Partei hat zur Revision des Erstrevisionswerbers jeweils eine Revisionsbeantwortung erstattet.
9 Der Erstrevisionswerber führt zur Zulässigkeit der Revision zusammengefasst aus, dass das Verwaltungsgericht von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen sei, wenn es die Auffassung vertrete, dass der Bescheid der Abteilung des Ausschusses der Tiroler Rechtsanwaltskammer in Rechtskraft erwachse.
10 Dazu ist festzuhalten, dass es sich entgegen der vom Verwaltungsgericht vertretenen Auffassung bei der in § 26 Abs. 5 RAO normierten Vorstellung nicht um ein aufsteigendes Rechtsmittel handelt. Die Vorstellung dient vielmehr ‑ vergleichbar der Vorstellung gegen Mandatsbescheide nach § 57 AVG ‑ dazu, auf der Grundlage des unter Wahrung des Parteiengehörs ermittelten Sachverhalts bescheidmäßig neu zu entscheiden. Dabei ist im Vorstellungsbescheid grundsätzlich auszusprechen, ob die Entscheidung der Abteilung des Ausschusses aufrecht bleibt oder ob sie behoben (beseitigt) oder abgeändert wird. Prozessgegenstand des Verfahrens über die Vorstellung ist somit der Bescheid der Abteilung des Ausschusses; dieser ist in jeder Richtung auf seine Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit zu überprüfen (VwGH 27.1.2016, Ro 2015/03/0044).
11 Dies ändert für den vorliegenden Fall jedoch nichts daran, dass der Erstrevisionswerber in der von ihm erhobenen Vorstellung gegen den Bescheid der Abteilung 1 des Ausschusses der Tiroler Rechtsanwaltskammer die von ihm begehrte angemessene Vergütung mit einem niedrigeren Betrag ansetzte als in seinem ursprünglichen Antrag vom 4. Dezember 2014 und diesen Antrag damit entsprechend modifiziert hat. Die zweitrevisionswerbende Partei hatte damit nicht mehr über den ursprünglich gestellten Antrag auf eine Vergütung in der Höhe von insgesamt € 189.839,05 zu entscheiden, sondern über den modifizierten Antrag auf eine Vergütung von insgesamt € 71.138,19 (neben dem zunächst von der Abteilung 1 des Ausschusses der Rechtsanwaltskammer Tirol zugesprochenen Betrag von € 26.373,60 der in der Vorstellung darüber hinaus begehrte weitere Betrag in der Höhe von € 44.764,59). Sache des Verwaltungsverfahrens vor der zweitrevisionswerbenden Partei war damit nur mehr der vom Erstrevisionswerber zuletzt ‑ eingeschränkt in der Vorstellung gegen den Bescheid der Abteilung 1 des Ausschusses der Tiroler Rechtsanwaltskammer ‑ geltend gemachte Vergütungsanspruch von € 71.138,19.
12 Vor diesem Hintergrund kommt es für die Entscheidung über die Revision auf die vom Erstrevisionswerber in der Begründung der Zulässigkeit der Revision angesprochene Abweichung von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Hinblick auf die vom Verwaltungsgericht angenommene Teilrechtskraft des Bescheides der Abteilung 1 des Ausschusses der Tiroler Rechtsanwaltskammer nicht an, sodass die Revision mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 34 Abs. 1 VwGG in einem gemäß § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat zurückzuweisen war.
13 Die zweitrevisionswerbende Partei hat in ihrer Revisionsbeantwortung einen Antrag auf Zuerkennung von Schriftsatzaufwand erstattet. Zwar hat die zweitrevisionswerbende Partei selbst gegen das angefochtene Erkenntnis Revision erhoben; sie hat diese Revision jedoch auf andere Revisionsgründe gestützt und vertritt in ihrer Revision eine der Rechtsansicht des Erstrevisionswerbers entgegengesetzte Rechtsansicht. Damit liegt hier nicht der Fall vor, dass die zweitrevisionswerbende Partei gleichgerichtete rechtliche Interessen wie der Erstrevisionswerber vertritt oder sich dessen Revision gewissermaßen „angeschlossen“ hat. Vielmehr vertreten die revisionswerbenden Parteien in ihren Revisionen jeweils rechtlich geschützte Interessen im Widerspruch zur Interessenlage des jeweils anderen Revisionswerbers, sodass sie auch als Mitbeteiligte zur Revision des jeweils anderen Revisionswerbers anzusehen sind (vgl. e contrario, etwa VwGH 20.7.2016, Ro 2015/22/0055). Dies ergibt sich schon daraus, dass im Falle einer Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses das Verwaltungsgericht gemäß § 63 VwGG verpflichtet ist, den der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechenden Rechtszustand herzustellen, was in einem Fall wie dem vorliegenden dazu führen würde, dass bei Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses unter Zugrundelegung der vom Erstrevisionswerber vorgebrachten Rechtsauffassung das Verwaltungsgericht an diese ‑ den rechtlichen Interessen der zweitrevisionswerbenden Partei entgegengesetzte ‑ Rechtsauffassung gebunden wäre.
14 Der Rechtsanwaltskammer Tirol als Rechtsträgerin der zweitrevisionswerbenden Partei war daher Aufwandersatz für den Schriftsatzaufwand gemäß § 47 ff, insbesondere § 51 VwGG, in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014, zuzuerkennen.
15 Die zweitrevisionswerbende Partei begründet die Zulässigkeit der Revision im Wesentlichen damit, dass es zu § 16 Abs. 4 sechster Satz RAO in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 159/2013 noch keine Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes gebe. Die Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung bestehe darin, ob ein Verfahrenshelfer, der in einem Strafverfahren in einem Jahr weniger als zehn Verhandlungstage bzw. 50 Verhandlungsstunden verrichtet hat und dem gemäß § 285 StPO die Rechtsmittelfrist verlängert wurde, einen Anspruch auf Sonderpauschalvergütung für die Tätigkeiten erwerbe, die er vor Erreichung der Sonderpauschalvergütungsgrenze erbracht habe.
Über die von der zweitrevisionswerbenden Partei erhobene Revision, die sich aus dem darin dargelegten Grund als zulässig erweist, hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen:
16 § 16 Abs. 4 der Rechtsanwaltsordnung, RGBl. Nr. 96/1868, in der im Revisionsfall maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 159/2013 (RAO), lautet:
„In Verfahren, in denen der nach den §§ 45 oder 45a bestellte Rechtsanwalt innerhalb eines Jahres mehr als zehn Verhandlungstage oder insgesamt mehr als 50 Verhandlungsstunden tätig wird, hat er unter den Voraussetzungen des Abs. 3 für alle jährlich darüber hinausgehenden Leistungen an die Rechtanwaltskammer Anspruch auf eine angemessene Vergütung. Auf Antrag des Rechtsanwalts ist bei Verfahren, in denen das Gericht unter Heranziehung von § 285 Abs. 2 StPO eine Verlängerung der Frist zur Ausführung des Rechtsmittels beschließt, die Tätigkeit zur Erstellung der Rechtsmittelschrift in Ansehung jeder vollen Woche, um die die Rechtsmittelfrist verlängert wurde, der Teilnahme an zehn Verhandlungsstunden gleichzuhalten. Der Antrag auf Vergütung ist vom Rechtsanwalt bei sonstigem Ausschluss bis spätestens zum 31. März des auf das abgelaufene Kalenderjahr, in dem der Rechtsanwalt seine Leistungen erbracht hat, folgenden Jahres bei der Rechtsanwaltskammer einzubringen. Auf diese Vergütung ist dem Rechtsanwalt auf sein Verlangen nach Maßgabe von Vorschußzahlungen nach § 47 Abs. 5 letzter Satz von der Rechtsanwaltskammer ein angemessener Vorschuß zu gewähren. Über die Höhe der Vergütung sowie über die Gewährung des Vorschusses und über dessen Höhe entscheidet der Ausschuß. Im Rahmen der Festsetzung der angemessenen Vergütung sind die vom Rechtsanwalt in seinem Antrag verzeichneten Leistungen entsprechend der zeitlichen Abfolge ihrer Erbringung zu berücksichtigen und zu beurteilen. Ist die Vergütung, die der Rechtsanwalt erhält, geringer als der ihm gewährte Vorschuß, so hat der Rechtsanwalt den betreffenden Betrag dem Ausschuß der Rechtsanwaltskammer zurückzuerstatten.“
17 In den Erläuterungen zur Regierungsvorlage, 2378 BlgNR 24. GP , heißt es zur darin vorgeschlagenen (und sodann beschlossenen, mit BGBl. I Nr. 159/2013 kundgemachten) Änderung des § 16 Abs. 4 RAO:
„Die in § 16 Abs. 4 RAO geregelte so genannte ‚Sonderpauschalvergütung‘ für Verfahrenshilfeleistungen in überdurchschnittlich lang dauernden Verfahren ist immer wieder Gegenstand von Beschwerdeverfahren vor dem Verwaltungsgerichtshof. Dabei geht es zumeist um Detailfragen, die der besonderen Konstellation des jeweiligen Einzelfalls geschuldet sind. Im Zusammenhang mit verschiedenen bescheidmäßigen Festsetzungen von ‚Sonderpauschalvergütungen‘ durch die Ausschüsse der Rechtsanwaltskammern hat sich zuletzt aber vermehrt die Frage ergeben, wie denn die in § 16 Abs. 4 erster Satz RAO festgelegte zeitliche Grenze, bis zu der die erbrachten Verfahrenshilfeleistungen nicht gesondert abgegolten werden, gesetzeskonform zu ermitteln ist. Da insoweit auch der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs (s. zuletzt etwa VwGH 18.5.2010, Zl. 2009/06/0263) keine eindeutige ‚Handlungsanleitung‘ zu entnehmen ist, soll mit der vorgeschlagenen Ergänzung des § 16 Abs. 4 RAO die Vorgehensweise bei der Ermittlung der ‚Sondervergütungsgrenze‘ entsprechend determiniert werden.
[...]
Nach § 16 Abs. 4 RAO haben die im Rahmen der Verfahrenshilfe bestellten Rechtsanwälte in Verfahren, in denen sie innerhalb eines Jahres mehr als zehn Verhandlungstage oder insgesamt mehr als 50 Verhandlungsstunden tätig geworden sind, für alle jährlich darüber hinausgehenden Leistungen einen Anspruch auf angemessene Vergütung gegenüber der Rechtsanwaltskammer. Übersteigen die im konkreten Verfahren pro Jahr erbrachten Verfahrenshilfeleistungen diesen Umfang nicht, so besteht kein solcher Anspruch (wobei diese Verfahrenshilfeleistungen im Rahmen der so genannten ‚allgemeinen Pauschalvergütung‘ nach § 47 Abs. 1 RAO abgegolten werden). Was die Ermittlung der ‚Sondervergütungsgrenze‘ von zehn Verhandlungstagen oder 50 Verhandlungsstunden angeht, so hat das Berufsrechts‑Änderungsgesetz 2008 § 16 Abs. 4 RAO um eine zusätzliche Regelung für solche Verfahren ergänzt, in denen das Gericht gemäß § 285 Abs. 2 StPO eine Verlängerung der Frist zur Ausführung des Rechtsmittels verfügt. Um dem (durch die gerichtliche Verlängerung der Ausführungsfrist objektivierten) besonderen Aufwand, der mit der Erstellung eines solchen Rechtsmittels verbunden ist, Rechnung zu tragen, ist auf Antrag des betreffenden Rechtsanwalts im Rahmen der Ermittlung der ‚Sonderpauschalvergütung‘ nach § 16 Abs. 4 RAO die Tätigkeit zur Erstellung der Rechtsmittelschrift für jede volle Woche, um die die Rechtsmittelfrist verlängert wurde, der Teilnahme an zehn Verhandlungsstunden gleichzuhalten. Diese Fiktion ist aber lediglich bei der Ermittlung der ‚Sondervergütungsgrenze‘ von zehn Verhandlungstagen oder 50 Verhandlungsstunden anwendbar. Bei der Festsetzung der Höhe der Entlohnung des Rechtsanwalts für das Rechtsmittel kommt sie dagegen nicht zum Tragen (VwGH 18.5.2010, Zl. 2009/06/0263); freilich wird nichts dagegen sprechen, dem besonderen Aufwand eines solchen Rechtsmittels, der aufgrund der gerichtlichen Verlängerung der Rechtsmittelfrist ja angenommen werden kann, auf geeignete Weise (etwa durch einen angemessenen Zuschlag nach § 4 AHK) Rechnung zu tragen. Jedenfalls bedeutet die genannte Fiktion auch keine Abkehr von dem dem § 16 Abs. 4 RAO immanenten Grundsatz, dass bei der Ermittlung der Grenze von zehn Verhandlungstagen oder 50 Verhandlungsstunden die erbrachten rechtsanwaltlichen Leistungen nach dem zeitlichen Ablauf ihrer Erbringung chronologisch heranzuziehen und zu beurteilen sind (ein Umstand, auf den in der Entscheidung des VwGH vom 18.5.2010, Zl. 2009/06/0263, nicht hinreichend Bedacht genommen wird). Fallen daher zu Beginn der Einjahresfrist des § 16 Abs. 4 erster Satz RAO Verhandlungsleistungen an, die in ihrem Umfang unter der ‚Sondervergütungsgrenze‘ bleiben, so kann nicht die spätere, aber ebenfalls noch innerhalb der Jahresfrist erfolgende Ausführung eines Rechtsmittels, für das das Gericht eine Verlängerung der Ausführungsfrist beschlossen hat, dazu führen, dass für die früheren, bereits als ‚sondervergütungsfrei‘ feststehenden Verhandlungsleistungen nachträglich doch ein Anspruch auf Sondervergütung entsteht. Eine solche Auslegung des § 16 Abs. 4 RAO hätte in der genannten Konstellation zur Folge, dass letztlich überhaupt keine Leistungen innerhalb der Einjahresfrist mehr verblieben, die vom Verfahrenshelfer ohne Anspruch auf gesonderte Vergütung zu erbringen wären. Dies stünde sowohl im klaren Widerspruch zu § 16 Abs. 4 erster Satz RAO als auch überhaupt zum Gesamtkonzept der Abgeltung der Verfahrenshilfeleistungen der Rechtsanwälte, weil insoweit im Ergebnis ein und dieselbe Leistung sowohl im Rahmen der ‚allgemeinen‘ Pauschalvergütung als auch der ‚Sonderpauschalvergütung‘ Berücksichtigung fände. Aus diesem Grund soll in § 16 Abs. 4 RAO eine entsprechende ausdrückliche Klarstellung zum Erfordernis einer chronologischen Betrachtung und Beurteilung der erbrachten Verfahrenshilfeleistungen sowohl bei der Ermittlung der ‚Sondervergütungsgrenze‘ als auch bei der Entscheidung, welche konkreten Leistungen nun in welcher Höhe abzugelten sind, aufgenommen werden.“.
18 Der Erstrevisionswerber bringt in seiner Revisionsbeantwortung vor, der Verwaltungsgerichtshof habe in seinem Erkenntnis vom 18. Mai 2010, 2009/06/0263, die Auffassung vertreten, dass im Fall der Überschreitung des gesetzlich festgelegten Schwellenwerts sämtliche Leistungen zu honorieren seien; dies gelte ungeachtet der seither erfolgten Novellierung des § 16 Abs. 4 RAO durch die Novelle BGBl. I Nr. 159/2013.
19 Die zweitrevisionswerbende Partei vertritt demgegenüber die Auffassung, dass durch die genannte Novellierung klargestellt worden sei, dass zunächst ‚sondervergütungsfrei‘ 50 Verhandlungsstunden zu absolvieren seien und die ‚jährlich darüber hinausgehenden‘ Leistungen im Rahmen der Sonderpauschalvergütung zu entlohnen seien. Daraus sei zu schließen, dass die vom Erstrevisionswerber ‑ zeitlich gesehen ab Bestellung zum Verfahrenshelfer ‑ verrichteten 33 Verhandlungsstunden nicht zu entlohnen seien, da sie noch unterhalb der Sonderpauschalvergütungsgrenze lägen.
20 Dazu ist festzuhalten, dass in dem von den revisionswerbenden Parteien zitierten Erkenntnis (VwGH 18.5.2010, 2009/06/0263), die Frage zu klären war, in welchem Verhältnis die mit BGBl. I Nr. 111/2007 neu geschaffene Bestimmung des § 16 Abs. 4 zweiter Satz RAO (wonach im Fall einer Verlängerung der Rechtsmittelfrist nach § 285 Abs. 2 StPO die Tätigkeit zur Erstellung der Rechtsmittelschrift in Ansehung jeder vollen Woche, um die die Rechtsmittelfrist verlängert wurde, der Teilnahme an zehn Verhandlungsstunden geleichzuhalten ist) zur Voraussetzung für die Sondervergütung nach § 16 Abs. 4 erster Satz RAO steht. Der Verwaltungsgerichtshof hat dazu festgehalten, dass der Schwellenwert nicht nur durch absolvierte Verhandlungstage, sondern auch durch die Verlängerungswochen der Rechtsmittelfrist erreicht werden kann. Die Anrechnungsregel ‚ist ... gleichzuhalten‘ in § 16 Abs. 4 zweiter Satz RAO bedeutet nichts anderes als eine entsprechende Berücksichtigung bei der Ermittlung der Zahl der Verhandlungstage bzw. ‑stunden, an denen der Verfahrenshelfer quasi „unentgeltlich“ tätig sein muss. Der für den damals entschiedenen konkreten Fall daraus gezogene Schluss, dass „sämtliche, also [im dort entschiedenen Fall] auch die zwischen dem 21. November 2007 und dem 25. Februar 2008 erbrachten Leistungen zu honorieren“ seien (vgl. aber zum fortgesetzten Verfahren das Erkenntnis VwGH 19.9.2013, 2011/01/0146), hat den Gesetzgeber jedoch bewogen, eine Änderung des § 16 Abs. 4 RAO vorzunehmen. In der Begründung für diese Änderung gehen die oben zitierten Materialien ausdrücklich auf das genannte Erkenntnis ein, das demnach „nicht hinreichend Bedacht genommen“ habe auf den Grundsatz, dass bei der Ermittlung der Grenze der von zehn Verhandlungstagen oder 50 Verhandlungsstunden die erbrachten rechtsanwaltlichen Leistungen nach dem zeitlichen Ablauf ihrer Erbringung chronologisch heranzuziehen und zu beurteilen seien.
21 Die Sondervergütung für umfangreiche Verfahren nach § 16 Abs. 4 RAO setzt die Verrichtung von mehr als zehn Verhandlungstagen oder insgesamt mehr als 50 Verhandlungsstunden (oder eine entsprechende Verlängerung der Rechtsmittelfrist nach § 16 Abs. 4 zweiter Satz RAO) in einem Verfahren innerhalb eines Jahres voraus. Sie umfasst aber nach dem klaren Wortlaut des § 16 Abs. 4 erster Satz RAO nur die „darüber hinausgehenden Leistungen“, sodass eine Tätigkeit im Umfang von zehn Verhandlungstagen oder 50 Verhandlungsstunden (bzw. einer entsprechenden „gleichzuhaltenden“ Verlängerung der Rechtsmittelfrist) ohne Anspruch auf Sondervergütung zu leisten ist. Mit der Novelle BGBl. I Nr. 159/2013 hat der Gesetzgeber ‑ in Reaktion auf das genannte Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes ‑ zudem eine eindeutige Regelung für die zeitliche Einordnung der Leistungen geschaffen. Demnach bleiben die zu Beginn der Tätigkeit des Verfahrenshelfers verrichteten Leistungen (im Umfang bis zum Erreichen des gesetzlichen Schwellenwerts) „sondervergütungsfrei“, sodass sich der Anspruch auf angemessene Vergütung nach § 16 Abs. 4 RAO nicht auf jene Leistungen beziehen kann, die bis zum Erreichen des gesetzlichen Schwellenwertes erbracht werden.
22 Dies entspricht auch dem in den Materialien zum Ausdruck gebrachten Verständnis des § 16 Abs. 4 RAO, wonach, wenn zu Beginn der Tätigkeit Verhandlungsleistungen anfallen, die in ihrem Umfang unter der „Sondervergütungsgrenze“ bleiben, die spätere, noch innerhalb der Jahresfrist erfolgende Ausführung eines Rechtsmittels, für das das Gericht eine Verlängerung der Ausführungsfrist beschlossen hat, nicht dazu führen kann, dass für die früheren, bereits als „sondervergütungsfrei“ feststehenden Verhandlungsleistungen nachträglich doch ein Anspruch auf Sondervergütung entsteht.
23 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
24 Der Antrag der zweitrevisionswerbenden Partei auf Aufwandersatz war abzuweisen, weil der Rechtsträger im Sinne des § 47 Abs. 5 VwGG, der einerseits zum Aufwandersatz verpflichtet und dem andererseits der Aufwandersatz zufließen würde, im vorliegenden Fall derselbe ist (vgl. etwa VwGH 20.9.2017, Ra 2017/11/0031, mwN).
Wien, am 10. Oktober 2018
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