VwGH Ra 2016/11/0085

VwGHRa 2016/11/008528.3.2018

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Rigler und den Hofrat Dr. Schick sowie die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Soyer, über die Revision des H T in M, vertreten durch Mag. Dr. Martin Dercsaly, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Landstraßer Hauptstraße 146/6/B2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. April 2016, Zlen. W200 2017672-1/17E und W200 2017673-1/16E, betreffend (Neu)Festsetzung des Grades der Behinderung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice, Landesstelle Wien), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §37;
AVG §45 Abs3;
AVG §52;
BBG 1990 §40 Abs1;
BBG 1990 §42;
BBG 1990 §45;
MRK Art6;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGVG 2014 §24 Abs4;
VwGVG 2014 §24;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2016110085.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird im Umfang seiner Anfechtung (Spruchpunkt A)1.) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber stellte am 25. Februar 2005 einen Antrag auf Ausstellung eines Behindertenpasses. Dieser wurde am 2. August 2005 mit einem Gesamtgrad der Behinderung (GdB) von 60% ausgestellt. Aufgrund eines Antrags auf Eintragung der "Unzumutbarkeit der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel" vom 2. Juli 2009, wurde dem Revisionswerber am 15. Dezember 2009 ein Behindertenpass mit dem GdB von 80% ausgestellt. Der Antrag auf die Eintragung der "Unzumutbarkeit öffentlicher Verkehrsmittel" wurde mit Bescheid vom 23. Oktober 2009 abgewiesen. Die Berufung dagegen wurde mit Bescheid vom 28. Mai 2010 abgewiesen und der angefochtene Bescheid bestätigt.

2 Am 7. Juli 2014 stellte der Revisionswerber den verfahrensgegenständlichen Antrag auf Neufestsetzung des GdB im Behindertenpass, die Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel", sowie einen Antrag auf Ausstellung eines Parkausweises gemäß § 29b StVO. Mit Bescheid des Sozialministeriumservice - Landesstelle Wien vom 10. Dezember 2014 wurde der GdB mit 60% neu festgesetzt. Mit Bescheid vom selben Tag wurde der Antrag auf Vornahme der Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung auf Grund einer Behinderung" in den Behindertenpass abgewiesen. Gegen diese Bescheide erhob der Revisionswerber Beschwerde, wegen unrichtiger Sachverhaltsfeststellungen aufgrund unrichtiger Beweiswürdigung sowie Verfahrensmängeln.

3 Mit Schreiben vom 22. Mai 2015 ersuchte das Bundesverwaltungsgericht das Sozialministeriumservice - Landesstelle Wien, Ärztlicher Dienst, um Einholung von Sachverständigengutachten aus dem Bereich der Inneren Medizin sowie der Neurologie und Psychiatrie. Aufgrund dieses Ersuchens langte am 2. Dezember 2015 ein vom Sozialministeriumservice eingeholtes Gutachten einer Ärztin für Allgemeinmedizin beim Bundesverwaltungsgericht ein.

4 Nach erneutem Ersuchen um Einholung von Gutachten aus dem Bereich der Inneren Medizin sowie aus dem Bereich der Neurologie und Psychiatrie durch das Bundesverwaltungsgericht vom 10. Dezember 2015 wurde am 27. Jänner 2016 ein Gutachten durch eine Fachärztin für Innere Medizin erstellt. Es liege eine Coronare Herzerkrankung iSd Positionsnummer 05.05.03 der Anlage zur Einschätzungsverordnung BGBl. II Nr. 261/2010 idF BGBl. II Nr. 251/2012 (GdB 50%), eine periphere arterielle Verschlusskrankheit iSd Positionsnummer 05.03.02 (GdB 20%), eine Bewegungsstörung beider Schultergelenke iSd Positionsnummer 02.06.02 (GdB 20%) sowie eine chronisch obstruktive Atemwegserkrankung iSd Positionsnummer 06.06.01 leg. cit. (GdB 10%) vor. Aus internistischer Sicht sei die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel nicht begründbar. Am 22. März 2016 erging aufgrund desselben Schreibens des Bundesverwaltungsgerichts ein nervenfachärztliches Gutachten. In diesem wurde der GdB mit 60% eingeschätzt. Es liege eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung mit generalisierter Angststörung, Soziophobie mit rezidivierend depressiven Episoden iSd Positionsnummer 03.04.02 der Anlage zur Einschätzungsverordnung (GdB 50%) vor. Dieses Leiden werde durch das Leiden 1 der internistischen Leiden um eine Stufe erhöht, weswegen sich ein GdB von 60% ergebe. Die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel sei aufgrund der neurologischen Leiden begründbar.

5 Mit Schreiben vom 7. April 2016 wurde der Rechtsvertreter des Revisionswerbers vom Ergebnis der Beweisaufnahme verständigt und gemäß § 45 Abs. 3 AVG iVm. § 17 VwGVG innerhalb einer Frist von zwei Wochen schriftlich zur Stellungnahme aufgefordert. Diese Aufforderung wurde dem Rechtsvertreter am 11. April 2016 im elektronischen Rechtsverkehr übermittelt.

6 Mit - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergangenem - Erkenntnis vom 19. April 2016 wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde "gemäß § 40 Abs. 1, § 41 Abs. 1, § 42 Abs. 1 und 2, § 45 Abs. 1 und 2 und § 55 Abs. 5 Bundesbehindertengesetz idgF" als unbegründet ab (Spruchpunkt A) 1.)) und gab der Beschwerde "gemäß §§ 42 und 47 des Bundesbehindertengesetzes, BGBl. I Nr. 283/1990, idF BGBl. 39/2013 iVm § 1 der Verordnung des Bundesministers für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz über die Ausstellung von Behindertenpässen und von Parkausweisen BGBl. II Nr. 495/2013" statt und stellte fest, dass die Voraussetzungen für die Zusatzeintragung "Unzumutbarkeit der Benützung der öffentlichen Verkehrsmittel wegen dauerhafter Mobilitätseinschränkung aufgrund einer Behinderung" vorliegen würden (Spruchpunkt A) 2.)). Im Spruchpunkt B wurde ausgesprochen, dass die Revision gem. Art 133 Abs. 4 nicht zulässig sei. Dieses Erkenntnis wurde dem Rechtsvertreter des Revisionswerbers am 20. April 2016 im elektronischen Rechtsverkehr hinterlegt.

7 Gegen Spruchpunkt A) 1.) des Erkenntnisses, somit gegen die Festsetzung des Grades der Behinderung, richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, zu der das Bundesverwaltungsgericht die Verfahrensakten vorlegte. Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.

8 Zur Zulässigkeit der Revision wird vorgebracht, das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs zu § 45 Abs. 3 AVG ab. Nach dieser sei der Sachverhalt vom Verwaltungsgericht vollständig aufzuklären und der Partei die Gelegenheit zu Äußerung zu Verfahrensergebnissen zu gewähren. Vorliegend habe das Verwaltungsgericht bereits vor Ablauf der eingeräumten Stellungnahmefrist entschieden.

 

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

10 Die Revision ist aus dem von ihr genannten Grund zulässig, sie ist auch begründet.

11 Die Wahrung des Parteiengehörs, das zu den fundamentalen Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit der Hoheitsverwaltung gehört, ist von Amts wegen, ausdrücklich, in förmlicher Weise und unter Einräumung einer angemessenen Frist zu gewähren. Das Parteiengehör besteht nicht nur darin, den Parteien im Sinn des § 45 Abs. 3 AVG Gelegenheit zu geben, vom Ergebnis einer Beweisaufnahme Kenntnis zu erlangen und dazu Stellung zu nehmen, sondern ihnen ganz allgemein zu ermöglichen, ihre Rechte und rechtlichen Interessen geltend zu machen, mithin Vorbringen zu gegnerischen Behauptungen zu erstatten, Beweisanträge zu stellen und überhaupt die Streitsache zu erörtern (VwGH 9.5.2017, Ro 2014/08/0065, mwN).

12 Eine genügende Möglichkeit zur Stellungnahme besteht für die Partei nur dann, wenn ihr hiefür auch eine ausreichende Frist für die Einholung fachlichen Rats bzw. zur Vorlage eines entsprechenden Gutachtens eingeräumt wird. Die Frist zur Stellungnahme muss dazu ausreichen, um ein Gutachten durch ein Gegengutachten entkräften zu können, weshalb dabei die erforderliche Zeit für die Auswahl eines entsprechenden Sachverständigen und seine Beauftragung einerseits und der für die Ausarbeitung eines Gutachtens erforderliche Zeitraum andererseits zu berücksichtigen ist. Für das Gutachten eines Sachverständigen erweist es sich zur Wahrung des Parteiengehörs seitens einer Verwaltungsbehörde daher zumindest als notwendig, den Schriftsatz samt Gutachten mit einem Hinweis darauf zu übermitteln, dass der zu erlassende Bescheid auf dieses Gutachten gestützt werde, um den Parteien die Möglichkeit zu bieten, dem Gutachten auf gleicher fachlicher Ebene entgegenzutreten (VwGH, 20.12.2017, Ra 2017/03/0069, mwN)

13 Wie unstrittig aus dem Parteienvorbringen und dem Akteninhalt hervorgeht, wurden dem Revisionswerber die Sachverständigengutachten mit der Aufforderung zur Stellungnahme binnen zwei Wochen ab Zustellung am 11. April 2016 im elektronischen Rechtsverkehr übermittelt. Gemäß § 21 Abs. 8 BVwGG gilt als Zustellungszeitpunkt elektronisch übermittelter Ausfertigungen von Erledigungen des Bundesverwaltungsgerichtes und Eingaben jeweils der auf das Einlangen in den elektronischen Verfügungsbereich des Empfängers folgende Werktag, wobei Samstage nicht als Werktage gelten. Folglich begann im gegenständlichen Fall die Stellungnahmefrist am 12. April 2016 und endete mit Ablauf des 26. April 2016. Das angefochtene Erkenntnis wurde jedoch vor Ablauf dieser Frist, nämlich bereits am 20. April 2016, elektronisch übermittelt. Das Parteiengehör wurde somit nicht ordnungsgemäß gewahrt, wodurch das Bundesverwaltungsgericht sein Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit behaftete.

14 Zum Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung ist anzumerken, dass die Einschätzung des Grades der Behinderung auf Grundlage eines medizinischen Sachverständigengutachtens, entgegen den Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts, keine Frage bloß technischer Natur ist. In Fällen wie dem vorliegenden ist nach der hg. Judikatur wegen des für die Entscheidungsfindung wesentlichen persönlichen Eindrucks von der Person des Antragstellers grundsätzlich eine mündliche Verhandlung geboten (VwGH 21.06.2017, Ra 2017/11/0040, mwN). Die Vorgangsweise des Verwaltungsgerichts erweist sich auch aus diesem Grund als rechtswidrig.

15 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften nach § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.

16 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 28. März 2018

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