VwGH Ra 2016/12/0118

VwGHRa 2016/12/011813.9.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrat Dr. Zens und Hofrätin Mag.a Nussbaumer-Hinterauer als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Artmann, über die außerordentliche Revision des Ing. J S in D, vertreten durch Dr. Peter Ringhofer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Franz Josefs Kai 5, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich vom 12. Oktober 2016, Zl. LVwG-AV-985/001-2016, betreffend Entfall der Bezüge gemäß § 31 Abs. 4 DPL (vor dem Landesverwaltungsgericht Niederösterreich belangte Behörde: Niederösterreichische Landesregierung), zu Recht erkannt:

Normen

12010P/TXT Grundrechte Charta Art47 Abs2;
AVG §39;
AVG §45 Abs2;
AVG §52;
DPL NÖ 1972 §31;
MRK Art6 Abs1;
MRK Art6;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGG §42 Abs2 Z3;
VwGVG 2014 §17;
VwGVG 2014 §24 Abs4;
VwGVG 2014 §24;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2017:RA2016120118.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Das Land Niederösterreich hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber steht in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis zum Land Niederösterreich.

2 Mit Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 10. August 2016 wurde gemäß § 31 der Dienstpragmatik der Landesbeamten 1972, LGBl. 2200, ausgesprochen, dass er im Zeitraum vom 13. Juni 2016 bis 27. Juni 2016 den Anspruch auf Bezüge und Nebengebühren verloren habe.

3 Der Revisionswerber habe sich am 13. Juni 2016 unter Vorlage einer ärztlichen Bestätigung krank gemeldet. Aus amtsärztlichen Gutachten vom 28. September 2015 und vom 20. Juni 2016 gehe aber hervor, dass die vom Revisionswerber als Rechtfertigung für seinen Krankenstand ins Treffen geführten gesundheitlichen Beeinträchtigungen keine Dienstunfähigkeit begründen würden.

4 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber anwaltlich vertreten Beschwerde, in welcher er die genannten amtsärztlichen Gutachten als unschlüssig rügte und ergänzende Beweisanträge stellte.

5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich vom 12. Oktober 2016 wurde diese Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgewiesen. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6 In den Entscheidungsgründen dieses Erkenntnisses folgte das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich den oben erwähnten amtsärztlichen Gutachten, welche es als schlüssig qualifizierte. Davon ausgehend vertrat es die Rechtsauffassung, der Revisionswerber habe schon auf Grund des erstgenannten Gutachtens - infolge Identität seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen - nicht mehr auf die Richtigkeit der von ihm vorgelegten ärztlichen Bestätigung vom 13. Juni 2016 vertrauen dürfen. Das zweitgenannte amtsärztliche Gutachten vom 20. Juni 2016, dessen Ergebnisse dem Revisionswerber schon an diesem Tag mündlich bekannt gegeben worden seien, habe das Vorliegen seiner Dienstfähigkeit bestätigt. Der Revisionswerber sei daher in der Zeit vom 13. Juni 2016 bis zum 27. Juni 2016, dem Tag vor dem Wiederantritt seines Dienstes, ungerechtfertigt abwesend gewesen, weshalb er aus dem Grunde des § 31 Abs. 4 erster Satz DPL 1972 den Anspruch auf seine Bezüge und Nebengebühren verloren habe.

7 Die Abstandnahme von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung begründete das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich wie folgt:

"Eine mündliche Verhandlung wurde nicht explizit beantragt, was bei einem rechtsfreundlich vertretenen Beschwerdeführer grundsätzlich einem Verzicht gleichkommt (VwGH 27.01.2016, Ro 2015/03/0042). Der Beschwerdeführer hat jedoch die unterlassene Einholung eines Facharztgutachtens gerügt und damit implizit dessen Einholung und mündliche Erörterung beantragt. Diesfalls verbietet sich auch ungeachtet eines Vertretungsverhältnisses zu einem Rechtsanwalt die Annahme, die Partei habe durch Unterbleiben eines ausdrücklichen Verhandlungsantrages auf die Durchführung einer solchen verzichten wollen (VwGH 18.09.2015, Ra 2015/12/0012). Die Verhandlung ist daher als implizit beantragt zu betrachten. Da jedoch die Schlüssigkeit des bescheidtragenden Gutachtens eine reine Rechtsfrage darstellt, konnte die Verhandlung entfallen."

8 Die Revision sei unzulässig, weil die Entscheidung weder von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweiche noch eine solche Rechtsprechung fehle. Auch sei die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den hier maßgeblichen Fragen nicht als uneinheitlich zu beurteilen.

9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision vor dem Verwaltungsgerichtshof. Der Revisionswerber macht Rechtswidrigkeit des Inhaltes des angefochtenen Erkenntnisses sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften mit dem Antrag geltend, es aus diesen Gründen aufzuheben.

10 Die Niederösterreichische Landesregierung erstattete eine Revisionsbeantwortung, in welcher die Zurückweisung der Revision, hilfsweise deren Abweisung als unbegründet beantragt wird.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11 In seiner Zulässigkeitsbegründung wirft der Revisionswerber u.a. die Frage auf, ob das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich vorliegendenfalls zu Recht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung Abstand genommen habe.

12 In der Ausführung der Revision wird auch u.a. die Nichtdurchführung einer mündlichen Verhandlung gerügt.

13 Schon mit dem eben erwähnten Zulassungsgrund zeigt die Revision eine grundsätzliche Rechtsfrage auf, weil das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich in Verkennung der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu Unrecht davon ausgegangen ist, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe im Hinblick darauf, dass die Prüfung der Schlüssigkeit eines Sachverständigengutachtens eine Rechtsfrage darstelle, zu unterbleiben gehabt:

14 Vorliegendenfalls ist unstrittig, dass ein wirksamer Verzicht des Revisionswerbers auf eine sonst nach Art. 6 Abs. 1 MRK gebotene mündliche Verhandlung nicht vorlag.

15 Bei den hier strittigen Ansprüchen auf Bezüge handelt es sich um "civil rights" im Verständnis der zitierten Konventionsbestimmung. Wie die oben wiedergegebene Schilderung des Verfahrensganges, insbesondere des Beschwerdevorbringens, zeigt, waren vorliegendenfalls medizinische Sachfragen zur Beurteilung der Dienstfähigkeit strittig. Bei diesen Fragen handelt es sich - entgegen der Auffassung des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich - um klassische Tatsachenfragen, sodass die nach der Rechtsprechung des EGMR zulässigen Ausnahmen von der Verhandlungspflicht gemäß Art. 6 Abs. 1 MRK für nicht übermäßig komplexe Rechtsfragen oder hochtechnische Fragen nicht Platz greifen (vgl. hiezu insbesondere das hg. Erkenntnis vom 21. Dezember 2016, Ra 2016/12/0067).

16 Insbesondere irrt das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich, wenn es die Auffassung vertritt, dass die von der Verwaltungsbehörde eingeholten Gutachten vom Verwaltungsgericht lediglich auf ihre Schlüssigkeit zu überprüfen seien, was eine Rechtsfrage darstelle. Vielmehr sind Sachverständigengutachten wie jedes andere Beweismittel der freien Beweiswürdigung zugänglich. Auf Grund der im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten herrschenden Offizialmaxime hat das Verwaltungsgericht den für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt von Amts wegen festzustellen. Es hat im Sinne des in § 17 VwGVG verwiesenen § 39 AVG in der Regel einen Sachverständigen beizuziehen, wenn ihm dies notwendig erscheint. Bei dem Gutachten eines Sachverständigen im Sinn des § 52 AVG handelt es sich um ein Beweismittel, das gemäß § 17 VwGVG iVm § 45 Abs. 2 AVG der freien Beweiswürdigung durch das Verwaltungsgericht unterliegt (vgl. zur Würdigung von Gutachten durch die Verwaltungsbehörden die hg. Erkenntnisse vom 15. Mai 2012, 2009/05/0048, und vom 7. November 2013, 2010/06/0255, deren Aussagen auch auf die Sachverhaltsermittlung und -feststellung durch Verwaltungsgerichte zu übertragen sind). Aus dem Vorgesagten folgt daher, dass die Frage, ob ein Verwaltungsgericht einem Sachverständigengutachten folgt oder nicht, eine Frage der Beweiswürdigung und keinesfalls eine Frage der rechtlichen Beurteilung ist.

17 Wie der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 27. Mai 2015, Ra 2014/12/0021, darlegte, führt ein Verstoß des Verwaltungsgerichtes gegen die aus Art. 6 Abs. 1 MRK abgeleitete Verhandlungspflicht auch ohne nähere Prüfung einer Relevanz dieses Verfahrensmangels zur Aufhebung des Erkenntnisses gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG, sofern sich der Verwaltungsgerichtshof - wie im vorliegenden Fall - nicht veranlasst sieht, in der Sache selbst zu entscheiden.

18 Vor diesem Hintergrund kann es aber dahingestellt bleiben, ob - was in der Revisionsbeantwortung bestritten wird - der Revisionswerber mit dem Hinweis, das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich habe ihm ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterstellt, die Unrichtigkeit der ärztlichen Bestätigung vom 13. Juni 2016 gekannt zu haben, das angefochtene Erkenntnis in der Revision zutreffend wiedergegeben und einen relevanten Verfahrensmangel aufgezeigt hat.

19 Bei diesem Ergebnis muss auf weiteres Revisionsvorbringen - auch wenn es zum Revisionsgrund der inhaltlichen Rechtswidrigkeit erstattet wird - nicht mehr eingegangen werden (vgl. hiezu die bereits zitierten hg. Erkenntnisse vom 27. Mai 2015 und vom 21. Dezember 2016).

20 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013.

Wien, am 13. September 2017

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte