VwGH 2013/22/0129

VwGH2013/22/012918.3.2014

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, den Hofrat Dr. Robl und die Hofrätin Mag. Merl als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des V, vertreten durch Dr. Herbert Pochieser, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Schottenfeldgasse 2-4/23, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 1. August 2012, Zl. 140.017/20-III/4/12, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §41a Abs9;
VwGG §42 Abs2 Z1;
EMRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §41a Abs9;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die im Devolutionsweg zuständig gewordene Bundesministerin für Inneres (im Folgenden kurz: Behörde) den Antrag des Beschwerdeführers, eines indischen Staatsangehörigen, auf Erteilung einer "Niederlassungsbewilligung -

unbeschränkt" gemäß § 43 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), welcher nach Inkrafttreten des Fremdenrechtsänderungsgesetzes 2011 mit 1. Juli 2011 als Antrag auf Erteilung einer "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gemäß § 41a Abs. 9 NAG gewertet wurde, ab.

Begründend führte die Behörde - soweit für das gegenständliche Verfahren relevant - aus, der Beschwerdeführer habe bezüglich des genauen Einreisedatums unterschiedliche Angaben getätigt; aus den Verwaltungsakten sei jedoch ersichtlich, dass er am 20. Jänner 2000 einen Asylantrag gestellt habe. Dieser Antrag sei letztlich mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 16. August 2010 abgewiesen worden.

Den nunmehr gegenständlichen Antrag vom 30. August 2010 habe der Beschwerdeführer bei der erstinstanzlichen Behörde am 2. September 2010 gestellt. In diesem führte er aus, er verfüge (seit dem Jahr 2001) über eine unbeschränkte Beschäftigungsbewilligung; im Jahr 2001 sei er von einem österreichischen Staatsbürger adoptiert worden; mit seinem Adoptivvater habe er bis 2005 zusammengelebt und habe nach wie vor Kontakt zu ihm. Seine leiblichen Eltern seien verstorben und er habe in Indien kaum Verwandte. Im Rahmen des Ermittlungsverfahrens habe der Beschwerdeführer weiters vorgebracht, er sei in Österreich sozial, sprachlich und wirtschaftlich integriert und Herr U., ein enger Freund, habe für ihn eine Patenschaftserklärung abgegeben. In seiner Stellungnahme vom 13. Juli 2012 habe der Beschwerdeführer angegeben, sich seit 1996 in Österreich aufzuhalten.

Zu der dem Antrag beigelegten Patenschaftserklärung eines österreichischen Staatsbürgers sei dem Beschwerdeführer mitgeteilt worden, dass eine solche bei einem Antrag gemäß § 41a Abs. 9 NAG nicht vorgesehen sei.

Der Beschwerdeführer - so die Behörde weiter - habe "bis zum 13.07.2012" gegenüber der Behörde seine wahre Identität verschleiert und unter Verwendung von "Alias-Daten" versucht, seinen offenbar seit 1995 bestehenden Aufenthalt im Bundesgebiet zu legalisieren. Damit zeige der Beschwerdeführer, dass er nicht gewillt sei, sich an die in Österreich geltende Rechtsordnung zu halten. Im Jahr 1998 sei gegen den Beschwerdeführer - unter einer anderen Identität - ein fünfjähriges Aufenthaltsverbot wegen Schwarzarbeit rechtskräftig erlassen worden.

Aus dem Versicherungsdatenauszug gehe hervor, dass der Beschwerdeführer aufgrund der erteilten Beschäftigungsbewilligungen vom 20. April 2009 bis 2. Mai 2009, vom 3. August 2009 bis 7. September 2009 und vom 18. Oktober 2010 bis 18. April 2011 beschäftigt gewesen sei. Es könne nicht von einer hinreichenden Integration am österreichischen Arbeitsmarkt gesprochen werden.

Die Adoption des Beschwerdeführers durch einen österreichischen Staatsbürger im Jahr 2001 könne die Intensität des Privat- und Familienlebens nicht maßgeblich verstärken, weil der Beschwerdeführer zu diesem Zeitpunkt bereits volljährig gewesen sei.

Da er sich bereits seit 1995 im Bundesgebiet aufhalte und erst am 13. Mai 2011 eine Deutschprüfung "Niveau A2" abgelegt habe, könne auch die sprachliche Integration "keinesfalls als besondere Integrationsleistung" gewertet werden.

Die integrationsbegründenden Umstände (mittlerweile 17- jähriger Aufenthalt, Berufstätigkeit, weitere soziale Integration durch das Erlernen der deutschen Sprache, Aufbau vieler Bekanntschaften zu österreichischen Staatsbürgern sowie die Adoption durch einen Österreicher) seien während eines Aufenthaltes erworben worden, der sich letztlich auf einen unbegründeten Asylantrag gegründet habe. Sie reichten für die Erteilung eines Aufenthaltstitels unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK nicht aus. Den die Einreise und den Aufenthalt regelnden Normen komme aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung - und damit eines von Art. 8 Abs. 2 EMRK erfassten Interesses - ein hoher Stellenwert zu. Es sei auch nicht ersichtlich, aus welchem Grund der Beschwerdeführer die unterbrochenen Kontakte zu seiner Familie, zu Bekannten oder anderen Verwandten in Indien nicht wieder herstellen könne.

Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 21. Februar 2012, B 1154/12-8, ablehnte und mit gesondertem Beschluss vom 23. April 2013, B 1154/2012-10, die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die - im Verfahren nach Aufforderung ergänzte - Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die Behörde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat, erwogen:

Hat der Verfassungsgerichtshof in einem Verfahren gemäß Art. 144 Abs. 1 B-VG in der bis zum Ablauf des 31. Dezember 2013 geltenden Fassung bis zum Ablauf des 31. Dezember 2013 eine Beschwerde gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG in der bis zum Ablauf des 31. Dezember 2013 geltenden Fassung dem Verwaltungsgerichtshof abgetreten, hat der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 8 Verwaltungsgerichtsbarkeits-Übergangsgesetz (VwGbk-ÜG), BGBl. I Nr. 33/2013, in einem solchen Verfahren die Bestimmungen des B-VG in der bis zum Ablauf des 31. Dezember 2013 geltenden Fassung und des VwGG in der bis zum Ablauf des 31. Dezember 2013 geltenden Fassung weiterhin anzuwenden.

Weiters wird festgehalten, dass sich die Beurteilung des gegenständlichen Falles im Hinblick auf den Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides (am 2. August 2012) nach den Bestimmungen des NAG in der Fassung des BGBl. I Nr. 112/2011 richtet.

Die Erteilung des vom Beschwerdeführer begehrten Aufenthaltstitels nach § 41 a Abs. 9 NAG setzt unter anderem voraus, dass dies gemäß § 11 Abs. 3 NAG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten ist.

Ein über zehnjähriger, überwiegend rechtmäßiger inländischer Aufenthalt - mag dieser auch auf asylrechtliche Bestimmungen zurückzuführen sein - kann den persönlichen Interessen eines Fremden an einem Verbleib im Bundesgebiet ein großes Gewicht verleihen. Die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Interessenabwägung gemäß Art. 8 EMRK geht bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich aus. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden etwa Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. zur Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK etwa die zum Fremdenpolizeigesetz ergangenen hg. Erkenntnisse vom 2. Oktober 2012, Zl. 2012/21/0044, und vom 18. Oktober 2012, Zl. 2010/22/0136). Diese Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK ist auch für die Erteilung von Aufenthaltstiteln relevant (siehe etwa das hg. Erkenntnis vom 17. April 2013, Zl. 2011/22/0185).

Im vorliegenden Fall hält sich der Beschwerdeführer nach eigenen Angaben seit 1996 - den Feststellungen der belangten Behörde zufolge "seit mittlerweile 17 Jahren" - im österreichischen Bundesgebiet auf. Es kann auch nicht gesagt werden, dass er seinen langen inländischen Aufenthalt nicht genutzt hätte, um sich zu integrieren. Die belangte Behörde billigte dem Beschwerdeführer ausdrücklich zu, dass er sich durch das Erlernen der deutschen Sprache sozial integriert habe, zeitweise berufstätig gewesen sei, viele Bekanntschaften zu österreichischen Staatsbürgern aufgebaut habe und von einem Österreicher adoptiert worden sei. Aus dem im Verwaltungsakt erliegenden Versicherungsdatenauszug vom 15. März 2011 ergibt sich, dass der Beschwerdeführer zwischen 2001 bis 2010 wesentlich öfter als in den von der Behörde angegebenen Zeiträumen beschäftigt war; auch wenn nicht für alle diese Tätigkeiten Beschäftigungsbewilligungen vorlagen, dürfen sie dennoch im Rahmen der Interessensabwägung nicht gänzlich unberücksichtigt bleiben.

Wenn die Behörde auf ein dem Beschwerdeführer im Jahr 1998 - somit etwa 14 Jahre vor Erlassung des angefochtenen Bescheides - erteiltes Aufenthaltsverbot wegen Schwarzarbeit Bezug nimmt, ist ihr zu entgegnen, dass dieses wegen der langen inzwischen vergangenen Zeit im Rahmen der Interessenabwägung gemäß Art. 8 EMRK keinen maßgeblichen Einfluss mehr haben kann.

Der Umstand, dass der Beschwerdeführer von einem österreichischen Staatsbürger adoptiert wurde und die Deutschprüfung auf "Niveau A2" absolvierte, spricht ebenfalls für dessen Integration.

Insbesondere im Hinblick auf den - im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides - bereits langjährigen Aufenthalt des Beschwerdeführers ist, bezogen auf die oben wiedergegebene hg. Rechtsprechung, den privaten Interessen des Beschwerdeführers an einem weiteren Verbleib in Österreich der Vorrang zu geben.

Das hat die Behörde verkannt, weshalb der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben war.

Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG abgesehen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455, und § 3 Z 1 der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014 idF BGBl. II Nr. 8/2014.

Wien, am 18. März 2014

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