VwGH 86/18/0245

VwGH86/18/024513.2.1987

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizeprsident Dr. Petrik und die Hofrate Dr. Pichler und Dr. Domittner als Richter, im Beisein des Schriftführers Dr. Kundegraber, über die Beschwerde des Ing. HP in E vertreten durch Dr. Archim Mauerer, Rechtsanwalt in Wien I, Graben 27-28, gegen den Bescheid der Wiener Landesregierung vom 2. September 1986, Zl. MA 70‑11/505/86/Str., betreffend Übertretungen der Straßenverkehrsordnung 1960, zu Recht erkannt:

Normen

AVG §37
AVG §45 Abs2
AVG §45 Abs3
StVO 1960 §4 Abs1 lita
StVO 1960 §4 Abs5
VwGG §42 Abs2 Z3 litc

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:1987:1986180245.X00

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Die Bundeshauptstadt (Land) Wien hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 9.630,‑ ‑ binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug gemäß § 66 Abs. 4 AVG 1950 ergangenen Berufungsbescheid vom 2. September 1986 wurde der Beschwerdeführer schuldig erkannt, er sei am 19. August 1985 um cirka 16.10 Uhr als Lenker eines Kombinationskraftwagens mit bestimmten Kennzeichen an der Kreuzung Handelskai ‑ Auffahrt Floridsdorfer Brücke, vom Handelskai Richtung Nordbrücke kommend, beim Linkseinbiegen in die Auffahrt zur Floridsdorfer Brücke an einem Verkehrsunfall mit Personenschaden ursächlich beteiligt gewesen und habe es unterlassen 1) unverzüglich für fremde Hilfe hinsichtlich der verletzten Person zu sorgen und 2) sofort die nächste Polizeidienststelle von diesem Verkehrsunfall zu verständigen. Er habe hiedurch je eine Verwaltungsübertretung nach § 4 Abs. 2, zweiter Satz und nach § 4 Abs. 2, letzter Satz der Straßenverkehrsordnung 1960 (StVO) begangen; die von der ersten Instanz einheitlich verhängte Geld‑ und Ersatzarreststrafe wurde herabgesetzt und auf zwei Geld‑ und eine Ersatzarreststrafe aufgeteilt. Die Berufungsbehörde traf in ihrer Begründung folgende Feststellungen:

Der Beschwerdeführer sei mit seinem Kombinationskraftwagen vom 2. Bezirk kommend den Handelskai in Richtung Floridsdorfer Brücke gefahren. Er habe sich in einer Kolonne von mehreren Fahrzeugen unmittelbar vor der Verkehrslichtsignalanlage nach der Unterfahrung der Floridsdorfer Brücke in die äußerste linke Fahrspur eingeordnet, weil er die Auffahrt zur Brücke habe benutzen wollen. Die Kolonne sei zunächst wegen Rotlichtes gestanden. Nach Beginn der Grünphase sei der Beschwerdeführer mit ca. 20 km/h nach links eingebogen und habe dabei einen Mopedfahrer knapp rechts neben sich in ungefähr gleicher Höhe bemerkt. Unmittelbar darauf habe der Mopedlenker etwa auf Türhöhe mit der rechten Seite des Kombinationskraftwagens kontaktiert; dadurch sei eine deutlich sichtbare Kratzspur im Lack des Kombinationskraftwagens verursacht worden. Während der Beschwerdeführer sein Einbiegemanöver fortgesetzt habe, sei das Moped ins Schlingern gekommen und sei nach links umgefallen, wobei der Mopedlenker sich die aktenkundigen (ergänze: schweren) Verletzungen zugezogen habe. Unmittelbar nach der Kreuzung habe der Beschwerdeführer sein Kraftfahrzeug wegen Hupens der hinter ihm eingereiht gewesenen Fahrzeuglenker gehalten; er konnte, nachdem sein Fahrzeug noch ein Stück zurückgerollt war, im Rückspiegel das Moped im Kreuzungsbereich liegend sehen. Daraufhin fuhr der Beschwerdeführer weg.

Diese Feststellungen wurden wie folgt begründet:

Die Kontaktierung sei auf Grund des gesamten Akteninhalts erwiesen. Der Beschwerdeführer behauptete zwar, daß er von einer solchen nichts bemerkt habe, weshalb er den Sturz des Mopedlenkers nicht auf sein eigenes Fahrverhalten zurückgeführt habe. Er habe jedoch einerseits den Mopedlenker auf der Höhe seiner rechten Fahrzeugtür bemerkt, andererseits den Unfall infolge des Hupens anderer Lenker wahrgenommen. Das Delikt nach § 4 StVO könne auch fahrlässig begangen werden. Sodann wurde das Gutachten des Amtssachverständigen der Magistratsabteilung 46 wörtlich wiedergeben. Somit sei erwiesen, daß der Beschwerdeführer bei gehöriger Aufmerksamkeit auch noch weitere objektive Umstände hatte erkennen können, aus denen sich seine ursächliche Beteiligung am Verkehrsunfall ergeben hätte, so durch einen Blick in den rechten Rückspiegel oder "über" das Kontaktgeräusch. Daß der Beschwerdeführer nichts bemerkt habe, sei ihm als Mangel der erforderlichen Sorgfaltspflicht anzulasten. Die Berufungsbehörde schenke der Aussage des Zeugen (ergänze: E K) Glauben, dies nicht zuletzt auf Grund der eigenen Angaben des Beschwerdeführers. Der Beweisantrag auf Abhaltung eines Lokalaugenscheines sei abzuweisen gewesen, da 1) sowohl das Gutachten des Amtssachverständigen als auch das "beigebrachte gerichtliche Gutachten" aussagten, eine Rekonstruktion der Positionen der Kraftfahrzeuge sei technisch nicht nachvollziehbar. 2) Stelle der Beschwerdeführer auf eine subjektive Erkennbarkeit eines Geräusches ab. Maßgebend seien aber die objektiven Umstände, aus denen er die Möglichkeit der ursachlichen Beteiligung an einem Verkehrsunfall mit Personenschaden hätte erkennen müssen. 3) Diene ein diesbezüglicher Beweisantrag einzig und allein der Verfahrensverzögerung.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, wegen "unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie Mangelhaftigkeit des Verfahrens" erhobene Beschwerde.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Entgegen den Ausführungen auf Seite 5, dritter Absatz des angefochtenen Bescheides, der Beschwerdeführer hätte den Unfall bei gehöriger Aufmerksamkeit aus noch weiteren objektiven Umstanden hätte erkennen müssen, wurden an solchen Umständen im Gutachten des Amtssachverständigen nur der unterlassene Blick in den rechten Außenspiegel und das Anstoßgeräusch genannt. Die belangte Behörde konnte schon nach dem Inhalt der Aktenlage nur diese beiden Umstände heranziehen. Nun konnte aber weder der Amtssachverständige noch die belangte Behörde eine Rechtspflicht des Beschwerdeführers beim gegenständlichen Linksabbiegemanöver aufweisen, in den rechten Außenrückspiegel zu schauen. Den Sachverhaltsfeststellungen der belangten Behörde sind keine Umstände zu entnehmen, die den Beschwerdeführer am Ort des Unfalles oder unmittelbar danach verpflichtet hätten, außer der Hinlenkung seiner Aufmerksamkeit vornehmlich auf die Beobachtung des Verkehrsgeschehens vor und links von seinem Fahrzeug auch noch im Rückspiegel die Fahrbahn rechts von seinem Fahrzeug zu beobachten (vgl. die Ausführungen des Erkenntnisses vom 18. Jänner 1984, Zl. 83/03/0087).

Demnach kann dem Beschwerdeführer in der Unterlassung eines Blickes in den rechten Außenrückspiegel kein rechtswidriges Verhalten vorgeworfen werden; mangelt es an Rechtswidrigkeit, so können aber auch Erwägungen über die diesbezügliche Schuldform (Fahrlässigkeit) unterbleiben.

Hinsichtlich der akustischen Wahrnehmbarkeit der Kollision stützte sich die belangte Behörde auf die Aussage des Amtssachverständigen, ein derartiges Anstoßgeräusch müsse ‑ dies aus dem Folgeschaden geschlossen ‑ von einem nicht gehörbehinderten Lenker zwingend wahrgenommen werden. Für diese Aussage hat der Amtssachverständige keine nach den näheren Umstanden des Vorfalles notwendige Begründung gegeben. Daß eine solche Begründung aber notwendig war, ergibt sich aus dem gesamten Sachverhalt: Es herrschte zur Tatzeit am Tatort "reger Verkehr" (Anzeige laut Aktenseite 3), die zum Abbiegen vor dem Fahrzeug des Beschwerdeführers eingeordnete Kolonne umfaßte cirka zehn Fahrzeuge (Aktenseite 8); der Beschwerdeführer fuhr nach dem durch die Lichtanlage bedingten Anhalten mit "dem zweiten eingelegten Gang"; der Beschwerdeführer behauptete mehrmals (Aktenseite 36 verso, Aktenseiten 47 verso und 48), daß einerseits das Eigengeräusch seines Kraftfahrzeuges, andererseits der allgemeine Lärmpegel am Tatort zur Tatzeit es ihm unmöglich gemacht habe, ein allfälliges Anstoßgeräusch, verursacht durch das Moped, wahrzunehmen.

Es stellt nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes einen Verfahrensmangel dar, wenn derartige konkrete Anhaltspunkte dafür, daß ein Anstoßgeräusch akustisch nicht wahrgenommen werden konnte, nicht näher untersucht und mit der Aussage abgetan werden, das Anstoßgeräusch müsse "zwingend wahrgenommen werden" (vgl. die Ausführungen des Erkenntnisses vom 23. Februar 1976, Zl. 285/74, wonach in der Frage des Verhältnisses eines Anstoßgeräusches zum Eigenlärm des Fahrzeuges der bloße Hinweis auf die praktischen Erfahrungen allein nicht genüge; vielmehr müsse aus dem bestimmten Ausmaß der Kontaktspuren ein wissenschaftlicher Schluß auf die Wucht gezogen werden, mit der die beiden Kraftfahrzeuge miteinander kollidierten; daraus müßten wieder Schlüsse auf Geräusch und Erschütterung und ihre Wahrnehmbarkeit durch einen Lenker von gehöriger Aufmerksamkeit gezogen werden; vgl. ferner die Ausführungen im Erkenntnis vom 21. November 1986, Zl. 86/18/0208, wonach es Aufgabe des Sachverständigen ist, bestimmte Schlüsse aus der Art und dem Umfang der Anstoßstellen auf die Intensität des dadurch verursachten Lärmes zu ziehen, wobei auch der Umgebungslärm am Tatort zu berücksichtigen sei).

Zusammenfassend ist zu sagen, daß die belangte Behörde zu Unrecht eine Verpflichtung des Beschwerdeführers annahm, bei der gegebenen Fahrsituation in den rechten Außenspiegel zu schauen, und daß ihre auf das Amtssachverständigengutachten gestützten Ausführungen über die objektive Möglichkeit akustischer Wahrnehmung der Kollision unschlüssig sind. Die belangte Behörde hat durch diese Vorgangsweise Verfahrensvorschriften verletzt, bei deren Einhaltung sie zu einem anderen Bescheid hätte kommen können. Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers vom 30. Mai 1985, BGB1. Nr. 243. Das Mehrbegehren an Stempelgebühren war abzuweisen, weil die Beschwerde nur in zweifacher Ausfertigung einzubringen war (§ 24 Abs. 1 VwGG).

Wien, am 13. Februr 1987

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