VwGH 86/18/0193

VwGH86/18/01937.11.1986

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsident Dr. Petrik und die Hofräte Dr. Pichler und Dr. Domittner als Richter, im Beisein des Schriftführers Kommissär Dr. Renner, über die Beschwerde der HN in W, vertreten durch Dr. Herbert Neuhauser, Rechtsanwalt in Wien I, Schubertring 3, gegen den Bescheid der Wiener Landesregierung vom 2. Juni 1986, Zl. MA 70‑XI/N 22/85/Str., betreffend Übertretung der Straßenverkehrsordnung 1960, zu Recht erkannt:

Normen

ABGB §1438
ABGB §7 implizit
AVG §59 Abs1
AVG §63 Abs1
B-VG Art137
VStG §19
VStG §31 Abs3 idF 1984/299
VStG §44a litc
VStG §44a Z3 implizit
VStG §51 Abs5 idF 1984/299
VVG §3 Abs1
VwRallg

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:1986:1986180193.X00

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Die Bundeshauptstadt (Land) Wien hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 9.690,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Zunächst wird auf die Sachverhaltsdarstellung und auf die rechtlichen Ausführungen im hg. Erkenntnis vom 31. Mai 1985, Zl. 85/18/0242, hingewiesen. Nach Einlangen des aufhebenden Erkenntnisses bei der belangten Behörde am 2. Juli 1985 ersuchte diese die Erstbehörde, die im Betrage von S 2.400,-- erlegte Geldstrafe einschließlich der Kostenbeiträge erster und zweiter Instanz an die Beschwerdeführerin rückzuüberweisen. Nach einem Bericht der Erstbehörde vom 18. August 1986 wurde an die Beschwerdeführerin selbst jedoch nur ein Betrag von S 1.300,-- rücküberwiesen. Die Differenz von S 1.100,-- ergibt sich aus der im zweiten Rechtsgang verhängten Geldstrafe von S 1.000,-- zuzüglich des erstinstanzlichen Strafkostenbeitrages von S 100,--. Im zweiten Rechtsgang wurden sodann PR neuerlich als Zeuge und die Beschwerdeführerin als Beschuldigte vernommen, ferner wurde ein ergänzendes Gutachten des Amtssachverständigen der Magistratsabteilung 46 eingeholt. Die Beschwerdeführerin gab eine schriftliche Stellungnahme ab, nach weiteren Ermittlungen wurde der Beschwerdeführerin abschließend Parteiengehör gewährt; sie verzichtet auf eine weitere Stellungnahme.

Mit Bescheid vom 2. Juni 1986, der Beschwerdeführerin zugestellt am 10. Juni 1986, wurde das erstinstanzliche Straferkenntnis in der Schuldfrage mit der Abänderung bestätigt, daß die Tatumschreibung wie folgt zu lauten habe:

„Die Beschuldigte, Frau HN, war am 3.10.1983 um 11.45 Uhr als Lenkerin des Pkws mit dem polizeilichen Kennzeichen W nnn in Wien 2, Praterstraße 9, an einem Verkehrsunfall mit Sachschaden ursächlich beteiligt und hat es in der Folge unterlassen, davon die nächste Polizeidienststelle ohne unnötigen Aufschub zu verständigen.“

Die in erster Instanz verhängte Geldstrafe wurde auf S 1.000,-- (Ersatzarreststrafe 36 Stunden) herabgesetzt; demgemäß wurde der erstinstanzliche Strafkostenbeitrag auf S 100,-- herabgesetzt; ein Beitrag zu den Kosten des Berufungsverfahrens wurde nicht auferlegt. Des weiteren wurde im Spruch des Berufungsbescheides ausgeführt, da gegen diesen Bescheid kein ordentliches Rechtsmittel mehr zulässig sei, sei der Bescheid sofort vollstreckbar. Die Beschwerdeführerin habe daher den Gesamtbetrag (Strafe, Verfahrenskosten erster Instanz) binnen zwei Wochen mit dem beiliegenden Erlagschein zu überweisen oder unter Mitnahme dieses Bescheides bei der Bundespolizeidirektion Wien einzuzahlen. Bei Verzug müsse die Beschwerdeführerin damit rechnen, daß der Betrag zwangsweise eingetrieben und im Falle der Uneinbringlichkeit die Ersatzarreststrafe vollstreckt werde. In der Bescheidbegründung wurde unter anderem ausgeführt, nach der ergänzenden Zeugenaussage des PR, der auch eine Skizze angefertigt habe, sei der Pkw der Beschwerdeführerin mit seiner Vorderseite an die hintere Seite des Pkws des OW angefahren. Er, PR, habe selbst eine Beschädigung am letztgenannten Pkw wahrnehmen können. Die Berufungsbehörde schenke dieser Zeugenaussage mehr Glauben als der leugnenden Verantwortung der Beschwerdeführerin. Nach dem ‑ ergänzten ‑ Gutachten des Amtssachverständigen der Magistratsabteilung 46 könne der am Pkw des OW eingetretene Schaden sehr wohl durch das Kraftfahrzeug der Beschwerdeführerin verursacht worden sein. Daran ändere auch nichts der Umstand, daß am Kraftfahrzeug der Beschwerdeführerin kein Schaden eingetreten sei; dies sei auf unterschiedliche Materialien, auf die unterschiedliche Biegesteifigkeit sowie Verformungsfähigkeit und auf unterschiedliche Formgebung zurückzuführen. Ein typengleiches Kraftfahrzeug Marke Peugeot habe mit seiner vorderen Stoßstange „einen gemeinsamen Höhenbereich“ mit der hinteren Stoßstange des beschädigten Fahrzeuges Marke Ford Taunus. Daher bestünde die technische Möglichkeit der Kontaktnahme. Die Beschwerdeführerin habe auf Grund der Anstoßerschütterung und des Anstoßgeräuches den Eintritt eines Verkehrsunfalles erkennen müssen. Die Berufungsbehörde schenke der Beschwerdeführerin und der Aussage ihres Ehemannes insoweit Glauben, als diese beiden Personen nach der Kontaktierung am Fahrzeug des OW Nachschau gehalten hätten. Aus den gemachten Fotografien sei eine Beschädigung der Stoßstange des letztgenannten Fahrzeuges einwandfrei erkennbar; dies ergebe sich auch aus dem Gutachten des genannten Amtssachverständigen. Möge dieser Schaden aus normaler Augenhöhe auch vielleicht nicht erkennbar sein, so müsse geschlossen werden, daß die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann bei der Nachschau nicht die notwendige Sorgfalt haben walten lassen; dies sei nicht entschuldigend, weil das der Beschwerdeführerin vorgeworfene Delikt auch fahrlässig begangen werden könne. Bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt hätte die Beschwerdeführerin den Schaden am fremden Fahrzeug wahrnehmen müssen. Daher sei der erstinstanzliche Schuldspruch abermals zu bestätigen gewesen.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, wegen Rechtswidrigkeit des Inhalts und wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften erhobene Beschwerde.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die Berufungsbehörde hat die Vorschrift des § 51 Abs. 5 VStG 1950 in der Fassung des Bundesgesetzes vom 26. Juni 1984, BGBl. Nr. 299, nicht verletzt, weil die dort genannte Frist mit dem Herablangen der aufhebenden Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes im ersten Rechtsgang neu zu laufen begonnen hat (siehe Erkenntnis vom 17. Dezember 1984, Slg. N.F. Nr. 11.621/A, u.a.). Der Fristenlauf begann daher am 2. Juli 1985; die Frist war zur Zeit der Zustellung des angefochtenen Bescheides am 10. Juni 1986 noch nicht abgelaufen.

Die innerhalb der Rechtsrüge erhobene Behauptung, die Beschwerdeführerin habe nicht einmal fahrlässig gehandelt, geht von einem anderen als dem als erwiesen angenommenen Sachverhalt aus. Hinsichtlich des Vorliegens einer Fahrlässigkeit der Beschwerdeführerin kann auf die Ausführungen auf Seite 4 des vorangeführten Erkenntnisses im ersten Rechtsgang verwiesen werden.

Die Beschwerdeführerin erkennt zu Recht, daß der in den Spruch aufgenommene Beisatz, sie habe den Gesamtbetrag binnen zwei Wochen mit dem beiliegenden Erlagschein zu überweisen, einen bekämpfbaren Teil des angefochtenen Bescheides darstellt, weil darin der Beschwerdeführerin eine in bestimmter Frist zu erfüllende Zahlungspflicht auferlegt wird. Sie wendet sich jedoch zu Unrecht gegen diesen Ausspruch.

Wohl ist von der Sach- und Rechtslage zur Zeit der Erlassung des angefochtenen Bescheides am 10. Juni 1986 auszugehen, so daß die teilweise Rückzahlung von S 1.300,-- an die Beschwerdeführerin laut einem späteren Bericht (vom 18. August 1986) unbeachtet bleiben muß. Die Beschwerdeführerin irrt jedoch darin, daß die belangte Behörde bei Festsetzung einer Geldstrafe und Festsetzung der Zahlungspflicht und -frist hiefür darauf von Amts wegen Bedacht zu nehmen habe, ob der Beschwerdeführerin Rückzahlungsforderungen gegen jene Gebietskörperschaft zustehen, die nunmehr den Anspruch auf Zahlung einer Geldstrafe erhoben hat. Es mag dahingestellt bleiben, welche nähere Ausprägung das Institut der Kompensation im öffentlichen Recht im einzelnen erfahren hat. Wie das Erkenntnis vom 16. Februar 1951, Slg. N.F. Nr. 1936/A, dargelegt hat, müssen mangels spezieller Vorschriften über die rechtlichen Voraussetzungen einer Aufrechnung die Bestimmungen des bürgerlichen Rechtes herangezogen werden. Wesentliche Voraussetzung einer Kompensation ist aber eine Aufrechnungserklärung gegenüber dem Aufrechnungsgegner (Rummel in Rummel ABGB, Rz 11 zu § 1438). An einer solchen Aufrechnungserklärung der Beschwerdeführerin im Verwaltungsstrafverfahren fehlt es aber. Darüber hinaus wäre Kompensationsvoraussetzung, daß Forderung und Gegenforderung einander aufrechenbar im Sinne der Liquidität gegenüberstehen (vgl. das oben zitierte Erkenntnis Slg. N.F. Nr. 1936/A, Seite 186 der Amtlichen Sammlung, sowie Rummel a.a.O., Rz 6 zu § 1439). Eine solche wird aber dann zu verneinen sein, wenn Unzulässigkeit des Rechtsweges bezüglich der Gegenforderung vorliegt (Rummel a.a.O. Rz 26 zu § 1438).

Während für die Eintreibung der Geldstrafe nach Maßgabe des § 3 Abs. 1 VVG 1950 in der Fassung der Novelle 1986 die gerichtliche oder die verwaltungsbehördliche Exekutionsführung zur Verfügung steht, müßte die Beschwerdeführerin ihren angeblichen Rückersatzanspruch erst im Verfahren nach Art. 137 B‑VG beim Verfassungsgerichtshof geltend machen (vgl. Erkenntnis vom 24. Juni 1983, Slg. N.F. Nr. 11.099/A, und die darin zitierte verfassungsgerichtliche Rechtsprechung). Es kann in Anbetracht dieser gänzlich verschiedenen Rechtswegszulässigkeiten keine Rede davon sein, daß sich hier die Forderung des Landes Wien auf Zahlung der Geldstrafe und die allfällige Gegenforderung der Beschwerdeführerin kompensabel gegenüberstünden.

Die Rechtsrüge erweist sich somit insgesamt als nicht gerechtfertigt.

Hingegen kommt der Verfahrensrüge in folgender Richtung Berechtigung zu:

Die Beschwerdeführerin hat im zweiten Rechtsgang (in ihrer Stellungnahme vom 9. Dezember 1985) vorgebracht, zwischen der Höhe der vorderen Stoßstange eines unbeladenen Fahrzeuges Marke Peugeot, wie es das ihre zur Tatzeit und am Tatort war, und jener Höhe der Stoßstange eines solchen Fahrzeuges, in dem zwei erwachsene Personen saßen, bestünde ein Unterschied von 8 bis 9 cm, so daß unter letzterer Tatsachenannahme eine Kollision mit dem Fahrzeuge Marke Ford Taunus in einer Weise, die den behaupteten Schaden herbeigeführt habe, ausgeschlossen sei. Die belangte Behörde hat sich diesbezüglich nur auf das ‑ früher abgegebene und ergänzte ‑ Gutachten des Amtssachverständigen berufen; in ihrer Gegenschrift führte die belangte Behörde aus, dem Amtssachverständigen seien ohnehin alle Unterlagen zur Verfügung gestanden, woraus hervorgehe, daß er seine Aussagen über die Stoßstangenhöhe unter Annahme der Belastung des Fahrzeuges der Beschwerdeführerin mit zwei Personen erstattet habe. Diese Behauptung läßt sich allerdings weder aus dem ursprünglichen noch aus dem ergänzten Gutachten des Amtssachverständigen verifizieren, weil in keinem dieser beiden Gutachten der Belastung des Fahrzeuges Marke Peugeot irgendwie gedacht wurde ‑ dies im Gegensatz zum Beladungszustand des Pkws Marke Ford Taunus, von dem es auf Aktenseite 27 hieß: „Beladungszustand leer“. Hätte demnach die belangte Behörde an den Amtssachverständigen die Frage gestellt, wie es mit der höhenmäßigen Übereinstimmung der beiderseitigen Stoßstangen der Fahrzeuge unter der Annahme der Belastung des Fahrzeuges der Beschwerdeführerin mit zwei Personen gestanden hätte, so wäre allenfalls ein anderes Ergebnis zu erwarten gewesen.

Darüber hinaus liegt folgender von Amts wegen wahrzunehmender Verfahrensmangel in der Form einer Begründungslücke vor:

Die Anzeige, insbesondere die darin enthaltenen Angaben der CW ‑ der Ehefrau des angeblich Geschädigten, OW ‑ geht von einem Schaden an der hinteren Stoßstange links aus; einen solchen Schaden zeigt auch die Fotografie Aktenseite 27. Der Zeuge PR sagte am 25. Jänner 1984, er könne „auf Grund der langen Zeit“ nicht mehr angeben, wo der Schaden gewesen sei. Bei seiner neuerlichen Vernehmung am 3. September 1985 sprach dieser Zeuge aber davon, der von der Beschwerdeführerin gelenkte Pkw sei an die rechte hintere Seite (?) des anderen Pkws angestoßen, wobei es zwei Sätze später heißt „An der“ ‑ handschriftlich eingefügt ‚vermutlich‘ ‑ „rechten hinteren Seite des A konnte ich einen Schaden feststellen, nähere Details weiß ich heute nicht mehr ...“

Die Berufungsbehörde war sich offenbar dieser Widersprüche bewußt, weil sie in ihrer wörtlichen Wiedergabe der letzterwähnten Zeugenaussage gerade das Wort „rechte“ ausließ und durch drei Punkte ersetzte.

Die Berufungsbehörde wäre aber zufolge ihrer Begründungspflicht gehalten gewesen, darzutun, warum sie von den ursprünglichen Angaben in der Anzeige und nicht von den späteren Angaben des Zeugen PR ausgeht, dem sie in anderer Hinsicht ‑ was die Tatsache der Kollision an sich anlangt - vollen Glauben schenkte. Hiebei wäre auch der Möglichkeit zu gedenken, daß der Pkw der Beschwerdeführerin wohl an den des OW anstieß, aber ohne einen erkennbaren Schaden zu verursachen, während der festgestellte Schaden im linken hinteren Stoßstangenbereich entweder schon vorhanden war oder erst später entstanden ist.

Durch die Unterlassung einerseits einer Fragestellung in dieser Richtung, andererseits einer widerspruchsfreien Begründung hat die belangte Behörde Verfahrensvorschriften verletzt, bei deren Einhaltung sie zu einem anderen Bescheid hätte kommen können. Ihr Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung des Bundeskanzlers vom 30. Mai 1985, BGBl. Nr. 243.

Wien, am 7. November 1986

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte