BVwG W184 2245189-1

BVwGW184 2245189-118.4.2023

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
BFA-VG §21 Abs7
B-VG Art133 Abs4
VwGVG §24 Abs4
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2023:W184.2245189.1.01

 

Spruch:

 

W184 2245189-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

 

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Werner PIPAL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX alias XXXX , geb. XXXX , StA. Syrien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.07.2021, Zl. 1276808400/210481181, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

 

 

 

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang:

 

Die beschwerdeführende Partei, ein männlicher Staatsangehöriger Syriens, brachte nach der illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 11.04.2021 den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz ein.

 

Bei der Erstbefragung gab die beschwerdeführende Partei an, er stamme aus Deir ez-Zor und gehöre der arabischen Volksgruppe und der Religion der Sunniten an. Er habe in Syrien 16 Jahre die Grundschule und vier Jahre die Universität besucht und sei vor seiner Ausreise als Lehrer tätig gewesen. Zum Fluchtgrund befragt, führte die beschwerdeführende Partei an, dass er Syrien wegen des Krieges und der instabilen Lage verlassen habe müssen. Es gebe dort keine Sicherheit, keine Zukunft sowie kein normales Leben. Obwohl er den Militärdienst bereits abgeleistet habe, fürchte er sich vor einer weiteren Verpflichtung zum Armeedienst. Er wolle keine Waffen tragen und niemanden töten. Im Falle einer Rückkehr habe er Angst vor den Kriegsgeschehnissen und Angst um sein Leben.

 

Bei der Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 10.06.2021 führte die beschwerdeführende Partei an, dass er keinen Reisepass besitze. Seine Ehefrau und seine minderjährigen Kinder hätten nach der Ausreise Reisepässe beantragt. Er sei in Deir ez-Zor geboren und gehöre der Volksgruppe der Araber und der Religion der Sunniten an. Im Herkunftsstaat würden nach wie vor seine Ehefrau, sein Sohn und seine vier Töchter wohnhaft sein. Seine drei Brüder sowie seine fünf Schwestern seien ebenfalls noch in Syrien aufhältig. Den Militärdienst habe er von 1996 bis 1999 als einfacher Soldat in Damaskus abgeleistet. Sein Wehrdienstbuch könne er in Vorlage bringen. Er habe in der Provinz Al Hasaka von 2011 bis 2016 Lehramt studiert und sei anschließend von 2018 bis 2019 als Volksschullehrer tätig gewesen. Zu seinen Lebensumständen in Syrien befragt, führte die beschwerdeführende Partei an, dass er in XXXX geboren sei und dort die Schule besucht habe. In weiterer Folge habe er im Jahr 2012 seine Ehefrau geheiratet und mit dieser fünf Kinder bekommen. Seine Ehefrau und seine fünf Kinder würden sich derzeit in XXXX aufhalten und er selbst habe sich vor seiner Ausreise ebenfalls dort aufgehalten. Die beschwerdeführende Partei stehe in regelmäßigem Kontakt zu seiner Familie. Zum Fluchtgrund befragt, gab die beschwerdeführende Partei zu Protokoll, dass er weder in seiner Heimat noch in einem anderen Land vorbestraft sei und dass er keine Strafrechtsdelikte begangen habe. Auf die Frage, ob er in der Heimat von der Polizei, der Staatsanwaltschaft, einem Gericht oder einer sonstigen Behörde gesucht werde, replizierte die beschwerdeführende Partei, dass er nicht genau wisse, von welcher Behörde er gesucht werde. Er habe seine Arbeit gekündigt und das Land verlassen, weshalb er nun davon ausgehe, dass er von irgendeiner syrischen Behörde gesucht werden könnte. Die Fragen, ob er in seiner Heimat jemals von den Behörden angehalten, festgenommen oder verhaftet worden sei oder in seiner Heimat Probleme mit den Behörden gehabt habe, wurden von der beschwerdeführenden Partei verneint. Er sei auch nicht Mitglied einer politischen Gruppierung oder Partei gewesen und sei in Syrien nicht wegen seiner politischen Gesinnung, Rasse, Religion, Nationalität, Volksgruppe oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt worden. Die weiteren Fragen, ob er jemals selbst gekämpft oder an Kampfhandlungen teilgenommen habe bzw. ob er Mitglied einer bewaffneten Gruppierung gewesen sei, wurden von der beschwerdeführenden Partei verneint. Befragt, was der konkrete Grund gewesen sei, warum er die Heimat verlassen habe, erklärte die beschwerdeführende Partei, dass er ursprünglich nur ein sicheres Land bevorzugt habe und in weiterer Folge Österreich aufgrund der geltenden Menschenrechte ausgewählt habe. Überdies habe er Syrien verlassen und sei nach Österreich gekommen, weil er in Syrien als Reservist gesucht werde. Er habe nicht in den Krieg ziehen und kämpfen wollen, unabhängig davon gebe es in Syrien auch keine Sicherheit, da sich die Lebensverhältnisse aufgrund der Kriegszustände verschlechtert hätten. Die Frage, ob er sein Vorbringen mit Beweismitteln untermauern könne, wurde von der beschwerdeführenden Partei verneint. Auf Aufforderung, zu schildern, wann und wie er von der Militärbehörde als Reservist einberufen worden sei, führte die beschwerdeführende Partei an, dass er am 15.01.2019 als Reservist einberufen worden sei. Er sei an diesem Tag seiner Arbeitstätigkeit nachgegangen, weshalb der Direktor an ihn herangetreten sei und ihm erklärt habe, dass er nunmehr als Reservist einberufen werde und deshalb die Rekrutierungsabteilung aufsuchen müsse. Diesen Auftrag habe die beschwerdeführende Partei jedoch verweigert und sei in weiterer Folge auch nicht mehr zur Arbeit gegangen. Bis zu seiner Ausreise habe er ein Restaurant betrieben, das ursprünglich seinem Onkel gehört habe. Auf Nachfrage, wieso er den Einberufungsbefehl nicht selbst, sondern nur über den Direktor erhalten habe, replizierte die beschwerdeführende Partei, dass solche Listen der Reservisten üblicherweise immer an den Direktor geschickt werden würden. Zur Frage, wann er an der Schule gearbeitet habe, erwiderte die beschwerdeführende Partei, dass er bis zum 15.01.2019 an der Schule gearbeitet habe. Befragt, ob er seit 15. bzw. 16.01.2019 bis zu seiner Ausreise im Jahr 2020 irgendwelche Probleme mit der Militärbehörde gehabt habe, entgegnete die beschwerdeführende Partei, dass er bis 2020 keine Probleme mit der Militärbehörde gehabt habe. Die Frage, ob er selbst die Einberufung nach Hause bekommen habe, wurde von der beschwerdeführenden Partei verneint. Personen, die als Reservist einberufen worden seien, würden auf der Straße kontrolliert und mitgenommen werden. Die Frage, ob er seitens der Militärbehörde zwischen 15. bzw. 16.01.2019 bis zu seiner Ausreise im Jahr 2020 aufgesucht worden sei, wurde von der beschwerdeführenden Partei verneint. Er sei in diesem Zeitraum auch nicht vom Schuldirektor oder einer sonstigen Behörde kontaktiert oder aufgesucht worden und habe seine Heimat im Jahr 2020 verlassen. Nachgefragt, wieso er seine Heimat ausgerechnet im Juli 2020 verlassen habe, brachte die beschwerdeführende Partei vor, dass er vernommen habe, dass sich in den Nachbardörfern Soldaten aufhalten würden. Er habe Angst bekommen und sei aus diesem Grund ausgereist. Auf Vorhalt, wieso ausgerechnet er als Reservist einberufen werden sollte und nicht seine drei jüngeren Brüder, entgegnete die beschwerdeführende Partei, dass er das nicht wisse. In Syrien könne jeder eine Einberufung erhalten. Es sei niemals zu Übergriffen gegen seine Person gekommen und es sei nie jemand an ihn herangetreten. Im Falle einer Rückkehr habe er Angst, dass er als Reservist eingezogen werden könnte. Es könne sein, dass er mit der Polizei Probleme bekomme, es handle sich dabei aber um eine reine Vermutung.

 

Im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme wurden von der beschwerdeführenden Partei Kopien einer ID-Karte, eines Abschlusszeugnisses einer Universität, einer Heiratsurkunde, von Reisepässen seiner Kernfamilie und ein Familienbuch sowie ein Wehrdienstbuch im Original in Vorlage gebracht.

 

Mit dem angefochtenen Bescheid wurde folgende Entscheidung über diesen Antrag getroffen:

 

„I. Der Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen.

 

II. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wird der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.

 

III. Die befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte wird gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 für 1 Jahr erteilt.“

 

In der Begründung wurde näher ausgeführt, dass die von der beschwerdeführenden Partei geschilderte Fluchtgeschichte wenig detailreich bzw. oberflächlich gewesen sei und daher in weiterer Folge als nicht glaubhaft zu qualifizieren sei. Gegen die beschwerdeführende Partei seien seinen eigenen Angaben zufolge niemals Verfolgungshandlungen gesetzt worden. Weiters habe die beschwerdeführende Partei die konkrete Frage vor der Polizei, ob es konkrete Hinweise geben würde, dass ihm bei Rückkehr unmenschliche Behandlung, unmenschliche Strafe oder die Todesstrafe drohe oder ob er im Falle der Rückkehr in seinen Heimatstaat mit irgendwelchen Sanktionen zu rechnen hätte, dezidiert verneint. Das Bundesamt halte es zwar durchaus für möglich und plausibel, dass er aufgrund einer allfälligen Erzählung durch den Schuldirektor der Meinung sei, dass die behauptete Bedrohung tatsächlich so geschehen sei, allerdings müssten solche Erzählungen Dritter in ihrer Beweiskraft massiv hinter persönlich Erlebtem zurücktreten, insbesondere da die angeblichen Erzählungen des Schuldirektors einer Wahrheits- bzw. Glaubhaftigkeitsprüfung durch das Bundesamt nicht zugänglich seien. Weiters habe die beschwerdeführende Partei die konkreten Fragen, ob er selbst die Einberufung nach Hause bekommen habe und ob er persönlich seitens der Militärbehörde zwischen 15.01.2019 bis zu seiner Ausreise im Juli 2020 aufgesucht worden sei, ausdrücklich verneint. Die Provinz Deir-ez Zor stehe unter der Kontrolle des syrischen Regimes. Dennoch habe nicht festgestellt werden können, dass gegen die beschwerdeführende Partei als Reservist von der syrischen Regierung Verfolgungshandlungen gesetzt worden seien.

 

Gegen den Spruchpunkt I. dieses Bescheides richtet sich die vorliegende Beschwerde, in welcher insbesondere dargelegt wurde, dass die Behörde der Pflicht zur amtswegigen Ermittlung und materiellen Wahrheitsforschung nicht im gesetzlichen Ausmaß nachgekommen sei. Bezüglich der Risikoprofile wurde auf UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen würden, verwiesen. Die Beweiswürdigung sei willkürlich und widerspreche den von der belangten Behörde selbst herangezogenen Länderfeststellungen. Beantragt wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

 

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

 

1. Feststellungen:

 

Zur Person und den Fluchtgründen der beschwerdeführenden Partei wird festgestellt:

 

Die beschwerdeführende Partei ist Staatsbürger Syriens und gehört der Volksgruppe der Araber sowie der sunnitischen Religion an. Er ist in der Provinz Deir ez-Zor geboren und wohnte bis zur Ausreise mit seiner Familie in XXXX in der Provinz Al-Hasaka. Die Provinz steht unter kurdischer Kontrolle. Die syrische Regierung übt in der unter kurdischer Selbstverwaltung stehenden Region die Kontrolle über zwei kleine Gebiete, sogenannte „Sicherheitsviertel“, in den Städten Qamishli und Al-Hasaka in der Provinz Al-Hasaka aus.

 

Die beschwerdeführende Partei studierte von 2011 bis 2016 Lehramt in Al Hasaka. Vor seiner Ausreise aus Syrien war die beschwerdeführende Partei von 2018 bis 2019 als Volksschullehrer in XXXX tätig. Seine Ehefrau und seine fünf Kinder wohnen nach wie vor in XXXX in der Provinz Al-Hasaka. Überdies sind in der Provinz Al-Hasaka seine drei Brüder und seine fünf Schwestern aufhältig. Die beschwerdeführende Partei ist gesund und strafrechtlich unbescholten.

 

Die beschwerdeführende Partei war in Syrien keiner individuell-konkreten, asylrelevanten Gefährdung ausgesetzt.

 

Der beschwerdeführenden Partei droht im Herkunftsstaat keine Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung.

 

Die beschwerdeführende Partei hat auch durch die Stellung eines Antrages auf internationalen Schutz in Österreich nicht dargelegt, dass er im Falle einer Rückkehr nach Syrien einer konkreten, asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt sein könnte.

 

Die beschwerdeführende Partei ist derzeit 45 Jahre alt und befindet sich nicht mehr im wehrdienstfähigen Alter für syrische Streitkräfte oder kurdische Milizen. Er ist zudem auch kein Reservist für das syrische Militär.

 

Er leistete den Militärdienst von 1996 bis 1999 als einfacher Soldat in Damaskus ab.

 

Zur Lage im Herkunftsstaat wird Folgendes festgestellt:

 

Die aktuelle Lage ergibt sich aus der Länderinformation der Staatendokumentation - Syrien (Gesamtaktualisierung am 10.08.2022).

 

Politische Lage

 

COVID-19

Letzte Änderung: 25.06.2021

Bezüglich der aktuellen Anzahl der Krankheits- und Todesfälle in den einzelnen Ländern

empfiehlt die Staatendokumentation bei Interesse/Bedarf folgende Website der WHO:

https://www.who.int/emergencies/diseases/novel-coronavirus-2019/situation-reports oder der Johns Hopkins-Universität:

https://gisanddata.maps.arcgis.com/apps/opsdashboard/index.html#/bda7594740fd4029

9423467b48e9ecf6 mit täglich aktualisierten Zahlen zu kontaktieren.

 

Am 22.3.2020 wurde der erste Fall einer COVID-19 infizierten Person in Syrien bestätigt

(ÖB 29.9.2020). Unbestätigte Berichte deuteten damals darauf hin, dass das Virus schon

früher entdeckt worden war, dies aber vertuscht wurde (Reuters 23.3.2020). Dem ersten

bestätigten Fall folgten weitreichende Maßnahmen (u.a. Ausgangssperren,

Verkehrsbeschränkungen, Schließungen von Bildungseinrichtungen und Geschäften), die

zwischenzeitig weitgehend aufgehoben wurden. Die Pandemie traf ein Land mit einem

Gesundheitssystem, das durch den Konflikt schwer in Mitleidenschaft gezogen wurde.

Dies trifft gerade auch für die humanitären Brennpunkte mit hunderttausenden

Binnenvertriebenen (IDPs) vor allem im Nordwesten zu (ÖB 29.9.2020).

 

Trotz der katastrophalen humanitären Lage in Syrien sind dort weit weniger Fälle und

Todesfälle gemeldet worden als in den Nachbarländern (BBC 13.10.2020). Die offiziell

bekannt gegebenen Zahlen für die von der Regierung kontrollierten Gebiete in Syrien sind

sehr niedrig, ebenso die Zahl der Tests (ÖB 29.9.2020). Angesichts der begrenzten Anzahl

von Tests in ganz Syrien ist es wahrscheinlich, dass die tatsächliche Zahl der Fälle die

offiziellen Zahlen bei weitem übersteigen könnte (UNOCHA/WHO 10.6.2021: vgl. TG

29.4.2021). Eine britische Studie schätzt, dass nur 1,25% der Infektionen gemeldet

werden. Mitte August 2020 wurde allein in der Hauptstadt Damaskus die Zahl der

Infizierten auf 112.500 geschätzt (AA 4.12.2020). Die Regierung erhielt mit Stand März

2021 geschätzte 120.000 Testsets und andere Ausrüstung von unterschiedlichen Ländern

und soll diese an private Labore verkauft haben, statt sie im öffentlichen

Gesundheitssystem zu verteilen. Es gibt auch Anschuldigungen, dass die Regierung

Lieferungen, die für oppositionelle Gebiete bestimmt waren, für ähnliche Zwecke

beschlagnahmt hat bzw. sich bemüht Hilfsgüter in die eigenen Gebiete zu lenken (COAR

10.3.2021).

 

Epidemiologische Analysen deuten auf eine zweite Welle Mitte Dezember 2020 hin, als die

Zahl der Fälle (3.547) die höchste war, die bisher in einem einzigen Monat gemeldet

wurde. Nach einem relativen Abflauen der gemeldeten Fälle im Februar 2021 stiegen die

Zahlen im Berichtszeitraum Ende März bis Anfang April 2021 wieder an, was möglicherweise auf eine dritte Welle hindeutet. Von Mai bis Mitte Juni 2021 hat die Zahl

der gemeldeten Fälle wieder abgenommen, bleibt aber immer noch relativ hoch mit

signifikanten Positivitätsraten bei begrenzten Tests (UNOCHA/WHO 10.6.2021).

 

Die seit Juli 2020 gemeldete stetige Zunahme des betroffenen Gesundheitspersonals

unterstreicht - angesichts des fragilen Gesundheitssystems Syriens mit einer ohnehin

schon unzureichenden Zahl an qualifiziertem Gesundheitspersonal - das Potenzial einer

weiteren Beeinträchtigung der überforderten Gesundheitskapazitäten. Humanitäre

Akteure erhalten weiterhin Berichte, dass das Gesundheitspersonal in einigen Gebieten

nicht über ausreichende persönliche Schutzausrüstung verfügt (UNOCHA/WHO

10.6.2021). Staatliche Spitäler, besonders in der Gegend von Damaskus, sind mit Patienten

überfüllt und haben keine Beatmungsgeräte mehr (CGP 13.10.2020). Im April

2020 wurden die Kapazitäten der Intensivstationen in Damaskus als ausgeschöpft

gemeldet (TG 29.4.2021).

 

Unterdessen sagen die unterbesetzten medizinischen Fachkräfte, dass sie ihre Aufgaben

unter der Aufsicht der mächtigen Sicherheitsdienste erfüllen müssen, welche die

staatlichen Gesundheitseinrichtungen überwachen. Dies soll abschreckend auf Patienten

wirken, die bereits zögern, sich in einem Land behandeln zu lassen, in dem die Angst vor

dem Staatsapparat groß ist und jede kritische Diskussion über den Umgang mit der

Pandemie als Bedrohung für eine Regierung angesehen werden könnte, die entschlossen

ist, eine Botschaft der Kontrolle zu vermitteln (AJ 5.10.2020). Menschenrechtsaktivisten

zufolge verhaftete das Regime Gesundheitsdienstleister, die mit internationalen Medien

über die COVID-19-Krise sprachen oder dem streng kontrollierten Narrativ über die

Auswirkungen der Pandemie auf das Land widersprachen (USDOS 30.3.2021).

 

Unterdessen verschlechtert sich die wirtschaftliche Lage Syriens weiter. In Verbindung mit

dem plötzlichen Zusammenbruch des syrischen Pfunds hat COVID-19 die rapide

Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage Syriens im Sommer 2020 noch verschärft. Die

aktuelle Wirtschaftslage, zusammen mit den beschädigten Lieferketten durch die

Explosion in Beirut am 4.8.2020 (UNSC 30.9.2020) und dem Verlust von Arbeitsplätzen

aufgrund der Auswirkungen von COVID-19, insbesondere bei Tagelöhnern oder der

Saisonarbeit, in Verbindung mit dem Anstieg der Nahrungsmittelpreise (UNOCHA/WHO

29.9.2020) haben dazu geführt, dass jetzt geschätzte 12,4 Millionen Menschen in Syrien

von Ernährungsunsicherheit betroffen sind, ein Anstieg um 4,5 Millionen innerhalb eines

Jahres (UNOCHA/WHO 10.6.2021).

 

Politische Lage

Letzte Änderung: 25.06.2021

Die Familie al-Assad regiert Syrien bereits seit 1970, als Hafez al-Assad sich durch einen

Staatsstreich zum Herrscher Syriens machte (SHRC 24.1.2019). Nach seinem Tod im Jahr

2000 übernahm sein Sohn, der jetzige Präsident Bashar al-Assad, diese Position (BBC

25.2.2019). Die beiden Assad-Regime hielten die Macht durch ein kompliziertes Gefüge

aus ba'athistischer Ideologie, repressivem Zwang, Anreize für wirtschaftliche Eliten und

der Kultivierung eines Gefühls des Schutzes für religiöse Minderheiten (USCIRF 4.2021).

Im Jahr 2011 erreichten die Umbrüche in der arabischen Welt auch Syrien. Auf die

zunächst friedlichen Proteste großer Teile der Bevölkerung, die Demokratie,

Rechtsstaatlichkeit und ein Ende des von Bashar al-Assad geführten Ba'ath-Regimes

verlangten, reagierte dieses mit massiver Repression gegen die Protestierenden, vor allem

durch den Einsatz von Armee und Polizei, sonstiger Sicherheitskräfte und staatlich

organisierter Milizen (Shabiha). So entwickelte sich im Laufe der Zeit ein zunehmend

komplexer werdender bewaffneter Konflikt (AA 13.11.2018). Die tiefer liegenden

Ursachen für den Konflikt sind die Willkür und Brutalität des syrischen

Sicherheitsapparats, die soziale Ungleichheit und Armut vor allem in den ländlichen

Gegenden Syriens, die weit verbreitete Vetternwirtschaft und nicht zuletzt konfessionelle

Spannungen (Spiegel 29.8.2016).

 

Die syrische Verfassung sieht die Ba'ath-Partei als die regierende Partei vor und stellt

sicher, dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden hat (USDOS

30.3.2021). Die Verfassungsreform von 2012 lockerte die Regelungen bezüglich der

politischen Partizipation anderer Parteien. In der Praxis unterhält die Regierung jedoch

noch immer einen mächtigen Geheimdienst- und Sicherheitsapparat zur Überwachung

von Oppositionsbewegungen, die sich zu ernstzunehmenden Konkurrenten der Regierung

Assads entwickeln könnten (FH 1.2018).

 

Wahlen in Syrien dienen nicht dazu, Entscheidungsträger zu finden, sondern dem Staat

den Anschein eines demokratischen Verfahrens zu geben, Normalität zu demonstrieren

und die Fassade von demokratischen Prozessen aufrechtzuerhalten (BS 29.4.2020).

Mitte September 2018 wurden in den von der syrischen Regierung kontrollierten Gebieten

zum ersten Mal seit 2011 wieder Kommunalwahlen abgehalten (IFK 10.2018; vgl. WKO

11.2018). Der Sieg von Assads Ba'ath Partei galt als wenig überraschend. Geflohene und

Binnenvertriebene waren von der Wahl ausgeschlossen (WKO 11.2018).

 

Im Juli 2020 fanden nach zweimaligem Verschieben des Wahltermins aufgrund der COVID-

19-Pandemie die dritten Parlamentswahlen seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs statt.

Die herrschende Ba'ath-Partei von Präsident Bashar al-Assad gewann wie erwartet die

Mehrheit. Die Ba'ath-Partei und deren Verbündete schlossen sich zum Bündnis der

"Nationalen Einheit" zusammen (DS 21.7.2020) und gewannen zumindest 177 der 250

Sitze (TWP 22.7.2020; vgl. AJ 22.7.2020), laut einer anderen Quelle 183 von 250 Sitzen (DS

21.7.2020). Es gab Vorwürfe des Betrugs, der Wahlfälschung und der politischen

Einflussnahme. Kandidaten wurden in letzter Minute von den Wahllisten gestrichen und

durch vom Regime bevorzugte Kandidaten ersetzt, darunter Kriegsprofiteure, Warlords

und Schmuggler, die das Regime im Zuge des Konflikts unterstützten (TWP 22.7.2020). Der

Wahlprozess soll so strukturiert sein, dass eine Manipulation des Regimes möglich ist.

Syrische Bürger können überall wählen, und es gibt keine Liste der registrierten Wähler in

Wahllokalen, somit gibt es keinen Mechanismus, um zu überprüfen, ob Personen an

verschiedenen Wahllokalen mehrfach gewählt haben. Jede Partei oder jeder Kandidat, der

kandidieren möchte, muss die Namen seiner Mitglieder nach denen der Ba'ath-Partei

auflisten, so dass jeder, der kandidiert, automatisch die Namen der Ba'ath-Mitglieder in

den Vordergrund rückt. Druckereien dürfen auf Anordnung des Geheimdienstes keine

Listen ohne die Namen der Ba'ath-Kandidaten drucken. Daher ist jeder, der kandidiert,

standardmäßig nur ein Zusatz zu den Ba'ath-Kandidaten (AAN/MEI 24.7.2020).

Im Mai 2021 wurden in den von der Regierung kontrollierten Gebieten und einigen

syrischen Botschaften im Ausland Präsidentschaftswahlen abgehalten, bei denen Bashar

al-Assad mit 95,1% gewann und damit für eine weitere Amtsperiode von sieben Jahren

wiedergewählt wurde. Zwei kaum bekannte Personen sind als Gegenkandidaten

angetreten und erhielten 1,5% und 3,3% der Stimmen (DS 28.5.2021; vgl. Reuters

28.5.2021). Politiker der Exilopposition waren von der Wahl ausgeschlossen. Die

Europäische Union erkennt die Wahl nicht an, westliche Regierungen bezeichnen sie als

"weder frei noch fair" und "betrügerisch" und die Opposition nannte sie eine "Farce" (DS

28.5.2021).

 

Durch massive syrische und russische Luftangriffe und das Eingreifen Irans bzw. durch Iran

unterstützter Milizen hat das syrische Regime mittlerweile alle Landesteile außer Teile des

Nordwestens, Nordens und Nordostens von der bewaffneten Opposition zurückerobert

(AA 4.12.2020).

 

Die Anzahl der Kampfhandlungen ist nach Rückeroberung weiter Landesteile

zurückgegangen, jedoch besteht die Absicht des syrischen Regimes, das gesamte

Staatsgebiet zurückerobern und "terroristische" Kräfte vernichten zu wollen, unverändert

fort. Zuletzt erklärte Assad im August 2020 bei einer Rede vor dem syrischen Parlament

die "Befreiung" aller syrischen Gebiete zum prioritären Ziel. Trotz der großen

Gebietsgewinne durch das Regime besteht die Fragmentierung des Landes in Gebiete, in

denen die territoriale Kontrolle von unterschiedlichen Gruppierungen ausgeübt wird, fort.

Dies gilt insbesondere für den Nordwesten und Nordosten des Landes (AA 4.12.2020).

[Anm.: Nähere Informationen finden sich im Kapitel "Sicherheitslage".] Die Präsenz

ausländischer Streitkräfte, die ihren politischen Willen geltend machen, untergräbt

weiterhin die staatliche Souveränität, und Zusammenstöße zwischen bewaffneten

regimefreundlichen Gruppen deuten darauf hin, dass die Regierung nicht in der Lage ist,

die Akteure vor Ort zu kontrollieren. Darüber hinaus hat eine aufstrebende Klasse

wohlhabender Kriegsprofiteure begonnen, ihren wirtschaftlichen Einfluss und den Einfluss

von ihnen finanzierter Milizen zu nutzen, und innerhalb der staatlichen Strukturen nach

legitimen Positionen zu streben (BS 29.4.2020).

 

Durch die Eskalation des Syrien-Konfliktes verlagerte sich die Macht zu regieren in den von

der syrischen Regierung kontrollierten Gebieten zunehmend auf die Sicherheitskräfte. In

Gebieten außerhalb der Kontrolle der Regierung ist dies nicht anders. Extremistische

Rebellengruppierungen, darunter vor allem Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS), haben die

Vorherrschaft in Idlib. Lokalräte werden von militärischen Einheiten beherrscht, die

momentan unter der Kontrolle von HTS stehen. In den kurdischen Gebieten in Nordsyrien

dominiert die Partei der Demokratischen Union (PYD). Obwohl es Lippenbekenntnisse zur

Integration arabischer Vertreter in Raqqa und Deir ez-Zour gibt, ist die Dominanz der PYD

bei der Entscheidungsfindung offensichtlich. Die PYD hat zwar eine Reihe von

Verwaltungsorganen auf verschiedenen Ebenen eingerichtet, es ist jedoch ein

kompliziertes System mit sich überschneidenden Zuständigkeiten, das es für die Bürger

schwierig macht, sich an der Politik zu beteiligen, wenn sie nicht bereits in die Parteikader

integriert sind (BS 29.4.2020). Die PYD [ihrerseits nicht von EU oder USA verboten, Anm.]

gilt als syrischer Ableger der verbotenen türkisch-kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans

(PKK) (KAS 4.12.2018a).

 

2011 soll es zu einem Übereinkommen zwischen der syrischen Regierung, der iranischen

Regierung und der PKK, deren Mitglieder die PYD gründeten, gekommen sein. Die PYD,

ausgestattet mit einem bewaffneten Flügel, den Volksverteidigungseinheiten (YPG), hielt

die kurdische Bevölkerung in den Anfängen des Konfliktes davon ab, sich effektiv an der

Revolution zu beteiligen. Demonstrationen wurden aufgelöst, Aktivisten festgenommen,

Büros des Kurdischen Nationalrats in Syrien, einer Dachorganisation zahlreicher syrischkurdischer Parteien, angegriffen. Auf diese Weise musste die syrische Armee keine "zweite Front" in den kurdischen Gebieten eröffnen und konnte sich auf die Niederschlagung der Revolution in anderen Gebieten konzentrieren. Als Gegenleistung zog das Ba'ath-Regime

Stück für Stück seine Armee und seinen Geheimdienst aus den überwiegend kurdischen

Gebieten zurück. In der zweiten Jahreshälfte 2012 wurden Afrin, Ain al-Arab (Kobane) und

die Jazira von der PYD und der YPG übernommen, ohne dass es zu erwähnenswerten

militärischen Auseinandersetzungen mit der syrischen Armee gekommen wäre (Savelsberg

8.2017). Im März 2016 wurde in dem Gebiet, das zuvor unter dem Namen "Rojava"

bekannt war, die Democratic Federation of Northern Syria ausgerufen, die sich über Teile

der Provinzen Hassakah, Raqqa und Aleppo und auch über Afrin erstreckte (SWP 7.2018;

vgl. KAS 4.12.2018a). Afrin im Nordwesten Syriens wird von der Türkei und alliierten

syrischen oppositionellen Milizen kontrolliert (BBC 28.4.2020).

 

Die syrischen Kurden unter Führung der PYD beanspruchen in den

Selbstverwaltungskantonen ein Gesellschaftsprojekt aufzubauen, das nicht von

islamistischen, sondern von basisdemokratischen Ideen, von Geschlechtergerechtigkeit,

Ökologie und Inklusion von Minderheiten geleitet ist. Während Befürworter das syrischkurdische Gesellschaftsprojekt als Chance für eine künftige demokratische Struktur Syriens sehen, betrachten Kritiker es als realitätsfremd und autoritär (KAS 4.12.2018a). Das Ziel der PYD ist nicht die Gründung eines kurdischen Staates in Syrien, sondern die Autonomie

der kurdischen Kantone als Bestandteil eines neuen, demokratischen und dezentralen

Syriens (KAS 4.12.2018a; vgl. BS 29.4.2020). Die PYD hat sich in den kurdisch kontrollierten

Gebieten als die mächtigste politische Partei im sogenannten Kurdischen Nationalrat

etabliert, ähnlich der hegemonialen Rolle der Ba'ath-Partei in der Nationalen Front (BS

2018). Die PYD kontrollierte im Allgemeinen die politische und staatliche Landschaft in

Nordostsyrien, während sie eine arabische Vertretung in den lokalen Regierungsräten

zuließ. Die Partei behielt jedoch die Gesamtkontrolle über kritische Entscheidungen der

lokalen Räte. Der PYD nahestehende interne Sicherheitskräfte haben Berichten zufolge

zeitweise vermeintliche Gegner festgenommen und verschwinden lassen (USDOS

30.3.2021). Ihr militärischer Arm, die YPG sind zudem die dominierende Kraft innerhalb

des Militärbündnisses Syrian Democratic Forces (SDF). Der Krieg gegen den IS forderte

zahlreiche Opfer und löste eine Flüchtlingswelle in die kurdischen Selbstverwaltungsgebiete aus. Die syrischen Kurden stehen zwischen mehreren Fronten und können sich auf keinen stabilen strategischen Partner verlassen (KAS 4.12.2018a).

 

Die syrische Regierung erkennt die kurdische Enklave oder Wahlen, die in diesem Gebiet

durchgeführt werden, nicht an (USDOS 30.3.2021). Im Zuge einer türkischen

Militäroffensive, die im Oktober 2019 gestartet wurde, kam es jedoch zu einer Einigung

zwischen beiden Seiten, da die kurdischen Sicherheitskräfte die syrische Zentralregierung

um Unterstützung in der Verteidigung der kurdisch kontrollierten Gebiete baten. Die

syrische Regierung ist daraufhin in mehrere Grenzstädte eingerückt (DS 15.10.2019).

 

Sicherheitslage

Letzte Änderung: 25.06.2021

Die folgende Karte zeigt Kontrollgebiete unterschiedlicher Akteure in Syrien mit Stand Juni

2021:

Liveuamap 21.6.2021

Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Luftunterstützung

für Assads Streitkräfte sowie die erheblich ausgeweitete indirekte Bodenintervention Irans

in Form eines Einsatzes ausländischer Milizen konnten 2015 den Zusammenbruch des

syrischen Regimes abwenden (KAS 4.12.2018b). Mitte des Jahres 2016 kontrollierte die

syrische Regierung ca. ein Drittel des syrischen Staatsgebietes, inklusive der "wichtigsten"

Städte im Westen, in denen der Großteil der Syrer lebt (Reuters 13.4.2016). Durch massive

syrische und russische Luftangriffe und das Eingreifen Irans bzw. durch Iran unterstützter

Milizen hat das syrische Regime mittlerweile alle Landesteile außer Teile des

Nordwestens, Nordens und Nordostens von der bewaffneten Opposition zurückerobert.

Trotz weitreichender militärischer Erfolge des syrischen Regimes und seiner Unterstützer

sind Teile Syriens noch immer von Kampfhandlungen betroffen. Seit März 2020 sind

Kampfhandlungen reduziert, dauern jedoch in mehreren Frontgebieten nach wie vor an

(AA 4.12.2020). Der Menschrenrechtsmonitor Syrian Network for Human Rights spricht

sogar von einem Rückgang an Militäroperationen von 85%, wobei die verbleibenden

Militäroperationen sich hauptsächlich auf Bodenoffensiven konzentrieren, bei denen es

jedoch nicht mehr zu maßgeblichem Vorrücken kommt (SHNR 26.1.2021).

 

Die faktische Ausübung der Kontrolle durch das syrische Regime unterscheidet sich stark

von Gebiet zu Gebiet. Die verbleibenden Gebiete unterliegen keiner oder nur teilweiser

Kontrolle des syrischen Regimes: Im Nordwesten werden Teile der Gouvernements

Lattakia, Idlib und Aleppo durch die von den Vereinten Nationen als Terrororganisation

eingestufte bewaffnete Oppositionsgruppe Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) sowie Türkeinahe

bewaffnete Gruppierungen kontrolliert. Gebiete im Norden und Nordosten entlang

der Grenze zur Türkei werden durch die Türkei und ihr nahestehende bewaffnete

Gruppierungen kontrolliert. Weitere Gebiete in Nord- und Nordost-Syrien werden durch

die kurdisch dominierten Syrian Democratic Forces (SDF) sowie punktuell durch das

syrische Regime kontrolliert. Das Assad-Regime hat wiederholt öffentlich erklärt, dass die

militärische Rückeroberung des gesamten Staatsgebietes weiterhin sein erklärtes Ziel sei

(AA 4.12.2020).

 

Auch in Landesteilen, in denen Kampfhandlungen mittlerweile abgenommen haben,

besteht weiterhin ein hohes Risiko, Opfer von Gewalt und Übergriffen zu werden (AA

4.12.2020). Dies gilt auch für vermeintlich friedlichere Landesteile im äußersten Westen

Syriens sowie die Hauptstadt Damaskus (AA 19.5.2020).

 

43% der besiedelten Gebiete Syriens gelten als mit Minen und Fundmunition

kontaminiert. Die Großstädte Aleppo, Raqqa, Homs, Dara‘a und Deir ez-Zour sowie

zahlreiche Vororte von Damaskus sind hiervon nach wie vor besonders stark betroffen (AA

4.12.2020). Es kommt immer wieder zu Zwischenfällen mit derartigen

Hinterlassenschaften des bewaffneten Konfliktes (DIS/DRC 2.2019). An Orten wie den

Provinzen Aleppo, Dara'a, dem Umland von Damaskus, Idlib, Raqqa und Deir ez-Zour führt

die Explosionsgefahr zu Verletzungen und Todesfällen, sie schränkt den sicheren Zugang

zu Dienstleistungen ein und behindert die Bereitstellung humanitärer Hilfe. Mit Stand Juni

2020 leben 11,5 Millionen Menschen in den 2.562 Gemeinden, die in den letzten zwei

Jahren von einer Kontamination durch Minen und explosive Hinterlassenschaften des

Konflikts berichtet haben (UNMAS 6.2020).

 

Der sogenannte Islamische Staat (IS) kontrollierte im Sommer 2014 große Teile Syriens

und des Irak (FAZ 10.3.2019). Ende März 2019 wurde mit Baghouz die letzte Bastion des IS

von den oppositionellen Syrian Democratic Forces (SDF) erobert (DZ 24.3.2019). Im

Oktober 2019 wurde der Gründer und Anführer des IS, Abu Bakr Al-Baghdadi, bei einem

U.S.-Spezialkräfteeinsatz in Nordwest-Syrien getötet (AA 19.5.2020). Der IS ist zwar

zerschlagen, verfügt aber noch immer über militärische Einheiten, die sich in den

Wüstengebieten Syriens und des Irak versteckt halten (DZ 24.3.2019), und ist im

Untergrund aktiv (AA 4.12.2020). Nach dem Verlust der territorialen Kontrolle verlagerte

der IS seine Strategie hin zu aufständischen Methoden, wie gezielte Angriffe, u.a.

Autobomben, Überfälle, und Attentate (DIS 29.6.2020). Schläferzellen des IS sind sowohl

im Irak als auch in Syrien weiterhin aktiv (FAZ 10.3.2019), sowohl in syrischen Städten als

auch in ländlichen Gebieten, besonders in den von der Regierung kontrollierten Gebieten

(DIS 29.6.2020). Im Untergrund sollen mehr als 20.000 IS-Kämpfer auf eine Gelegenheit

zur Rückkehr warten (FAZ 22.3.2019). Generell nimmt die Präsenz des IS in Syrien wieder

zu, auch in Landesteilen unter Regimekontrolle. Es sind zuletzt Berichte über Anschläge in

Damaskus, Idlib, Homs sowie dem Süden und Südwesten des Landes und der

zentralsyrischen Wüste bekannt geworden. Der Schwerpunkt der Anschläge liegt im

Nordosten des Landes (AA 4.12.2020). Mitte 2020 gehörten zu den Zielpersonen des IS vor

allem lokale Behörden und Personen, die mit den Behörden, Kräften und Gruppen, die

gegen den IS kämpfen, zusammenarbeiten oder als mit ihnen kooperierend

wahrgenommen werden (DIS 29.6.2020). Der IS profitierte von einem Sicherheitsvakuum,

das dadurch entstand, dass die verschiedenen militärischen Kräfte ihre Aktivitäten

aufgrund der COVID-19-Pandemie reduzierten (USDOS 30.3.2021).

 

Nachdem der ehemalige US-Präsident Donald Trump Anfang Oktober 2019 erneut

ankündigte, die US-amerikanischen Truppen aus der syrisch-türkischen Grenzregion

abzuziehen, startete die Türkei am 9. Oktober 2019 eine Luft- und Bodenoffensive im

Nordosten Syriens ("Operation Friedensquelle") (CNN 11.10.2019; vgl. AA 19.5.2020).

Durch den Abzug der US-Streitkräfte aus Nordsyrien und die türkische Offensive und die

damit einhergehende Schwächung der kurdischen Sicherheitskräfte wurde ein

Wiedererstarken des IS befürchtet (DS 13.10.2019; vgl. DS 17.10.2019). Die USA

patrouillieren seit dem 31.10.2019 weiterhin in weiten Teilen des Nordostens (AA

4.12.2020).

 

Die NGO Syrian Network for Human Rights (SNHR) versucht die Zahlen ziviler Todesopfer

zu erfassen. Getötete Kämpfer werden in dem Bericht nicht berücksichtigt, außer in der

Zahl der aufgrund von Folter getöteten Personen, welche Zivilisten und Kämpfer

berücksichtigt. Betont wird außerdem, dass die Organisation in vielen Fällen

Vorkommnisse nicht dokumentieren konnte, besonders im Fall von "Massakern", bei

denen Städte und Dörfer komplett abgeriegelt wurden. Die hohe Zahl solcher Berichte

lässt darauf schließen, dass die eigentlichen Zahlen ziviler Opfer weit höher als die unten

angegebenen sind. Zudem sind die Möglichkeiten zur Dokumentation von zivilen Opfern

auch von der jeweiligen Konfliktpartei, die ein Gebiet kontrolliert, abhängig (SNHR

1.1.2020; vgl. SNHR 1.1.2021).

Die folgende Grafik zeigt die von SNRH dokumentierte Zahl der zivilen Opfer, die von den

Konfliktparteien in Syrien im Jahr 2020 getötet wurden:

Die folgende Grafik zeigt die von SNRH dokumentierte Zahl der zivilen Opfer, die von den

Konfliktparteien in Syrien zwischen Jänner und Mai 2021 getötet wurden:

SNHR 1.6.2021

Laut Daten des Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) gab es im Jahr 2020

für die syrischen Provinzen folgende Zahlen an Vorfällen und Todesopfern:

Der Großteil der von ACLED gesammelten Daten basiert auf öffentlich zugänglichen

Sekundärquellen. Die Daten können daher das Ausmaß an Vorfällen unterschätzen.

Insbesondere Daten zur Anzahl an Todesopfern sind den Gefahren der Verzerrung und der

ungenauen Berichterstattung ausgesetzt. ACLED gibt an, konservative Schätzungen zu

verwenden (ACLED/ACCORD 25.3.2021).

 

Versöhnungsabkommen

Letzte Änderung: 25.06.2021

Die sogenannten Versöhnungsabkommen sind Vereinbarungen, die ein Gebiet, das zuvor

unter der Kontrolle einer oppositionellen Gruppierung stand, offiziell wieder unter die

Kontrolle des Regimes bringen (STDOK 8.2017). Der Abschluss der sogenannten

"Reconciliation Agreements" folgt in der Regel einem Muster, das mit realer Versöhnung

wenig gemeinsam hat (ÖB 29.9.2020). Die Regierung bietet, meist nach schwerem

Beschuss oder Belagerung, ein Versöhnungsabkommen an, das an verschiedene

Bedingungen geknüpft ist (STDOK 8.2017; vgl. ÖB 29.9.2020). Diese Bedingungen

unterscheiden sich von Abkommen zu Abkommen (STDOK 8.2017). Sie beinhalteten oft

die Evakuierung von Rebellenkämpfern und deren Familien, die dann in andere Regionen

des Landes (zumeist im Norden) verbracht werden. Sie werden also auch dazu benutzt,

Bevölkerungsgruppen umzusiedeln (ÖB 29.9.2020). Die Wehrpflicht war bisher meist ein

zentraler Bestandteil der Versöhnungsabkommen (AA 13.11.2018). Manche

Vereinbarungen besagen, dass Männer nicht an die Front geschickt werden, sondern

stattdessen bei der örtlichen Polizei eingesetzt werden, oder dass sich Personen

verpflichten müssen, der Regierung z.B. für Spionage zur Verfügung zu stehen (STDOK

8.2017).

 

Im Rahmen von Versöhnungsvereinbarungen gemachte Garantien der Regierung

gegenüber Individuen oder Gemeinschaften werden jedoch nicht eingehalten (EIP 6.2019;

vgl. AA 4.12.2020, FIS 14.12.2018). In zuvor jahrelang von der bewaffneten Opposition

kontrollierten Gebieten berichten syrische Menschenrechtsorganisationen weiterhin von

einer Zunahme willkürlicher Befragungen und Verhaftungen durch das syrische Regime.

Zuletzt wurde nach Ablauf einer in den sog. Versöhnungsabkommen ausgehandelten

einjährigen Frist auch aus den ehemaligen Oppositionshochburgen Ost-Ghouta sowie

Dara‘a und Quneitra im Süden Syriens ein erneuter Anstieg von Verhaftungen als

oppositionell geltender Personen oder humanitärer Helfer sowie Zwangsrekrutierungen

berichtet. Während ein Versöhnungsabkommen in einer Region geachtet wird, kann dies

bei Überquerung eines Checkpoints bereits missachtet werden, und es kann zu

willkürlichen Verhaftungen kommen (AA 4.12.2020). Berichten zufolge sind Personen in

Gebieten, die erst vor kurzer Zeit durch die Regierung wiedererobert wurden, aus Angst

vor Repressalien zurückhaltend, über die Situation in diesen Gebieten zu berichten

(USDOS 30.3.2021).

 

Gebiete unter Regierungskontrolle inkl. Damaskus und Umland, Westsyrien

etzte Änderung: 11.02.2021

 

Mit großer militärischer Unterstützung der russischen Luftwaffe und iranischer

Bodentruppen hat das Assad-Regime mittlerweile etwa zwei Drittel des Landes wieder

unter seine Kontrolle gebracht (KAS 8.2020).

 

Der Westen des Landes, insbesondere Tartous und Lattakia, war im Verlauf des Konflikts

vergleichsweise weniger von aktiven Kampfhandlungen betroffen (AA 19.5.2020; vgl. ÖB

29.9.2020). In den größeren Städten und deren Einzugsgebieten wie Damaskus, Homs und

Hama stellt sich die Sicherheitslage im September 2020 als relativ stabil dar. Im Osten der

Provinz Homs ist der sogenannte Islamische Staat (IS) aktiv. Es kommt immer wieder zu

Anschlägen und Überfällen auf Einheiten/Konvois der syrischen Armee (ÖB 29.9.2020).

Aktuell kommt es in westlichen Landesteilen nur sehr vereinzelt zu militärischen

Auseinandersetzungen, vorwiegend im Grenzgebiet zwischen Lattakia und Idlib (AA

4.12.2020).

 

Die Regierung besitzt nicht die nötigen Kapazitäten, um alle von ihr gehaltenen Gebiete

auch tatsächlich zu kontrollieren. Daher greift die Regierung auf unterschiedliche Milizen

zurück, um manche Gegenden und Checkpoints in Aleppo, Lattakia, Tartous, Hama, Homs

und Deir ez-Zour zu kontrollieren. Es gibt auch Berichte, wonach es in einigen Gebieten zu

Zusammenstößen sowohl zwischen den unterschiedlichen Pro-Regierungs-Milizen als auch

zwischen diesen und Regierungstruppen gekommen ist (DIS/DRC 2.2019). Auch in

Landesteilen, in denen Kampfhandlungen mittlerweile abgenommen haben, wie im

Westen Syriens und in Damaskus, besteht laut deutschem Auswärtigen Amt weiterhin ein

hohes Risiko, Opfer von Gewalt und Übergriffen zu werden (AA 4.12.2020). Dies betrifft

u.a. Verschwindenlassen, Entführungen und willkürliche Verhaftungen durch

Sicherheitsdienste oder Milizen (AA 19.5.2020; vgl. UNHRC 14.8.2020).

 

In den ersten Monaten des Jahres 2018 erlebte Ost-Ghouta, nahe der Hauptstadt

Damaskus, die heftigste Angriffswelle der Regierung seit Beginn des Bürgerkrieges (DP

1.4.2018). Mitte April 2018 wurde die Militäroffensive der syrischen Armee auf die

Rebellenenklave von Seiten der russischen Behörden und der syrischen Streitkräfte für

beendet erklärt (DS 15.4.2018; vgl. SD 12.4.2018). Ende Mai 2018 zogen sich die letzten

Rebellen aus dem Großraum Damaskus zurück, wodurch die Hauptstadt und ihre

Umgebung erstmals wieder in ihrer Gesamtheit unter der Kontrolle der Regierung standen

(Spiegel 21.5.2018; vgl. ISW 1.6.2018). Seitdem hat sich die Sicherheitslage in Damaskus

und Damaskus-Umland (Rif Dimashq) deutlich verbessert (DIS/DRC 2.2019). Anfang des

Jahres 2020 kam es in Damaskus und Damaskus-Umland zu wiederholten Anschlägen, bei

denen bestimmte Personen (Zivilisten oder Militärpersonal) mittels Autobomben ins Visier

genommen wurden (TSO 10.3.2020).

 

Israel führt immer wieder Luftangriffe auf Militärstützpunkte, die (auch) von den

iranischen Revolutionsgarden und verbündeten Milizen genützt werden, durch. Diese

wurden 2020 zunehmend auf Ziele in ganz Syrien ausgeweitet (ÖB 29.9.2020). Im August

2020 griffen israelische Flugzeuge wieder militärische Ziele im Süden Syriens an, als

Vergeltung für einen Angriff auf die israelisch besetzten syrischen Golanhöhen (BBC

4.8.2020; vgl. FAZ 4.8.2020). Auch Anfang September wurde über Angriffe der israelischen

Luftwaffe auf Posten der Armee sowie pro-iranischer Milizen in Damaskus und im Süden

des Landes berichtet (DS 1.9.2020). Das israelische Militär führt weiterhin Luftschläge auf

iranische Stellungen und Stellungen iranischer Milizen in Syrien durch (AA 4.12.2020; vgl.

UNHCR 14.8.2020).

 

Provinz Deir ez-Zour / Syrisch-Irakisches Grenzgebiet

Letzte Änderung: 11.02.2021

Dem sogenannten Islamischen Staat (IS) war es nach Kämpfen mit der Nusra-Front und

gegnerischen arabischen Stämmen im Juli 2014 gelungen, die Provinz Deir ez-Zour fast

vollständig einzunehmen. 2017 führte die syrische Armee mit Unterstützung Russlands

und des Iran größere Militäroperationen durch, die zur Rückeroberung der Stadt Deir ez-

Zour führten. Bis Ende 2017 verlor der IS den größten Teil seines Territoriums auf der

Westseite des Euphrat. Auf der östlichen Seite des Flusses waren die Syrian Democratic

Forces (SDF) bis Anfang 2019 in heftige Kämpfe mit dem IS verwickelt. Der IS kontrollierte

damals noch ein kleines Stück Land nahe der syrisch-irakischen Grenze (EASO 5.2020). Im

März 2019 wurde das letzte vom IS gehaltene Gebiet, das Dorf Baghouz, von den SDF

eingenommen (EASO 5.2020; vgl. DZ 24.3.2019). In den Wochen davor hatten bereits

Tausende IS-Kämpfer aufgegeben und sich den SDF-Truppen gestellt. Gleichzeitig sind

mehr als 70.000 Flüchtlinge aus dem IS-Gebiet in dem von Kurden kontrollierten Lager Al-

Hol untergekommen, wo Hilfsorganisationen von einer dramatischen humanitären Lage

berichten (DZ 24.3.2019).

 

Der IS ist zwar zerschlagen, verfügt aber noch immer über militärische Einheiten, die sich

in den Wüstengebieten Syriens und des Irak versteckt halten (DZ 24.3.2019; vgl. DIS

29.6.2020) und von denen nach wie vor eine Gefahr ausgeht (FAZ 22.3.2019; vgl. AA

4.12.2020). Schläferzellen des IS sind in Syrien weiterhin aktiv, sowohl in syrischen Städten

als auch in ländlichen Gebieten, und besonders in den von der Regierung kontrollierten

Gebieten (DIS 29.6.2020). Generell nimmt die Präsenz des IS in Syrien wieder zu (AA

4.12.2020)

 

Das Gebiet von Deir ez-Zour gilt als Kerngebiet der IS-Aktivität in Syrien, vor allem die

Gebiete im Süden von Bosaira in Richtung Diban (BBC 27.10.2019). Im ersten Quartal 2020

fanden die meisten Anschläge des IS in der Region Deir ez-Zour statt, vor allem in Deir ez-

Zour-Stadt und den umliegenden Gebieten (DIS 29.6.2020).

 

Mit Stand März 2020 steht der östlich des Euphrats gelegene Teil der Provinz Deir ez-Zour

unter der Kontrolle der SDF. Ein anderer Teil der Provinz steht unter Kontrolle der

syrischen Armee. Die USA haben, trotz ihrer ursprünglichen Pläne, sich aus dem

Nordosten Syriens zurückzuziehen, beschlossen, rund 500 Soldaten in Deir ez-Zour

stationiert zu lassen. Vor dem Hintergrund der Eroberung des ehemals vom IS

kontrollierten Gebiet sowohl durch die syrischen Regierungstruppen als auch durch die

SDF gibt es Berichte über zunehmende Spannungen zwischen den Bewohnern dieser

Gebiete und den sie kontrollierenden Kräften (EASO 5.2020).

 

Rechtsschutz / Justizwesen

Gebiete unter der Kontrolle des syrischen RegimesLetzte Änderung: 25.06.2021

Das Justizsystem Syriens besteht aus Zivil-, Straf-, Militär-, Sicherheits- und religiösen

Gerichten sowie einem Kassationsgericht. Gerichte für Personenstandsangelegenheiten

regeln das Familienrecht (SLJ 5.9.2016). 2012 wurde in Syrien ein Anti-Terror-Gericht

(Counter Terrorism Court – CTC) eingerichtet. Dieses soll Verhandlungen aufgrund

"terroristischer Taten" gegen Zivilisten und Militärpersonal führen, wobei die Definition

von Terrorismus im entsprechenden Gesetz sehr weit gefasst ist (SJAC 9.2018). Zahlreiche

Berichte kritisieren das CTC und die Militärgerichte wegen Mängeln bezüglich eines fairen

Verfahrens (USDOS 30.3.2021; vgl. FH 4.3.2020). Die Verhandlungen sollen als Beweise oft

nur unter Folter erzwungene Geständnisse enthalten (USDOS 11.3.2020) und

Militärgerichte können beispielsweise die Bestellung eines Rechtsanwaltes verweigern

(EIP 6.2019). Die Richter der Militärgerichte sind zudem weder unparteiisch noch

unabhängig, da sie der militärischen Befehlskette unterstehen (FH 4.3.2020). Formal

existieren Einspruchsmöglichkeiten bei Entscheidungen von Zivilgerichten. De facto ist

dies jedoch schwierig, bei sicherheitsrelevanten Anklagen – insbesondere Terrorismus oder

Spionagevorwürfen – sogar unmöglich (BS 29.4.2020).

 

Die Verfassung sieht eine unabhängige Justiz vor, die Behörden üben auf die Gerichte

jedoch oft politischen Einfluss aus. Staatsanwälte und Strafverteidiger sind oft Gegenstand

von Einschüchterung und Misshandlung. Die Ergebnisse von Fällen mit politischem

Kontext scheinen schon vorbestimmt zu sein (USDOS 30.3.2021). Das Justizsystem in

Syrien kann nicht als unabhängig und transparent angesehen werden. Es steht unter der

Kontrolle der Exekutivgewalt und ihrer Zweige (ÖB 29.9.2020; vgl. AA 4.12.2020), und

Richter und Staatsanwälte müssen im Grunde genommen der Ba'ath-Partei angehören

und sind in der Praxis der politischen Führung verpflichtet (FH 4.3.2020).

 

In Syrien vorherrschend und von langer Tradition ist eine Diskrepanz zwischen dem

geschriebenen Recht und der Implementierung der Gesetze in der Praxis. Die in den

letzten Jahren noch angewachsene und weit verbreitete Korruption hat diese Diskrepanz

noch zusätzlich verstärkt (ÖB 29.9.2020). Die Unabhängigkeit der syrischen Justiz war

bereits vor dem Aufstand mangelhaft. Der Aufstand und der bewaffnete Konflikt in Syrien

gehen mit massiver Repression, grassierender Korruption und einer Politisierung des

Gerichtswesens und der Justiz durch die Regierung einher. Mittlerweile sind syrische

Gerichte, ganz gleich ob Straf-, Zivil- oder Verwaltungsgerichtsbarkeit, korrupt, nicht

unabhängig, und werden für politische Zwecke missbraucht. In keinem Teil Syriens gibt es

Rechtssicherheit oder verlässlichen Schutz vor politischer Verfolgung, willkürlicher

Verhaftung und Folter (AA 4.12.2020). Die Rechtsstaatlichkeit ist schwach ausgeprägt,

wenn nicht mittlerweile gänzlich durch eine Situation der Straffreiheit untergraben, in der

Angehörige von Sicherheitsdiensten ohne strafrechtliche Konsequenzen und ohne jegliche

zivile Kontrolle operieren können (ÖB 29.9.2020; vgl. BS 29.4.2020). Innerhalb der

Sicherheitsdienste ist der Luftwaffennachrichtendienst dafür bekannt, der geringsten

Kontrolle zu unterliegen (BS 29.4.2020).

 

Die Verfassung sieht das Recht auf ein unabhängiges Gerichtsverfahren vor. Die Justiz

setzt dieses Recht im Allgemeinen nicht durch. Regierungsbehörden verhafteten

Zehntausende Menschen, u.a. Menschenrechtsaktivisten, Journalisten, religiöse Führer

sowie Mitarbeiter von NGOs, Hilfsorganisationen und medizinischen Einrichtungen ohne

diesen Zugang zu einem fairen öffentlichen Verfahren zu garantieren. Berichten zufolge

werden Verdächtige auch ohne Kontakt zur Außenwelt („incommunicado“) und für

überlange Zeit festgehalten. Bei Vorwürfen, welche die nationale Sicherheit betreffen,

wird häufig von geheimen Verhaftungen berichtet (USDOS 30.3.2021).

 

Die Verwaltung in den von der Regierung kontrollierten Gebieten arbeitet in

Routineangelegenheiten mit einer gewissen Zuverlässigkeit, vor allem in

Personenstandsangelegenheiten (AA 4.12.2020). Die religiösen Gerichte behandeln das

Familien- und Personenstandsrecht und regeln Angelegenheiten wie Eheschließungen,

Scheidungen, Erb- und Sorgerecht (IA 7.2017). Hierbei sind Scharia-Gerichte für

sunnitische und schiitische Muslime zuständig. Drusen, Christen und Juden haben ihre

eigenen gerichtlichen Strukturen. Für diese Gerichte gibt es auch eigene

Berufungsgerichte (SLJ 5.9.2016). Manche Personenstandsgesetze wenden die Scharia

unabhängig von der Religionszugehörigkeit der Beteiligten an (USDOS 30.3.2021).

Es gibt Möglichkeiten zur Rückforderung von Wohnungs-, Land- und Eigentumsrechten.

Das syrische Regime erschwert die Inanspruchnahme von Rechtsbeistand und Beratung in

diesem Bereich jedoch, indem es die hierfür zugelassenen Rechtsanwälte einer

Sicherheitsüberprüfung unterzieht (BS 29.4.2020).

 

Siehe hierzu auch Kapitel "Korruption".

Gebiete außerhalb der Kontrolle des Regimes

 

Letzte Änderung: 25.06.2021

In Gebieten außerhalb der Kontrolle des syrischen Regimes ist die Lage von Justiz und

Verwaltung von Region zu Region und je nach den örtlichen Herrschaftsverhältnissen

verschieden (AA 4.12.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). In von oppositionellen Gruppen

kontrollierten Gebieten wurden unterschiedlich konstituierte Gerichte und Haftanstalten

aufgebaut, mit starken Unterschieden bei der Organisationsstruktur und beider Beachtung

juristischer Normen (USDOS 11.3.2020; vgl. AA 4.12.2020, USDOS 12.5.2021). Manche

Gruppen folgen dem (syrischen) Strafgesetzbuch, andere folgen einem Entwurf eines

Strafgesetzbuches auf Grundlage der Scharia, das von der Arabischen Liga aus dem Jahr

1996 stammt, während wiederum andere eine Mischung aus Gewohnheitsrecht und

Scharia anwenden. Erfahrung, Expertise und Qualifikation der Richter in diesen Gebieten

sind oft sehr unterschiedlich und häufig sind diese dem Einfluss der dominanten

bewaffneten Gruppierungen unterworfen. Urteile von Scharia-Räten der Opposition

resultieren manchmal in öffentlichen Hinrichtungen, ohne dass Angeklagte Berufung

einlegen oder Besuch von ihren Familien erhalten könnten (USDOS 11.3.2020).

 

Quellen:

AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der

Arabischen Republik Syrien,

https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/683300/684459/6

84542/6038295/22065632/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt,_Bericht_%C

3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_(Stand_November_2020)

,_04.12.2020.pdf?nodeid=22479918&vernum=-2, Zugriff 18.1.2021

 USDOS – United States Department of State [USA] (12.5.2021): 2020 Report on

International Religious Freedom – Syria,

https://www.ecoi.net/en/document/2051586.html , Zugriff 10.6.2021

USDOS – United States Department of State [USA] (30.3.2021): Country Report on

Human Rights Practices 2020 – Syria,

https://www.ecoi.net/de/dokument/2048105.html , Zugriff 10.6.2021

USDOS – United States Department of State [USA] (11.3.2020): Country Report on

Human Rights Practices 2019 – Syria,

https://www.ecoi.net/en/document/2026345.html , Zugriff 22.7.2020

 

Gebiete unter kurdischer KontrolleLetzte Änderung: 25.06.2021

Die kurdischen Behörden setzen in den von ihnen kontrollierten Gebieten einen

Rechtskodex, basierend auf einer "Sozialcharta", durch. In Berichten wird diese

"Sozialcharta" beschrieben als eine Mischung aus syrischem Straf- und Zivilrecht mit

Gesetzen, die sich in Bezug auf Scheidung, Eheschließung, Waffenbesitz und

Steuerhinterziehung an europäischem Recht orientieren. Allerdings fehlen gewisse

europäische Standards für faire Verfahren, wie das Verbot willkürlicher Festnahmen, das

Recht auf gerichtliche Überprüfung und das Recht auf einen Anwalt. Das Justizsystem in

den kurdisch kontrollierten Gebieten besteht aus Gerichten, Rechtskomitees und

Ermittlungsbehörden (USDOS 30.3.2021). Es wurde eine von der kurdischen Partei der

Demokratischen Union (PYD) geführte Verwaltung geschaffen, die neben diesen

Rechtsinstitutionen auch eine eigene Polizei, Gefängnisse und Ministerien umfasst (AI

12.7.2017). Die in den Gebieten unter kurdischer Kontrolle geschaffenen Institutionen

erscheinen zwar fortschrittlicher als jene des syrischen Regimes, sind in der Realität

allerdings nicht demokratisch und stehen unter der strikten Kontrolle der PYD (BS

29.4.2020; vgl. FH 4.3.2020).

 

Die kurdischen Behörden haben den sogenannten "Defense of the People Court"

eingerichtet, der über ehemalige Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in

kurdischer Gefangenschaft urteilen soll. Das Gericht wird jedoch weder von den syrischen

Behörden noch von der internationalen Gemeinschaft anerkannt. Die Höchststrafe, die

dieses Gericht verhängt, ist eine lebenslange Freiheitsstrafe, wobei es sich de facto um

eine zwanzigjährige Haftstrafe handelt. Gerichtsurteile werden bei guter Führung, oder

wenn sich der Angeklagte selbst den kurdischen Behörden gestellt hat, gemildert. Diese

"mildere Vorgehensweise" hat zum einen den Zweck, der arabischen

Mehrheitsbevölkerung Ost-Syriens, die den kurdischen Machthabern misstraut, guten

Willen zu zeigen, zum anderen soll dadurch die Regierungskompetenz hervorgehoben und

internationale Legitimität gewonnen werden. Das System weist jedoch auch gravierende

Mängel auf, so haben die Angeklagten keinen Zugang zu einem Verteidiger und es gibt

keine Möglichkeit, Berufung einzulegen (Ha'aretz 8.5.2018).

 

Juristen, welche unter dem Justizsystem von Rojava agieren, werden von der syrischen

Regierung beschuldigt, eine illegale Justiz geschaffen zu haben. Richter und

Justizmitarbeiter sehen sich mit Haftbefehlen der syrischen Regierung konfrontiert,

verfügen über keine Pässe und sind häufig Morddrohungen ausgesetzt (JS 28.10.2019).

Im März 2021 einigten sich Repräsentanten von kurdischen, jezidischen, arabischen und

assyrischen Stämmen im Nordosten Syriens auf die Einrichtung eines

Stammesgerichtssystems, bekannt als Madbata, für die Klärung von intertribalen

Streitigkeiten, Raubüberfällen, Rache und Plünderungen in der Jazira Region in der Provinz

Hassakah. Es besteht aus einer Reihe von Gesetzen und Bräuchen, die als Verfassung

dienen, die die Stammesbeziehungen regeln und die Anwendung dieser Gesetze

überwachen, auf die sich eine Gruppe von Stammesältesten geeinigt hat. In der Jazira

wurde wieder auf dieses traditionelle Rechtssystem zurückgegriffen, aufgrund von

schlechten Sicherheitsbedingungen und dem Fehlen einer effektiven und unparteiischen

Justiz (Al-Monitor 4.4.2021).

 

Sicherheitsbehörden und regierungstreue Milizen

Letzte Änderung: 25.06.2021

Die Regierung hat zwar die effektive Kontrolle über die uniformierten Polizei-, Militär- und

Staatssicherheitskräfte, jedoch nur beschränkten Einfluss auf ausländische militärische

oder paramilitärische Einheiten, z.B. russische Streitkräfte, die mit dem Iran verbündete

Hizbollah und die iranischen Islamischen Revolutionsgarden (USDOS 30.3.2021). Der

Präsident stützt seine Herrschaft auf die Loyalität der Streitkräfte sowie der militärischen

und zivilen Geheimdienste. Die Befugnisse dieser Dienste, die von engen Vertrauten des

Präsidenten geleitet werden und sich auch gegenseitig kontrollieren, unterliegen keinen

definierten Beschränkungen (AA 4.12.2020).

 

Straflosigkeit unter den Sicherheitsbehörden bleibt ein weit verbreitetes Problem (USDOS

30.3.2021; vgl. BS 29.4.2020). Das Generalkommando der Armee und der Streitkräfte kann

im Fall von Verbrechen von Militäroffizieren, Mitgliedern der internen Sicherheitskräfte

oder Zollpolizeioffizieren im Rahmen ihrer beruflichen Pflichten einen Haftbefehl

ausstellen. Solche Fälle müssen vor einem Militärgericht verhandelt werden (USDOS

11.3.2020). In der Praxis sind keine Fälle von Strafverfolgung oder Verurteilung von

Polizei- und Sicherheitskräften hinsichtlich Misshandlung bekannt. Es gibt auch keine

Berichte von Maßnahmen der Regierung, um die Einhaltung der Menschenrechte durch

die Sicherheitskräfte zu verbessern (USDOS 30.3.2021). Die Sicherheitskräfte operieren

unabhängig und im Allgemeinen außerhalb der Kontrolle des Justizwesens (USDOS

11.3.2020). In keinem Teil des Landes besteht ein umfassender und langfristiger Schutz

vor willkürlicher Verhaftung und Repression durch die zahlreichen Sicherheitsdienste,

Milizen und sonstige regimenahe Institutionen (AA 19.5.2020).

 

Russland, Iran, die libanesische Hizbollah (KAS 4.12.2018a; vgl. DW 20.5.2020) und

Einheiten mit irakischen Kämpfern unterstützen die syrische Regierung, unter anderem

mit Einsätzen an der Seite der syrischen Streitkräfte (KAS 4.12.2018a).

Es ist schwierig Informationen über die Aktivitäten von spezifischen Regierungs- oder

regierungstreuen Einheiten zu spezifischen Zeiten oder an spezifischen Orten zu finden,

weil die Einheiten seit dem Beginn des Bürgerkrieges oft nach Einsätzen organisiert („taskorganized“) sind oder aufgeteilt oder für spezielle Einsätze mit anderen Einheiten

zusammengelegt werden. Berichte sprechen oft von einer speziellen Militäreinheit an

einem bestimmten Einsatzort (z.B. einer Brigade), wobei die genannte Einheit aus Teilen

mehrerer verschiedener Einheiten nur für diesen speziellen Einsatz oder eine gewisse Zeit

Kämpfe um die lokale Vorherrschaft unter den verschiedenen Sicherheitsakteuren

(Offiziere, Soldaten, Miliz-Kämpfer und lokale Polizei) des Regimes sind eskaliert und

haben zu gegenseitigen Verhaftungen von Personal, offenen Zusammenstößen und

Gewalt geführt (TWP 30.7.2019).

 

Anm.: In den folgenden Unterkapiteln werden einige wichtige Gruppen, Einheiten, Milizen

und Sicherheitsbehörden, die auf der Seite der Regierung zum Einsatz kommen,

beschrieben. Dies stellt jedoch keine abschließende Aufstellung dar.

 

Streitkräfte

Letzte Änderung: 16.12.2020

Die syrischen Streitkräfte (Syrian armed forces - SAF) bestehen aus dem Heer, der Marine,

der Luftwaffe, den Luftabwehrkräften und den National Defense Forces (NDF) . Vor dem

Konflikt sollen die SAF eine Mannstärke von geschätzt 300.000 Personen gehabt haben

(CIA 12.8.2020). Der Aufbau der SAF basiert auf dem sogenannten Quta‘a-System [arab.

Sektor, Landstück]. Hierbei wird jeder Division (firqa) ein bestimmtes Gebiet (quta‘a)

zugeteilt. Mit diesem System wurde in der Vergangenheit verhindert, dass Offiziere

überlaufen. Gleichzeitig gaben die SAF dem Divisionskommandeur für den Fall eines

Zusammenbruchs der Kommunikation oder für Notfälle freie Hand über dieses Gebiet.

Dadurch kann der Präsident den Einfluss einzelner Divisionskommandeure einschränken,

indem er sie gegeneinander ausspielt (CMEC 14.3.2016).

 

Die syrische Armee war der zentrale Faktor für das Überleben des Regimes während des

Bürgerkriegs. Im Laufe des Krieges hat ihre Kampffähigkeit jedoch deutlich abgenommen

(CMEC 26.3.2020a). Im Zuge des Konfliktes hat das Regime loyale Einheiten in größere

Einheiten eingegliedert, um eine bessere Kontrolle ausüben und ihre Effektivität im Kampf

verbessern zu können (ISW 8.3.2017). Die syrische Regierung arbeitet daran, Milizen zu

demobilisieren oder sie in ihre regulären Streitkräfte zu integrieren (CIA 12.8.2020).

 

Zivile und militärische Sicherheits- und Nachrichtendienste, PolizeiLetzte Änderung: 25.06.2021

Die zahlreichen syrischen Sicherheitsbehörden arbeiten autonom und ohne klar definierte

Grenzen zwischen ihren Aufgabenbereichen (USDOS 30.3.2021). Das Innenministerium

kontrolliert vier verschiedene Abteilungen der Polizei: Notrufpolizei, Verkehrspolizei,

Nachbarschaftspolizei und Bereitschaftspolizei ("riot police") (USDOS 13.3.2019).

Es gibt vier Hauptzweige der Sicherheits- und Nachrichtendienste: den Militärischen

Nachrichtendienst, den Luftwaffennachrichtendienst, das Direktorat für Politische

Sicherheit und das Allgemeine Nachrichtendienstdirektorat (USDOS 30.3.2021; vgl. EIP

6.2019). Diese vier Dienste arbeiten unabhängig voneinander und größtenteils außerhalb

des Justizsystems, überwachen einzelne Staatsbürger und unterdrücken oppositionelle

Stimmen innerhalb Syriens (GS 11.2.2017). Jeder Geheimdienst unterhält eigene

Gefängnisse und Verhöreinrichtungen, bei denen es sich de facto um weitgehend

rechtsfreie Räume handelt. Die Geheimdienste haben ihre traditionell starke Rolle im Zuge

des Konfliktes verteidigt oder sogar weiter ausgebaut (AA 4.12.2020). Innerhalb der

Sicherheitsdienste ist bekannt, dass die Nachrichtendienste der Luftwaffe am wenigsten

einer Kontrolle unterliegen und mit der geringsten Zurückhaltung agieren (BS 29.4.2020).

Vor 2011 war die vorrangige Aufgabe der Nachrichtendienste die syrische Bevölkerung zu

überwachen. Seit dem Beginn des Konfliktes nutzt Assad den Sicherheitssektor, um die

Kontrolle zu behalten. Diese Einheiten überwachten, verhafteten, folterten und

exekutierten politische Gegner sowie friedliche Demonstranten. Um seine Kontrolle über

die Sicherheitsdienste zu stärken, sorgte Assad künstlich für Feindschaft und Konkurrenz

zwischen ihnen. Um die Loyalität zu sichern, wurde einzelnen Behörden bzw. Beamten die

Kontrolle über alle Bereiche des Staatswesens in einem bestimmten Gebiet überlassen,

was für diese eine enorme Geldquelle darstellt (EIP 6.2019).

 

Die Sicherheitskräfte nutzen eine Reihe an Techniken, um Bürger einzuschüchtern oder

zur Kooperation zu bringen. Diese Techniken beinhalten im besten Fall Belohnungen,

andererseits jedoch auch Zwangsmaßnahmen wie Reiseverbote, Überwachung, Schikanen

von Individuen und/oder deren Familienmitgliedern, Verhaftungen, Verhöre oder die

Androhung von Inhaftierung. Die Zivilgesellschaft und die Opposition in Syrien erhalten

spezielle Aufmerksamkeit von den Sicherheitskräften, aber auch ganz im Allgemeinen

müssen Gruppen und Individuen mit dem Druck der Sicherheitsbehörden umgehen (GS

11.2.2017; vgl. USDOS 30.3.2021).

 

Der Sicherheitssektor übt eine allgegenwärtige Kontrolle über die Gesellschaft (sowohl

informell als auch formell) aus. Festnahmen und Inhaftierungen werden genutzt, um

Informationen zu erhalten, jene, die als illoyal gesehen werden, zu bestrafen, und um Geld

für die Freilassung der Inhaftierten zu erpressen (EIP 6.2019).

 

In jüngster Zeit hat das syrische Regime seine Sicherheitsdienste umgebaut, indem es

neue "Loyalisten" in leitende Sicherheitspositionen berufen hat. Es handelt sich um bisher

unbekannte Personen, die sich durch ihre Rolle bei der Eskalation der Gewalt nach 2011

einen Namen machten, und gegen die das Regime in Form von Korruptionsakten

erhebliche Druckmittel besitzt. Es zeigt sich außerdem grundsätzlich eine breitere

Dynamik der russisch-iranischen Konkurrenz um die Gestaltung der syrischen

Sicherheitslandschaft (Clingendael 5.2020).

 

Regierungstreue Einheiten, ausländische Kämpfer, russischer und iranischer Einfluss

Letzte Änderung: 25.06.2021

 

Die National Defence Forces (NDF) sind eine Dachorganisation für verschiedene Pro-

Regime-Milizen und wurden aus sogenannten Volkskomitees gegründet (FIS 14.12.2018).

Der Iran und die libanesische Hizbollah spielten eine wichtige Rolle bei der Gründung der

NDF nach dem Vorbild der iranischen paramilitärischen Basij-Einheiten (ISW 8.3.2017; vgl.

JTF 24.3.2017, CMEC 26.3.2020a). Die NDF sind nicht Teil der syrischen Armee, aber

offiziell als "Verbündete", als legitime Institutionen anerkannt, die Waffen tragen dürfen

und zudem operative und logistische Unterstützung durch die syrische Armee erhalten.

Die regierungstreuen Milizen stellen für die Regierung jedoch auch eine Konkurrenz dar,

z.B. im Zusammenhang mit der Rekrutierung, da die Milizen teilweise über bessere

Finanzierung verfügen und somit höheren Sold bezahlen können. Manche der

bewaffneten Gruppen kritisieren die syrische Regierung und ihre Geheimdienste auch

vergleichsweise offen (FIS 14.12.2018). Die regierungsnahen Milizen stellen mittlerweile

selbst eine Bedrohung der staatlichen Souveränität dar, da sie an Größe, Anzahl und

Einfluss gewonnen haben (CMEC 26.3.2020a).

 

Pro-Regime Milizen wie die NDF üben ähnliche Aufgaben wie andere regimenahe Kräfte

aus, wobei ihre Kompetenzen nicht klar definiert sind (USDOS 30.3.2021). Milizen, die von

der libanesischen Hizbollah und den iranischen Quds-Brigaden eingerichtet wurden, treten

als nahezu unabhängige Organe auf (JTF 26.6.2020; vgl. CMEC 26.3.2020a).

Die militärische Intervention Russlands und die damit einhergehende Unterstützung mit

fortschrittlichen Waffentechnologien, Spezial- und Lufteinheiten, sowie die ausgeweitete

Bodenintervention Irans konnten 2015 den Zusammenbruch des syrischen Regimes

abwenden (KAS 4.12.2018b). Das Eingreifen Russlands, Irans und der Hizbollah sind seit

2011 jedoch auch die wichtigste Quelle für die Erosion von Autonomie und Souveränität

des syrischen Regimes, und dieses ist weiterhin abhängig von der politischen und

militärischen Unterstützung Russlands und Irans (Clingendael 5.2020).

Iran und Russland unterstützen jeweils unterschiedliche Einheiten bzw. Akteure des

syrischen Sicherheitssektors (TWP 30.7.2019). Russland fokussiert vor allem auf den

Aufbau von staatlichen Institutionen, während der Iran auch Einfluss außerhalb syrischer

staatlicher Institutionen ausübt (Clingendael 5.2020; vgl. CMEC 26.3.2020a).

Russland ist besonders in die Reform der syrischen Streitkräfte involviert (CMEC

26.3.2020c). Im Oktober 2015 wurde das sogenannte Vierte Korps (Fourth Storming

Corps/Fourth Assault Corps) und im November 2016 das Fünfte Korps (Fifth Storming

Corps/Fifth Assault Corps) gegründet (Kozak 3.2018). Ähnlich wie die NDF sollten auch

diese beiden Einheiten Strukturen bieten, in denen regierungstreue Milizen integriert und

so unter die Kontrolle der Regierung gebracht werden können (CEIP 12.12.2018; vgl. TWP

30.7.2019). Das Vierte und das Fünfte Korps wurden jeweils mit russischer Unterstützung

gegründet (CMEC 26.3.2020a). In das Vierte Korps wurden neben Einheiten aus den

syrischen Streitkräften auch irreguläre Einheiten aus NDF-Mitgliedern und Wehrpflichtigen

aus Lattakia aufgenommen (CMEC 26.3.2020b). Das Fünfte Korps besteht ausschließlich

aus Freiwilligen, einerseits aus verschiedenen Einheiten der syrischen Armee, andererseits

vor allem aber aus irregulären Einheiten wie den NDF oder loyalen Ba'ath-Bataillonen.

Rekrutiert wurde in ganz Syrien. 2018 wurden auch ehemalige Rebellen aus der Provinz

Dara’a in das Fünfte Korps integriert. Zu Beginn oblag das Kommando vollständig dem

russischen Militär, mittlerweile haben russische Berater weniger Einfluss (CMEC

26.3.2020b).

 

Die traditionelle Strategie Teherans besteht darin, parallele nichtstaatliche

Militärstrukturen zu schaffen und zu entwickeln, die dem syrischen Staat nicht direkt

unterstellt und dem Iran gegenüber loyaler sind als dem syrischen Zentralkommando

(CMEC 26.3.2020a). Das syrische Regime hat während des Konflikts ausländische

schiitische Milizen eingesetzt, die vor allem vom Iran getragen werden (CMEC 26.3.2020a).

Die iranische Koalition besteht aus iranischen Kämpfern (Teileinheiten aus dem Islamic

Revolutionary Guard Corps und Mitgliedern der regulären iranischen Streitkräfte –

sogenannte "Artesh"-Kämpfer) und ausländischen Kämpfern (ISW 8.3.2017), darunter

Pakistanis und Afghanen (KAS 4.12.2018b; vgl. CMEC 26.3.2020a). Iranische Offiziere

unterstützen Einheiten der syrischen Armee, regierungstreue Milizen, die Hizbollah und

irakische schiitische Milizen bei der Planung und Koordination von Einsätzen. Die

afghanischen und pakistanischen Kämpfer werden von den iranischen Einheiten rekrutiert,

ausgebildet, versorgt und ihre Führung im Kampf wird von iranischer Seite organisiert (KAS

4.12.2018b; vgl. CMEC 26.3.2020a).

 

Hochrangige syrische Funktionäre erlebten durch die iranische und russische Dominanz

einen Machtverlust, der wiederholt zu Spannungen in der iranisch-russisch-syrischen

Militärkooperation führte (KAS 4.12.2018b). Im Zuge dessen kam es auch zu Säuberungen,

Exekutionen und Versetzungen von niederrangigen oder auch höherrangigen syrischen

Offizieren, die sich gegen die Ausweitung des iranischen Einflusses wehrten (ISW

8.3.2017). 2017 und vor allem 2018 standen sich die verschiedenen Unterstützer des

syrischen Regimes immer stärker konfrontativ gegenüber. Im Juni 2018 kam es

beispielsweise zu einer offenen Konfrontation zwischen Hizbollah und syrischen Truppen

unter russischer Führung, im Januar 2019 zu Kämpfen zwischen dem Vierten und dem

Fünften Korps der syrischen Armee in der Provinz Hama (BS 29.4.2020; vgl. TWP

30.7.2019).

 

Folter, Haftbedingungen und unmenschliche Behandlung

Letzte Änderung: 28.06.2021

Das Gesetz verbietet Folter und andere grausame oder erniedrigende Behandlungen oder

Strafen, wobei das Strafgesetzbuch eine Strafe von maximal drei Jahren Gefängnis für

Täter vorsieht. Nichtsdestotrotz wenden die Regimebehörden in Tausenden Fällen solche

Praktiken an (USDOS 30.3.2021). Willkürliche Festnahmen, Misshandlung, Folter und

Verschwindenlassen sind in Syrien weit verbreitet (HRW 13.1.2021; vgl. AI 7.4.2021,

USDOS 30.3.2021, AA 4.12.2020). Sie richten sich von Seiten der Regierung insbesondere

gegen Oppositionelle oder Menschen, die vom Regime als oppositionell wahrgenommen

werden (AA 4.12.2020).

 

NGOs berichten glaubhaft, dass die syrische Regierung und mit ihr verbündete Milizen

physische Misshandlung, Bestrafung und Folter an oppositionellen Kämpfern und Zivilisten

begehen (USDOS 30.3.2021; vgl. TWP 23.12.2018). Vergewaltigung und sexueller

Missbrauch von Frauen, Männern und Minderjährigen sind weit verbreitet. Die Regierung

nimmt hierbei auch Personen ins Visier, denen Verbindungen zur Opposition vorgeworfen

werden (USDOS 30.3.2021). Es sind zahllose Fälle dokumentiert, bei denen

Familienmitglieder wegen der als regierungsfeindlich wahrgenommenen Tätigkeit von

Verwandten inhaftiert und gefoltert wurden, auch wenn die als regierungsfeindlich

wahrgenommenen Personen ins Ausland geflüchtet waren (AA 4.12.2020).

Systematische Folter und die Bedingungen in den Haftanstalten führen häufig zum Tod

von Insassen. Die Gefängnisse sind stark überfüllt, es mangelt an Nahrung, Trinkwasser,

Hygiene und Zugang zu sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung. Diese

Bedingungen waren so durchgängig, dass die Untersuchungskommission der Vereinten

Nationen zu dem Schluss kam, diese seien Regierungspolitik (USDOS 30.3.2021). Laut

Berichten von NGOs gibt es zahlreiche informelle Hafteinrichtungen in umgebauten

Militärbasen, Schulen, Stadien und anderen unbekannten Lokalitäten. So sollen inhaftierte

Demonstranten in leerstehenden Fabriken und Lagerhäusern ohne angemessene sanitäre

Einrichtungen festhalten werden (USDOS 30.3.2021; vgl. SHRC 24.1.2019). Die Regierung

hält weiterhin Tausende Personen ohne Anklage und ohne Kontakt zur Außenwelt

(„incommunicado“) fest (USDOS 30.3.2021). Von Familien von Häftlingen wird Geld

verlangt, dafür dass die Gefangenen Nahrung erhalten und nicht mehr gefoltert werden,

was dann jedoch nicht eingehalten wird. Große Summen werden gezahlt, um die

Freilassung von Gefangenen zu erwirken (MOFANL 7.2019).

 

In jedem Dorf und jeder Stadt gibt es Haft- bzw. Verhörzentren für die ersten Befragungen

und Untersuchungen nach einer Verhaftung. Diese werden von den Sicherheits- und

Nachrichtendiensten oder auch regierungstreuen Milizen kontrolliert. Meist werden

Festgenommene in ein größeres Untersuchungszentrum in der Provinz oder nach

Damaskus und schließlich in ein Militär- oder ziviles Gefängnis gebracht. Im Zuge dieses

Prozesses kommt es zu Folter und Todesfällen. Selten wird ein Häftling freigelassen.

Unschuldige bleiben oft in Haft, um Geldsummen für ihre Freilassung zu erpressen oder

um sie im Zuge eines "Freilassungsabkommens" auszutauschen (SHRC 24.1.2019).

Seit 2018 wurden von den Regierungsbehörden Sterberegister veröffentlicht, wodurch

erstmals offiziell der Tod von 7.953 Menschen in Regierungsgewahrsam bestätigt wurde,

wenn auch unter Angabe unspezifischer Todesursachen (Herzversagen, Schlaganfall etc.).

Berichten zufolge sind die Todesfälle auf Folter, Krankheit als Folge mangelnder Ernährung

und Hygiene in den Einrichtungen und außergerichtliche Tötungen zurückzuführen (AA

20.11.2019; vgl. SHRC 24.1.2019). Die meisten der auch im Jahr 2020 bekannt gegebenen

Todesfälle betreffen Inhaftierte aus den vergangenen neun Jahren, wobei das Regime ihre

Familien erst in den Folgejahren über ihren Tod informiert. Obwohl die Todesfälle in der

Vergangenheit eingetreten sind, gibt das Regime diese nur nach und nach bekannt. 2020

lag die Rate bei etwa 17 Personen pro Monat. In den meisten Fällen werden die Familien

der Opfer nicht direkt über ihren Tod informiert, da der Sicherheitsapparat nur den Status

der Inhaftierten im Zivilregister ändert und die Familien aktiv im Melderegister suchen

müssen, um den Verbleib ihrer Verwandten zu erfahren (SHRC 1.2021). Die syrische

Regierung übergibt die Überreste der Verstorbenen nicht an die Familien (HRW

14.1.2020).

 

Zehntausende Menschen sind weiterhin in willkürlicher Haft, darunter humanitäre Helfer,

Anwälte, Journalisten und friedliche Aktivisten (AI 7.4.2021). In Gebieten, die unter der

Kontrolle der Opposition standen und von der Regierung zurückerobert wurden, darunter

Ost-Ghouta, Dara'a und das südliche Damaskus, verhafteten die syrischen

Sicherheitskräfte Hunderte von Aktivisten, ehemalige Oppositionsführer und ihre

Familienangehörigen, obwohl sie alle Versöhnungsabkommen mit den Behörden

unterzeichnet hatten, in denen garantiert wurde, dass sie nicht verhaftet würden (HRW

14.1.2020).

 

Die Methoden der Folter, des Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in

den Haftanstalten sind jedoch keine Neuerung der Jahre seit Ausbruch des Konfliktes,

sondern waren bereits seit der Ära von Hafez al-Assad gängige Praxis der

unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in Syrien (SHRC

24.1.2019).

 

Auch die Rebellengruppierungen werden außergerichtlicher Tötungen und der Folter von

Inhaftierten beschuldigt (FH 4.3.2020; vgl. USDOS 30.3.2021). Opfer sind vor allem

(vermutete) regierungstreue Personen und Mitglieder von Milizen oder rivalisierenden

bewaffneten Gruppen (USDOS 30.3.2021). Zu den Bedingungen in den Hafteinrichtungen

der verschiedenen regierungsfeindlichen Gruppen ist wenig bekannt, NGOs berichten von

willkürlichen Verhaftungen, Folter und unmenschlicher Behandlung (USDOS 11.3.2020).

Auch die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) nutzten in ihren Haftanstalten Folter, um

Geständnisse zu erhalten, wobei die Folter oft aus Rache und basierend auf ethnischen

Vorurteilen durchgeführt wurde. Der Menschenrechtsmonitor, Syrian Network for Human

Rights, konnte im Jahr 2020 zumindest 14 Todesfälle aufgrund von Folter und fehlendem

Zugang zu medizinischer Versorgung in den Haftanstalten der SDF dokumentieren (SNHR

26.1.2021).

 

Korruption

Letzte Änderung: 28.06.2021

Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International für das Jahr 2020 liegt

Syrien mit einer Bewertung von 14 (von 100) Punkten (0=highly corrupt, 100=very clean)

auf Platz 178 von 180 untersuchten Ländern (je höher der Rang desto schlechter) (TI

28.1.2021).

 

Korruption war bereits vor dem Bürgerkrieg weit verbreitet, beeinflusste das tägliche

Leben der Syrer (FH 1.2017) und wurde im Laufe des Konfliktes noch viel schlimmer (BS

29.4.2020). Das Gesetz sieht strafrechtliche Konsequenzen für amtliche Korruption vor,

die Regierung setzt diese jedoch nicht effektiv durch. Beamte üben häufig korrupte

Praktiken aus, ohne dafür bestraft zu werden. Korruption ist weiterhin ein

allgegenwärtiges Problem bei Polizei, Sicherheitskräften, Migrationsbehörden und in der

Regierung (USDOS 30.3.2021).

 

Mitglieder und Verbündete des Regimes sollen einen Großteil der syrischen Wirtschaft

besitzen oder kontrollieren. Der Bürgerkrieg hat neue Möglichkeiten für Korruption in der

Regierung, den regierungstreuen Streitkräften und im Privatsektor geschaffen. Auch

sicherte sich die Regierung durch die Bevorzugung bestimmter Firmen und Vergabe von

vorteilhaften Verträgen etc. Loyalität, auch von ausländischen Verbündeten wie Russland

oder Iran. Sogar grundlegende staatliche Dienstleistungen und humanitäre Hilfe sind von

der demonstrierten Loyalität der Gemeinde zum Assad-Regime abhängig (FH 2021).

Die Mitgliedschaft in der Ba'ath-Partei oder enge familiäre Beziehungen zu einem

prominenten Parteimitglied oder einem mächtigen Regimebeamten helfen beim

wirtschaftlichen, sozialen und bildungsmäßigen Aufstieg. Partei- oder

Regimeverbindungen erleichterten die Zulassung zu besseren Schulen, den Zugang zu

lukrativen Arbeitsplätzen und den Aufstieg und die Macht innerhalb der Regierung, des

Militärs und der Sicherheitsdienste. Das Regime reservierte bestimmte prominente

Positionen, wie z. B. Gouverneursposten in den Provinzen, ausschließlich für Mitglieder

der Ba'ath-Partei (USDOS 30.3.2021). Korruption hat als Instrument der

Regierungsführung an Bedeutung gewonnen, um Unterstützung zu gewinnen (BS

29.4.2020).

 

Bewegungseinschränkungen im Zusammenhang mit der COVID-19-Pandemie schufen

2020 noch mehr Möglichkeiten für Korruption, da diejenigen, die es sich leisten konnten,

Bestechungsgelder an Beamte und Sicherheitskräfte zahlten, um die Regeln zu umgehen

(FH 2021).

 

Personen in den von der Regierung kontrollierten Gebieten, die versuchen, offizielle

Korruption aufzudecken oder zu kritisieren, zum Beispiel in den sozialen Medien, sehen

sich Repressalien ausgesetzt, einschließlich Entlassung aus dem Arbeitsverhältnis und

Inhaftierung (FH 2021).

 

In der syrischen Armee gibt es eine Tradition der Bestechung Ranghöherer (FIS

14.12.2018), etwa um eine bessere Position oder einfachere Aufgaben zu erhalten, einen

Einsatz an der Frontlinie zu vermeiden oder überha

 

Wehr- und Reservedienst und Rekrutierungen

Letzte Änderung: 16.12.2020

Anm.: In den folgenden Kapiteln kann aufgrund der Vielzahl an bewaffneten Gruppen nur

auf die Rekrutierungspraxis eines Teils der Organisationen eingegangen werden.

Darin wird der Begriff „Militärdienst“ als Überbegriff für Wehr- und Reservedienst

verwendet. Wo es die Quellen zulassen, wird versucht klar zwischen Wehr- und

Reservedienst bzw. zwischen Desertion und Wehrdienstverweigerung zu unterscheiden.

 

Rekrutierung von Minderjährigen durch verschiedenste Organisationen

Letzte Änderung: 28.06.2021

Einige Quellen berichten, dass Regierungseinheiten, Pro-Regime-Milizen, bewaffnete

nichtstaatliche Gruppen, inklusive der Freien Syrischen Armee (FSA) und mit dieser

verbündete Gruppen, kurdische Einheiten und islamistische Gruppen Minderjährige als

Kindersoldaten rekrutieren (USDOS 25.6.2020; vgl. UNGASC 9.6.2020; AA 4.12.2020).

Andere Quellen berichten jedoch davon abweichend, dass es zwar Minderjährige gibt, die

in den Rängen von regierungstreuen Milizen, der FSA und des bewaffneten Arms der

kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) kämpfen, jedoch die syrische Armee

keine Minderjährigen rekrutiert oder einsetzt (DIS 5.2020; vgl. FIS 14.12.2018, ÖB

29.9.2020). Gemäß einer Quelle wurden manche regierungstreue Milizen, welche

Minderjährige rekrutierten, zwischen 2015 und 2019 Teil der syrischen Armee. Die PYD

soll Zwangsrekrutierungen von Männern unter 18 Jahren durchgeführt haben, allerdings

nicht systematisch (DIS 5.2020).

 

Der Sicherheitsrats der Vereinten Nationen konnte für den Berichtszeitraum 1.7.2018 -

30.6.2020 die Rekrutierung von insgesamt 1.423 Kindern verifizieren. Demnach wurden in

der zweiten Hälfte des Jahres 2018 274, im Jahr 2019 837 und in der ersten Hälfte von

2020 312 Kinder rekrutiert. Etwa 1.388 der Kinder (98%) dienten in einer Kampfrolle.

Rekrutierungen durch zumindest 25 Konfliktparteien konnten verifiziert werden, darunter

Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS, 507), die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG, 318)

und kurdischen Frauenverteidigungseinheiten (YPJ, 99) unter dem Schirm der Syrian

Democratic Forces (SDF), die syrischen bewaffneten Oppositionsgruppen vormals bekannt

als Freie Syrische Armee (FSA, 328) Ahrar ash-Sham (55) und Nur al-Din al-Zanki (11), die

jetzt nominell unter dem Schirm der oppositionellen Syrian National Army (SNA)

operieren, andere SDF-Einheiten (37), die internen Sicherheitskräfte (34),

Regierungseinheiten (13), regierungstreue Milizen (10), der sogenannte Islamische Staat

(IS, 6), die Afrin Liberation Forces (3) und unidentifizierte bewaffnete Gruppen (2). Die

Rekrutierung und der Einsatz von Kindern wurde in 11 von 14 Provinzen verifiziert, wobei

73% der Fälle im Nordwesten (Idlib, Aleppo und Hama) und 26% im Nordosten Syriens

(Raqqa, Hassakah und Deir ez-Zour) passierten (UNSC 23.4.2021).

 

Jabhat an-Nusra und der sogenannte Islamische Staat (IS) haben Kinder als menschliche

Schutzschilde, Selbstmordattentäter, Scharfschützen und Henker eingesetzt. Bewaffnete

Gruppen setzen Minderjährige auch als Zwangsarbeiter oder Informanten ein, was diese

dem Risiko von Vergeltungsakten oder extremen Bestrafungen aussetzt. Manche

bewaffnete Gruppen, die auf Seiten der syrischen Regierung kämpfen, rekrutieren Kinder,

nicht älter als sechs Jahre alt (USDOS 25.6.2020).

 

Im September 2018 erließen die großteils kurdischen SDF einen Befehl, der die

Rekrutierung von Minderjährigen verbietet und vorsieht, das Alter der aktuellen

Mitglieder der SDF zu überprüfen (HRW 11.9.2018; vgl. EB 7.12.2019). Im Jahr 2019

wurden 30 rekrutierte Kinder, im Jahr 2020 (Stand Juni) bislang 51 Mädchen aus dem

Dienst der SDF entlassen (UNGASC 9.6.2020). Trotz dieser Maßnahmen gab es weiterhin

Vorfälle von Rekrutierungen Minderjähriger durch die SDF (AA 4.12.2020; vgl. EMHRM

18.9.2019).

 

Quellen:

AA – Auswärtiges Amt [Deutschland] (4.12.2020): Bericht über die Lage in der

Arabischen Republik Syrien,

https://milo.bamf.de/milop/cs.exe/fetch/2000/702450/683266/683300/684459/6

84542/6038295/22065632/Deutschland___Ausw%C3%A4rtiges_Amt,_Bericht_%C

3%BCber_die_Lage_in_der_Arabischen_Republik_Syrien_(Stand_November_2020)

,_04.12.2020.pdf?nodeid=22479918&vernum=-2, Zugriff 18.1.2021

 DIS – Danish Immigration Service [Dänemark] (5.2020): Syria – Military Service,

Report based on a fact-finding mission to Istanbul and Beirut (17-25 February

2020),

https://www.ecoi.net/en/file/local/2031493/Report_Syria_Military_Service_may _

2020.pdf, Zugriff 22.7.2020

EB – Enab Baladi (7.12.2019): Compulsory military recruitment in Jazira Region:

SDF imposing their authority,

https://english.enabbaladi.net/archives/2019/07/compulsory-militaryrecruitment -

in-jazira-region-sdf-imposing-their-authority/#, Zugriff 21.8.2020

EMHRM - Euro-Mediterranean Human Rights Monitor (18.9.2019): SDF kidnaps

dozens of children and youths in eastern Syria,

https://euromedmonitor.org/en/article/3136/SDF-kidnaps-dozens-of-childrenand -

youths-in-eastern-Syria, Zugriff 25.6.2021

FIS – Finnish Immigration Service [Finnland] (14.12.2018): Syria: Fact-Finding

Mission to Beirut and Damascus, April 2018,

https://migri.fi/documents/5202425/5914056/Syria_Factfinding +

mission+to+Beirut+and+Damascus%2C+April+2018.pdf, Zugriff 22.7.2020

HRW – Human Rights Watch (11.9.2018): Key Steps Taken to End Use of Child

Soldiers in Syria, https://www.ecoi.net/en/document/1443322.html , Zugriff

21.8.2020

ÖB – Österreichische Botschaft Damaskus [Österreich] (29.9.2020):

Asylländerbericht Syrien 2020,

https://www.ecoi.net/en/file/local/2038328/Asyländerbericht+2020+(Stand+2909

2020)+.pdf, Zugriff 12.10.2020

UNGASC – United Nations General Assembly Security Council (9.6.2020): Children

and Armed Conflict, https://www.ecoi.net/en/file/local/2031779/15-June -

2020_Secretary-General_Report_on_CAAC_Eng.pdf, Zugriff 21.8.2020

UNSC – United Nations Security Council (23.4.2021): Children and armed conflict in

the Syrian Arab Republic - Report of the Secretary-General,

https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/N2110167.pdf , Zugriff

10.6.2021

USDOS – United States Department of State [USA] (25.6.2020): Trafficking in

Persons Report 2020 – Syria, https://www.state.gov/wpcontent/

uploads/2020/06/2020-TIP-Report-Complete-062420-FINAL.pdf, Zugriff

21.8.2020

 

Die syrischen Streitkräfte - Wehr- und Reservedienst

Letzte Änderung: 11.02.2021

Für männliche syrische Staatsbürger ist im Alter zwischen 18 bis 42 Jahren die Ableistung

eines Wehrdienstes von zwei Jahren gesetzlich verpflichtend (ÖB 29.9.2020). Laut

Gesetzesdekret Nr. 30 von 2007 Art. 4 lit b gilt dies vom 1. Januar des Jahres, in dem das

Alter von 18 Jahren erreicht wird, bis zum Überschreiten des Alters von 42 Jahren (PAR

12.5.2007). Zusätzlich gibt es die Möglichkeit eines freiwilligen Militärdienstes. Frauen

können ebenfalls freiwillig Militärdienst leisten (CIA 12.8.2020; vgl. FIS 14.12.2018).

Palästinensische Flüchtlinge mit dauerhaftem Aufenthalt in Syrien unterliegen ebenfalls

der Wehrpflicht, dienen jedoch in der Regel in der Palestinian Liberation Army (PLA) unter

palästinensischen Offizieren. Diese ist jedoch de facto ein Teil der syrischen Armee (AA

13.11.2018; vgl. FIS 14.12.2018). Auch Binnenvertriebene sind wie andere Syrer zur

Ableistung des Wehrdienstes verpflichtet und werden rekrutiert (FIS 14.12.2018).

Nach dem Ausbruch des Konfliktes stellte die syrische Regierung die Abrüstung von

Rekruten, welche den verpflichtenden Wehrdienst geleistet hatten, ein (DIS 5.2020; vgl.

ÖB 7.2019). 2018 wurde mit der Entlassung der ältesten Rekrutenklassen begonnen,

welche seit 2011 im Dienst waren. Zahlreiche Männer leisten ihren Wehrdienst jedoch

auch weiterhin über den verpflichtenden Zeitraum hinaus ab (DIS 5.2020).

 

Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach

Beendigung des Pflichtwehrdienstes, wenn er sich gegen einen Eintritt in den Militärdienst

als Berufssoldat entscheidet, Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den

aktiven Dienst einberufen werden (TIMEP 22.8.2019; vgl. STDOK 8.2017). Es liegen

einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird,

wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (das gilt z.B. für Ärzte,

Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für

Kampfausrüstung). Manche Personen werden wieder zum aktiven Dienst einberufen,

andere wiederum nicht, was von vielen verschiedenen Faktoren abhängt. Es ist sehr

schwierig zu sagen, ob jemand tatsächlich zum Reservedienst einberufen wird (STDOK

8.2017).

 

Die syrische Armee hat durch Verluste, Desertion und Überlaufen zu den Rebellen einen

schweren Mangel an Soldaten zu verzeichnen (TIMEP 6.12.2018). Die syrische Regierung

hat das syrische Militärdienstgesetz während des Konflikts mehrfach geändert, um die

Zahl der Rekruten zu erhöhen (DIS 10.2019). Der Personalbedarf des syrischen Militärs

bleibt unverändert hoch, und seit Dezember 2018 haben sich die Rekrutierungsbemühungen aufgrund dessen sogar noch verstärkt (AA 4.12.2020).

 

Während ein Abkommen zwischen den überwiegend kurdischen Syrian Democratic Forces

(SDF) und der syrischen Regierung vom November 2019 die Stationierung von Truppen der

syrischen Streitkräfte in vormals kurdisch kontrollierten Gebieten vorsieht, hat die syrische

Regierung aufgrund von mangelnder Verwaltungskompetenz bislang keinen

verpflichtenden Wehrdienst in diesen Gebieten wiedereingeführt (DIS 5.2020) [Anm.: zum

Wehrdienst bei Einheiten der SDF siehe Kapitel „Die kurdischen Volksverteidigungskräfte

(YPG/YPJ)“.]

Bei der Einberufung neuer Rekruten sendet die Regierung Wehrdienstbescheide mit der

Aufforderung, sich zum Militärdienst anzumelden, an Männer, die das wehrfähige Alter

erreicht haben. Die Namen der einberufenen Männer werden in einer zentralen

Datenbank erfasst. Männer, die sich beispielsweise im Libanon aufhalten, können mittels

Bezahlung von Bestechungsgeldern vor ihrer Rückkehr nach Syrien überprüfen, ob sich ihr

Name in der Datenbank befindet (DIS 5.2020).

 

Die Regierung hat in vormals unter der Kontrolle der Oppositionskräfte stehenden

Gebieten, wie zum Beispiel Ost-Ghouta, Zweigstellen zur Rekrutierung geschaffen.

Wehrdienstverweigerer und Deserteure können sich in diesen Rekrutierungszentren

melden, um nicht länger von den Sicherheitskräften gesucht zu werden. In vormaligen

Oppositionsgebieten werden Listen mit Namen von Personen, welche zur Rekrutierung

gesucht werden, an lokale Behörden und Sicherheitskräfte an Checkpoints verteilt (DIS

5.2020). Ein „Herausfiltern“ von Militärdienstpflichtigen im Rahmen von Straßenkontrollen oder an einem der zahlreichen Checkpoints ist weit verbreitet (FIS 14.12.2018). So errichtet die Militärpolizei beispielsweise in Homs stichprobenartig und nicht vorhersehbar Straßenkontrollen. Die intensiven Kontrollen erhöhen das Risiko für Militärdienstverweigerer, verhaftet zu werden (EB 3.6.2020). Rekrutierungen finden auch in Ämtern statt, beispielsweise wenn junge Männer Dokumente erneuern wollen, sowie an Universitäten, in Spitälern und an Grenzübergängen, wo die Beamten Zugang zur zentralen Datenbank mit den Namen der für den Wehrdienst gesuchten Männer haben. Nach Angaben einer Quelle fürchten auch Männer im wehrfähigen Alter, welche vom Militärdienst laut Gesetz ausgenommen sind oder von einer zeitweisen Amnestie vom Wehrdienst Gebrauch machen wollen, an der Grenze eingezogen zu werden (DIS 5.2020).

 

Während manche Quellen davon ausgehen, dass insbesondere in vormaligen

Oppositionsgebieten (z.B. dem Umland von Damaskus, Aleppo, Dara‘a und Homs) immer

noch Rekrutierungen mittels Hausdurchsuchungen stattfinden (DIS 5.2020; vgl. EB

3.6.2020), berichten andere Quellen, dass die Regierung nun weitgehend davon absieht,

um erneute Aufstände zu vermeiden. Weiters rekrutieren die syrischen Streitkräfte in

Lagern für Binnenvertriebene (DIS 5.2020).

 

Die Behörden ziehen vornehmlich Männer bis zu einem Alter von 27 Jahren ein, während

Ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können. Dennoch wurden die Altersgrenzen

fallweise angehoben und auch Männer bis zu einem Alter von 55 Jahren eingezogen, bzw.

konnten Männer nach Erreichen des 42. Lebensjahres die Armee nicht verlassen (ÖB

29.9.2020; vgl. FIS 14.12.2018). Die Altersgrenze hängt laut Experten eher von lokalen

Entwicklungen und den Mobilisierungsbemühungen der Regierung ab, als von allgemeinen

Einberufungsregelungen. Generell hat sich das Maß der Willkür in Syrien im Zuge des

Konfliktes erhöht (FIS 14.12.2018). Manche Quellen berichten, dass ihnen keine Fälle von

Rekrutierungen über-42-Jähriger nach 2016 bzw. 2018 bekannt seien. Gemäß anderen

Quellen soll es jedoch zu Einberufungen von über-42-jährigen Rückkehrern aus dem

Libanon und Jordanien als Reservisten gekommen sein, wobei es sich nicht um

Zwangsrekrutierungen handelte (DIS 5.2020).

 

Mitte Oktober 2018 berichteten regierungsnahe Medien, dass etwa 800.000 Männer nicht

mehr für den Reservedienst benötigt werden. Eine Reihe Syrer kehrten daraufhin nach

Syrien zurück, wobei manche über Beziehungen in der Heimat ihren Wehrdienststatus

überprüfen ließen und sich versicherten, dass sie tatsächlich nicht mehr gesucht werden.

Zumindest manche der Rückkehrer wurden wenige Wochen später eingezogen, nachdem

das Verteidigungsministerium im Dezember 2018 neue Einberufungslisten für den

Reservedienst veröffentlichte und so die vorherige Entscheidung aufhob. Die Gründe für

diese Verkettung von Ereignissen ist jedoch laut International Crisis Group schwer zu

ermitteln (ICG 13.2.2020).

 

Im November 2017 beschloss das syrische Parlament eine Gesetzesnovelle der Artikel 74

und 97 des Militärdienstgesetzes. Die Novelle besagt, dass jene, die das Höchstalter für die

Ableistung des Militärdienstes überschritten haben und den Militärdienst nicht abgeleistet

haben, aber auch nicht aus etwaigen gesetzlich vorgesehenen Gründen vom Wehrdienst

befreit sind, eine Kompensationszahlung von 8.000 USD oder dem Äquivalent in SYP

leisten müssen. Diese Zahlung muss innerhalb von drei Monaten nach Erreichen des

Alterslimits geleistet werden. Wenn diese Zahlung nicht geleistet wird, ist die Folge eine

einjährige Haftstrafe und die Zahlung von 200 USD für jedes Jahr, um welches sich die

Zahlung verzögert, wobei der Betrag 2000 USD oder das Äquivalent in SYP nicht

übersteigen soll. Jedes begonnene Jahr der Verzögerung wird als ganzes Jahr gerechnet.

Außerdem kann basierend auf einem Beschluss des Finanzministers das bewegliche und

unbewegliche Vermögen der Person, die sich weigert den Betrag zu bezahlen, konfisziert

werden (SANA 8.11.2017; vgl. SLJ 10.11.2017, PAR 15.11.2017).

 

Befreiung und Aufschub

Letzte Änderung: 28.06.2021

Das syrische Wehrdienstgesetz sieht vor, dass bestimmte Personengruppen, wie zum

Beispiel der einzige Sohn einer Familie, aus medizinischen Gründen Untaugliche (DIS

5.2020; vgl. FIS 14.12.2018), manche Regierungsangestellte (FIS 14.12.2018) und

Personen, welche eine Befreiungsgebühr bezahlen, vom Wehrdienst ausgenommen sind.

Manche Studenten und Personen mit bestimmten Abschlüssen, wie auch Personen mit

vorübergehenden Erkrankungen können den Wehrdienst aufschieben, wobei die

Rückstellungen jedes Jahr erneuert werden müssen (DIS 5.2020). Diese Ausnahmen sind

theoretisch immer noch als solche definiert, in der Praxis gibt es jedoch mittlerweile mehr

Beschränkungen und es ist unklar, wie die entsprechenden Gesetze derzeit umgesetzt

werden (FIS 14.12.2018). Es scheint, dass es schwieriger wird, einen Aufschub zu erlangen,

je länger der Konflikt andauert (STDOK 8.2017; vgl. FIS 14.12.2018). Das Risiko der Willkür

ist immer gegeben (STDOK 8.2017; vgl. DRC/DIS 8.2017).

 

Seit einer Änderung des Gesetzes über den verpflichtenden Wehrdienst im Juli 2019 ist die

Aufschiebung des Militärdienstes jedenfalls nur bis zum Alter von 37 Jahren möglich,

zudem kann die Aufschiebung durch Befehl des Oberbefehlshabers beendet werden (ÖB

29.9.2020).

 

Unbestätigte Berichte legen nahe, dass der Geheimdienst innerhalb kurzer Zeit über den

Wegfall von Aufschubgründen informiert ist, und diese auch digital überprüft werden.

Zuvor mussten Studenten den Status ihres Studiums selbst dem Militär melden,

mittlerweile wird der Status der Studenten jedoch aktiv überprüft. Generell werden

Universitäten nun strenger überwacht und von diesen wird nun verlangt, dass sie das

Militär über die Anwesenheit bzw. Abwesenheiten der Studenten informieren (STDOK

8.2017). Einem Bericht zufolge wurden gelegentlich Studenten trotz einer Befreiung bei

Checkpoints rekrutiert (FIS 14.12.2018).

 

Das syrische Militärdienstgesetz erlaubt es syrischen Männern im Militärdienstalter (18-42

Jahre), einschließlich registrierter Palästinenser aus Syrien, eine Gebühr zu entrichten, um

von der Wehrpflicht befreit und nicht wieder einberufen zu werden. Diese Option gilt

jedoch nur für Personen mit Wohnsitz im Ausland. Männer, die sich mindestens vier

aufeinanderfolgende Jahre außerhalb Syriens aufgehalten haben, können einen Betrag

von 8.000 US-Dollar zahlen, um vom Militärdienst befreit zu werden (DIS 5.2020; vgl. EB

9.2.2019), wobei noch weitere Konsulargebühren anfallen (EB 9.2.2019). Für außerhalb

Syriens geborene Syrer im wehrpflichtigen Alter, welche bis zum 19. Lebensjahr im

Ausland lebten, gilt bis zum Alter von 25 Jahren eine Befreiungsgebühr von 2.500 USD (DIS

5.2020; vgl. AA 13.11.2018). Ein Besuch von bis zu drei Monaten in Syrien wird dabei nicht

als Unterbrechung des Aufenthalts einer Person in dem fremden Land gewertet. Für jedes

Jahr, in welchem ein Wehrpflichtiger weder eine Befreiungsgebühr bezahlt, noch den

Wehrdienst aufschiebt oder sich zu diesem meldet, fallen zusätzliche Gebühren an. Eine

Quelle berichtet, dass auch Männer, die Syrien illegal verlassen haben, durch die Zahlung

der Gebühr von 8.000 USD vom Militärdienst befreit werden können (DIS 5.2020). Diese

müssen ihren rechtlichen Status allerdings zuvor bei einer syrischen Auslandsvertretung

bereinigen (DIS 10.2019). Das deutsche Auswärtige Amt berichtet dagegen, dass nicht

bekannt sei, ob diese Regelung auch für syrische Männer gilt, die seit Beginn des

Bürgerkriegs ins Ausland geflüchtet sind (AA 13.11.2018).

 

Es gibt Beispiele, wo Männer sich durch die Bezahlung von Bestechungsgeldern vom

Wehrdienst freigekauft haben, was jedoch keineswegs als einheitliche Praxis betrachtet

werden kann. So war es vor dem Konflikt gängige Praxis sich vom Wehrdienst

freizukaufen, was einen aber nicht davor schützt – manchmal sogar Jahre danach –

trotzdem eingezogen zu werden (STDOK 8.2017). Auch berichtet eine Quelle, dass

Grenzbeamte von Rückkehrern trotz entrichteter Befreiungsgebühr Bestechungsgelder

verlangen könnten (DIS 5.2020).

 

Es gibt kein Gesetz, welches eine Befreiungsgebühr für Reservisten vorsieht. Einer Quelle

zufolge kann ein Reservist den Militärdienst umgehen, indem er den verantwortlichen

Offizier besticht, der dann registriert, dass der Reservist bereits dient (DIS 5.2020).

Christliche und muslimische religiöse Führer können weiterhin aus Gewissensgründen

vom Militärdienst befreit werden, wobei muslimische Führer dafür eine Abgabe bezahlen

müssen (USDOS 12.5.2021). Es gibt Berichte, dass in einigen ländlichen Gebieten

Mitgliedern von religiösen Minderheiten die Möglichkeit geboten wurde, sich lokalen

regierungsnahen Milizen anzuschließen anstatt ihren Wehrdienst abzuleisten. In den

Städten gab es diese Möglichkeit im Allgemeinen jedoch nicht und Mitglieder von

Minderheiten wurden unabhängig von ihrem religiösen Hintergrund zum Militärdienst

eingezogen (FIS 14.12.2018).

 

Wehrdienstverweigerung / Desertion

Letzte Änderung: 12.02.2021

Als der syrische Bürgerkrieg 2011 begann, hatte die syrische Regierung Probleme Truppen

bereitzustellen, um bewaffneten Rebellengruppen entgegentreten zu können. Die Zahl der

Männer, die den Wehr- oder Reservedienst verweigerten, nahm deutlich zu. Eine große

Zahl von Männern im wehrfähigen Alter floh entweder aus dem Land, schloss sich der

bewaffneten Opposition an oder tauchte unter (DIS 5.2020).

 

Wehrdienstverweigerer werden laut Gesetz in Friedenszeiten mit ein bis sechs Monaten

Haft bestraft [Anm.: die Wehrpflicht besteht dabei weiterhin fort]. In Kriegszeiten wird

Wehrdienstverweigerung laut Gesetz mit Gefängnisstrafen von bis zu fünf Jahren bestraft

(AA 4.12.2020). Bezüglich der Konsequenzen einer Wehrdienstverweigerung gehen die

Meinungen der Quellen auseinander. Während manche die Ergreifung eines

Wehrdienstverweigerers mit Foltergarantie und Todesurteil gleichsetzen (Landinfo

3.1.2018), sagen andere, dass Betroffene sofort eingezogen würden (DIS 5.2020; vgl.

Landinfo 3.1.2018), was von einer Quelle mit dem Bedarf der syrischen Regierung nach

Verstärkung in Verbindung gebracht wird. Quellen berichten jedoch auch, dass gefasste

Wehrdienstverweigerer riskieren, von den syrischen Behörden vor der Einberufung

inhaftiert zu werden (DIS 5.2020). Die Konsequenzen hängen offenbar vom Einzelfall ab

(Landinfo 3.1.2018; vgl. DIS 5.2020).

 

Im Dezember 2019 trat eine Bestimmung in Kraft, wonach wehrfähige Männer, welche

den Wehrdienst bis zu einem Alter von 42 Jahren nicht abgeleistet haben, eine

Befreiungsgebühr von 8.000 USD bezahlen müssen, um einer Beschlagnahmung ihres

Vermögens, bzw. des Vermögens ihrer Ehefrauen oder Kinder zu entgehen (DIS 5.2020).

Berichten zufolge betrachtet die Regierung Wehrdienstverweigerung nicht nur als eine

strafrechtlich zu verfolgende Handlung, sondern auch als Ausdruck von politischem

Dissens und mangelnder Bereitschaft, das Vaterland gegen „terroristische“ Bedrohungen

zu schützen (STDOK 8.2017). Neben anderen Personengruppen sind regelmäßig auch

Deserteure (DIS 5.2020) and Wehrdienstverweigerer Ziel der umfassenden Anti-Terror-

Gesetzgebung (Dekret Nr. 19/2012) der syrischen Regierung (AA 4.12.2020; vgl. DIS

5.2020).

 

Zwischen der letzten Hälfte des Jahres 2011 bis zum Beginn des Jahres 2013 desertierten

zehntausende Soldaten und Offiziere, flohen oder schlossen sich bewaffneten

aufständischen Einheiten an. Seit der zweiten Hälfte des Jahres 2013 sind jedoch nur

wenige Fälle von Desertion bekannt (Landinfo 3.1.2018).

 

Desertion wird gemäß dem Militärstrafgesetz von 1950 in Friedenszeiten mit ein bis fünf

Jahren Haft bestraft und kann in Kriegszeiten bis zu doppelt so lange Haftstrafen nach sich

ziehen. Deserteure, die zusätzlich außer Landes geflohen sind (sogenannte „externe

Desertion“), unterliegen Artikel 101 des Militärstrafgesetzbuchs, der eine Strafe von fünf

bis zehn Jahren Haft in Friedenszeiten und 15 Jahre Haft in Kriegszeiten vorschreibt.

Desertion im Angesicht des Feindes ist mit lebenslanger Haftstrafe zu bestrafen. In

schwerwiegenden Fällen wird die Todesstrafe verhängt (STDOK 8.2017).

Unterschiedliche Quellen berichten von unterschiedlichen Konsequenzen für Deserteure

und Überläufer. Während eine Quelle berichtet, dass Deserteure zwar in früheren Phasen

des Krieges exekutiert wurden, habe die syrische Regierung jedoch ihre Vorgehensweise in

den vergangenen Jahren geändert und aufgrund des vorherrschenden Bedarfs an Kräften

an der Front festgenommene Deserteure unter Umständen vor dem Militärgericht zu

kurzen Haftstrafen verurteilt. Eine andere Quelle berichtet jedoch, dass Deserteure

üblicherweise von Einheiten des syrischen Geheimdienstes inhaftiert würden, womit sie

dem Risiko von Folter und Verschwindenlassen ausgesetzt sein können. Auch berichtet

eine weitere Quelle, dass Tötungen und Exekutionen von Deserteuren weiterhin

stattfinden, zum Beispiel während der Offensive in Idlib im Jahr 2020 (DIS 5.2020).

 

Repressalien gegenüber Familienmitgliedern können insbesondere bei Familien von "high

profile"-Deserteuren der Fall sein, also z.B. solche Deserteure, die Soldaten oder Offiziere

getötet oder sich der bewaffneten Opposition angeschlossen haben (Landinfo 3.1.2018;

vgl. DIS 5.2020). Weitere Einflussfaktoren sind der Rang des Deserteurs, Wohnort der

Familie, der für dieses Gebiet zuständige Geheimdienst und zuständige Offizier sowie die

Religionszugehörigkeit der Familie (DIS 5.2020).

 

In Gebieten, welche durch sogenannte Versöhnungsabkommen wieder unter die Kontrolle

der syrischen Regierung gebracht wurden, werden häufig Vereinbarungen bezüglich des

Wehrdienstes getroffen (STDOK 8.2017; vgl. DIS 5.2020). Berichten zufolge wurden solche

Zusagen von der Regierung aber bisweilen auch gebrochen (AA 4.12.2020; vgl. FIS

14.12.2018, DIS 5.2020). Auch in den "versöhnten Gebieten" sind Männer im

entsprechenden Alter mit der Wehrpflicht oder mit der Rekrutierung durch regimetreue

bewaffnete Gruppen konfrontiert. In manchen dieser Gebiete drohte die Regierung auch,

dass die Bevölkerung keinen Zugang zu humanitärer Hilfe erhält, wenn diese nicht den

Regierungseinheiten beitreten (FIS 14.12.2018). In ehemals von der Opposition

kontrollierten Gebieten landeten zudem einer Quelle zufolge viele Deserteure und

Überläufer, denen durch die Versöhnungsabkommen Amnestie gewährt werden sollte, in

Haftanstalten oder sie starben in der Haft (DIS 5.2020).

 

Amnestien

Letzte Änderung: 28.06.2021

Seit 2011 hat der syrische Präsident für Mitglieder bewaffneter oppositioneller Gruppen,

Wehrdienstverweigerer und Deserteure eine Reihe von Amnestien erlassen, die

Straffreiheit vorsahen, wenn sie sich innerhalb einer bestimmten Frist zum Militärdienst

melden (STDOK 8.2017; vgl. TIMEP 6.12.2018, SHRC 24.1.2019, AA 4.12.2020, DIS 5.2020).

Über die Umsetzung und den Umfang der Amnestien für Wehrdienstverweigerer und

Deserteure ist nur sehr wenig bekannt (DIS 5.2020). Menschenrechtsorganisationen und

Beobachter haben die Amnestien wiederholt als intransparent und unzureichend kritisiert

(STDOK 8.2017; vgl. EB 3.4.2020), sowie als bisher wirkungslos (AA 4.12.2020; vgl. DIS

5.2020) und als ein Propagandainstrument der Regierung (DIS 5.2020; vgl. EB 3.4.2020).

Im Laufe des Jahres 2019 häuften sich Berichte über Regimekräfte, die gegen frühere

Amnestievereinbarungen verstießen, indem sie Razzien und Verhaftungskampagnen

durchführten, die sich auf Zivilisten und ehemalige Angehörige bewaffneter

Oppositionsfraktionen in Gebieten konzentrierten, die zuvor Versöhnungsvereinbarungen

mit dem Regime unterzeichnet hatten (USDOS 11.3.2020; vgl. DIS 5.2020). Andererseits

berichteten Quellen auch, dass es Männer gäbe, die von den Amnestien Gebrauch

machten und nicht bestraft, sondern nur zum Wehrdienst eingezogen wurden. Einer

Quelle zufolge respektiere die syrische Regierung Amnestien nun eher als früher (DIS

5.2020).

 

Am 2.5.2021 erließ Präsident Assad mit Gesetzesdekret Nr. 13/2021 erneut eine

Generalamnestie, die für Verbrechen, die vor diesem Datum begangen wurden, gilt (SANA

2.5.2021a). Dabei handelt es sich bereits um die 18. Amnestie seit Ausbruch des syrischen

Bürgerkriegs im Frühjahr 2011 (SD 10.5.2021). Sie wurde kurz vor den syrischen

Präsidentschaftswahlen Ende Mai 2021 erlassen (SD 10.5.2021; vgl. Reuters 11.5.2021).

Das Dekret betrifft unterschiedliche Straftaten, darunter Straftaten in Zusammenhang mit

der Anti-Terrorismus-Gesetzgebung von 2012, aber nicht jene "terroristische" Straftaten,

die Tote zur Folge hatten (MEE 2.5.2021; vgl. SANA 2.5.2021b). "Terrorismus" ist ein

Begriff, mit dem die Regierung die Akticvitäten von Rebellen und oppositionellen

Aktivisten beschreibt (MEE 2.5.2021). Straftäter im Bereich Drogenhandel und Schmuggel

sowie Steuerhinterziehung können ebenfalls von der Amnestie profitieren. Auch

Deserteure können die Amnestie nutzen, wenn sie sich innerhalb von drei Monaten bei

Aufenthalt in Syrien und innerhalb von sechs Monaten bei Aufenthalt im Ausland stellen

(MEE 2.5.2021; vgl. SANA 2.5.2021b). Durch das Dekret werden Strafen gänzlich oder

teilweise erlassen, oder auch Haftstrafen durch eine Strafzahlung ersetzt (SD 10.5.2021).

[Anm: Wehrdienstverweigerung und Überlaufen zum Feind werden von dem Dekret nicht

erfasst. Die Verpflichtung zum Wehrdienst wird durch das Dekret nicht aufgehoben.]

Nicht-staatliche bewaffnete Gruppierungen (regierungsfreundlich und

regierungsfeindlich)

Letzte Änderung: 16.12.2020

 

Die Rekrutierung durch regierungsfreundliche Milizen geschieht im Allgemeinen auf

freiwilliger Basis. Personen schließen sich häufig auch aus finanziellen Gründen den

National Defense Forces (NDF) oder anderen regierungstreuen Gruppierungen an (FIS

14.12.2018; vgl. DRC/DIS 8.2017). Der soziale Druck sich diesen Gruppierungen

anzuschließen, ist jedoch stark. In vielen Fällen sind bewaffnete regierungstreue Gruppen

lokal organisiert, wobei Werte der Gemeinschaft wie Ehre und Verteidigung der

Gemeinschaft eine zentrale Bedeutung haben. Dieser soziale Druck basiert häufig auf der

Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft. Ein weiterer Hauptgrund für

das Eintreten in diese Gruppierungen ist, dass damit der Wehrdienst in der Armee

umgangen werden kann. Die Mitglieder können so in ihren oder in der Nähe ihrer lokalen

Gemeinden ihren Einsatz verrichten und nicht in Gebieten mit direkten Kampfhandlungen.

Die syrische Armee hat jedoch begonnen, diese Milizen in die Strukturen der syrischen

Armee zu integrieren (FIS 14.12.2018), indem sie Mitglieder der Milizen, welche im

wehrfähigen Alter sind, zum Beitritt in die syrische Armee zwingt (MEI 18.7.2019).

Dadurch ist es unter Umständen nicht mehr möglich, durch den Dienst in einer lokalen

Miliz die Rekrutierung durch die Armee oder den Einsatz an einer weit entfernten Front zu

vermeiden (FIS 14.12.2018). Auch aufgrund der deutlich höheren Bezahlung der

Milizmitglieder stießen die laufenden Bemühungen, Milizen in die syrische Armee zu

integrieren, auf erheblichen Widerstand (MEI 18.7.2019). Regierungstreue Milizen haben

sich außerdem an Zwangsrekrutierungen von gesuchten Wehrdienstverweigerern beteiligt

(FIS 14.12.2018).

 

Was die oppositionellen Milizen in Syrien betrifft, so ist die Grenze zur

Zwangsrekrutierung ebenfalls nicht klar. Die Frage ist, ob man sich dem Druck seitens der

Milizen und der Gesellschaft entziehen kann. Zwangsrekrutierung per se durch Milizen ist

nicht dokumentiert, aber Nötigung und sozialer Druck, sich den Milizen anzuschließen,

sind in von oppositionellen Gruppen gehaltenen Gebieten ein Problem. So herrscht z.B. in

Idlib, wo es zahlreiche Gruppierungen gibt, großer Druck sich einer bewaffneten

Gruppierung anzuschließen, wobei auch die Bezahlung eine Motivation darstellen kann

(STDOK 8.2017).

 

Die kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG/YPJ)

Letzte Änderung: 28.06.2021

Die kurdischen Volksverteidigungskräfte (YPG) sind die bewaffneten Einheiten der

kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD) (TNA 17.6.2020; vgl. DZO 13.1.2019).

Seit 2014 gibt es in den Gebieten unter Kontrolle der PYD eine gesetzliche Verordnung

zum verpflichtenden Wehrdienst für Männer von 18 bis 30 Jahren (MOFANL 7.2019; vgl.

EB 7.12.2019). Die Sanktionen für die Wehrdienstverweigerung ähneln denen im von der

Regierung kontrollierten Teil und umfassen Haftstrafen sowie eine Verlängerung des

Wehrdienstes. Es kommt zu Überprüfungen von möglichen Wehrpflichtigen an

Kontrollposten und auch zu Ausforschungen. Die Autonomiebehörden dürften laut der

Österreichischen Botschaft Damaskus eine Verweigerung aber nicht als Ausdruck einer

bestimmten politischen Gesinnung sehen (ÖB 29.9.2020). Laut UNHCR kann die

Weigerung, den YPG beizutreten, Berichten zufolge schwerwiegende Konsequenzen

haben, einschließlich Entführung, Inhaftierung und Misshandlung der inhaftierten

Personen sowie Zwangsrekrutierung, da die Verweigerung des Kampfes als Ausdruck der

Unterstützung des sogenannten Islamischen Staates oder als Opposition zu PYD/YPG

interpretiert werden kann (UNHCR 3.11.2017).

 

Mehrfach ist es zu Fällen gekommen, in denen Männer von der YPG rekrutiert werden, die

älter als 30 Jahre waren. Dabei handelte es sich um Personen, die PYD-kritisch politisch

aktiv waren, und die mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die Rekrutierung abgestraft

werden sollten (Savelsberg 3.11.2017).

 

Frauen können freiwilligen Militärdienst in den kurdischen Einheiten [YPJ -

Frauenverteidigungseinheiten] leisten (AA 4.12.2020), wobei es gleichzeitig Berichte von

Zwangsrekrutierungen von Frauen (AA 4.12.2020; vgl. SNHR 26.1.2021) und

minderjährigen Mädchen gibt (Savelsberg 3.11.2017; vgl. HRW 11.10.2019, UNGASC

20.6.2019). Darüber hinaus sind Fälle bekannt, in denen kurdische Frauen, die der YPG

zunächst freiwillig beitraten, daran gehindert wurden, diese wieder zu verlassen (IWPR

29.3.2018; vgl. Savelsberg 3.11.2017).

 

Die Wehrpflicht hat seit Anfang des Jahres 2021 in verschiedenen Teilen Nordostsyriens,

insbesondere in den östlichen ländlichen Gouvernements Deir ez-Zour und Raqqa,

Proteste ausgelöst. Lehrer haben sich besonders gegen die Einberufungskampagnen der

Syrian Democratic Forces (SDF) gewehrt, was zur Verhaftung und Entlassung einer großen

Anzahl von Pädagogen durch die Sicherheitskräfte der SDF geführt hat. Der Militärdienst

ist jedoch nur einer von vielen Missständen. Die unzureichende Bereitstellung von

Dienstleistungen und die Korruption oder Unfähigkeit der autonomen

Verwaltungseinheiten haben ebenfalls zu lokaler Unzufriedenheit geführt (COAR

7.6.2021).

 

Allgemeine Menschenrechtslage

Letzte Änderung: 30.06.2021

In dem seit mehr als neun Jahren andauernden Bürgerkrieg gab es nach Schätzungen

bereits rund eine halbe Million Tote (Welt 30.6.2020; vgl. BBC 12.7.2020). Das Regime

wurde durch den Erfolg seiner von Russland und Iran unterstützten Kampagnen so

gefestigt, dass es keinen Willen zeigt, integrative oder versöhnende demokratische

Prozesse einzuleiten. Dies zeigt sich in der Abwesenheit freier und fairer Wahlen sowie in

den gewaltsamen Maßnahmen zur Unterdrückung der Rede- und Versammlungsfreiheit.

Bewaffnete Akteure aller Fraktionen, darunter auch die Regierung, versuchen ihre

Herrschaft mit Gewalt durchzusetzen und zu legitimieren (BS 29.4.2020).

 

Es gibt krasse Ungleichheiten zwischen Arm und Reich, eine schwache Unterscheidung

zwischen Staat und Wirtschaftseliten und einen geschlossenen Kreis wirtschaftlicher

Möglichkeiten. Die Bürger werden ungleich behandelt. Ihnen werden aufgrund

konfessioneller Zugehörigkeit, des Herkunftsortes, ethnischer Zugehörigkeit und des

familiären Hintergrundes grundlegende staatsbürgerliche Rechte vorenthalten bzw.

Privilegien gewährt oder verweigert. Grundlegende Aspekte der Staatsbürgerschaft

werden großen Teilen der Bevölkerung verwehrt. Diese ungerechte Behandlung hat sich

im Laufe der Konfliktjahre vertieft (BS 29.4.2020).

 

Das Regime bezeichnete Meinungsäußerungen routinemäßig als illegal, und

Einzelpersonen konnten das Regime weder öffentlich noch privat kritisieren, ohne

Repressalien befürchten zu müssen. Das Regime übt strikte Kontrolle über die Verbreitung

von Informationen, auch über die Entwicklung der Kämpfe zwischen dem Regime und der

bewaffneten Opposition und die Verbreitung des COVID-19-Virus, aus und verbietet die

meiste Kritik am Regime und die Diskussion über konfessionelle Probleme, einschließlich

der Rechte von und Spannungen zwischen religiösen und ethnischen Minderheiten

(USDOS 30.3.2021).

 

Die Verfassung bestimmt die Ba'ath-Partei als die herrschende Partei und stellt sicher,

dass sie die Mehrheit in allen Regierungs- und Volksverbänden hat. Das Gesetz erlaubt die

Bildung anderer politischer Parteien, jedoch nicht auf Basis von Religion,

Stammeszugehörigkeit oder regionalen Interessen. Die Regierung erlaubt nur

regierungsnahen Gruppen offizielle Parteien zu gründen und zeigt wenig Toleranz

gegenüber anderen politischen Parteien, auch jenen, die mit der Ba'ath-Partei in der

National Progressive Front verbündet sind. Parteien wie die Communist Union Movement,

die Communist Action Party und die Arab Social Union werden schikaniert. Gesetze,

welche die Mitgliedschaft in illegalen Organisationen verbieten, wurden auch verwendet,

um Mitglieder von Menschenrechts- und Studentenorganisationen zu verhaften (USDOS

30.3.2021).

 

Weiterhin besteht in keinem Teil des Landes ein umfassender und langfristiger Schutz vor

willkürlicher Verhaftung und Repression durch die zahlreichen Sicherheitsdienste, Milizen

und sonstige regimenahe Institutionen. Dies gilt auch für Landesteile, insbesondere im

äußersten Westen des Landes sowie der Hauptstadt Damaskus, in denen traditionell

Bevölkerungsteile leben, die dem Regime näher stehen. Selbst bis dahin als regimenah

geltende Personen können aufgrund allgegenwärtiger staatlicher Willkür grundsätzlich

Opfer von Repressionen werden (AA 19.5.2020).

 

In Gebieten, die von der Regierung zurückerobert werden, kommt es zu

Beschlagnahmungen von Eigentum, großflächigen Zerstörungen von Häusern und

willkürlichen Verhaftungen (SNHR 26.1.2021; vgl. SHRC 24.1.2019, HRW 13.1.2021).

Diejenigen, die sich mit der Regierung "versöhnt" haben, werden weiterhin durch die

Regierungstruppen misshandelt (HRW 14.1.2020; vgl. AA 4.12.2020, SNHR 26.1.2021).

Auch nichtstaatliche bewaffnete Oppositionsgruppen begehen schwere Übergriffe. Das

Schicksal von Tausenden, die vom sogenannten Islamischen Staat (IS) entführt wurden,

bleibt unbekannt. Auch die kurdischen Behörden, die von den USA geführte Koalition oder

die syrische Regierung unternehmen keine Schritte, deren Verbleib zu ermitteln (HRW

13.1.2021).

 

Es sind zahllose Fälle bekannt, bei denen Personen für als regierungsfeindlich angesehene

Tätigkeiten ihrer Verwandten inhaftiert und gefoltert werden, darunter sollen auch Fälle

sein, bei denen die gesuchten Personen ins Ausland geflüchtet sind (AA 4.12.2020). Frauen

mit familiären Verbindungen zu Oppositionskämpfern oder Abtrünnigen werden z.B. als

Vergeltung oder zur Informationsgewinnung festgenommen (UNHRC 31.1.2019).

 

Außerdem werden Personen festgenommen, die Kontakte zu Verwandten oder Freunden

unterhalten, die in von der Opposition kontrollierten Gebieten leben (UNHRC 31.1.2019;

vgl. UNHCR 7.5.2020, SNHR 26.1.2021).

 

Tausende Menschen starben seit 2011 im Gewahrsam der syrischen Regierung an Folter

und entsetzlichen Haftbedingungen (HRW 14.1.2020). Die Methoden der Folter, des

Verschwindenlassens und der schlechten Bedingungen in den Haftanstalten sind keine

Neuerung der letzten Jahre seit Ausbruch des Konfliktes, sondern waren bereits zuvor

gängige Praxis der unterschiedlichen Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden in

Syrien (SHRC 24.1.2019). Die syrischen Regimekräfte und ihre Sicherheitsapparate setzen

ihre systematische Politik der Inhaftierung und des Verschwindenlassens von

Zehntausenden von Syrern fort. Trotz der Verringerung des Tempos der Inhaftierungen

und des gewaltsamen Verschwindenlassens im Jahr 2020 konnte keine wirkliche

Veränderung im Verhalten des Regimes beobachtet werden, sei es in Bezug auf die

Freilassung der Inhaftierten oder die Aufdeckung des Schicksals der Verschwundenen

(SHRC 1.2021).

 

Weitere schwere Menschenrechtsverletzungen, derer das Regime und seine Verbündeten

beschuldigt werden, sind willkürliche und absichtliche Angriffe auf Zivilisten, darunter

auch der Einsatz von chemischen Waffen; Massaker und Vergewaltigungen als

Kriegstaktik; Einsatz von Kindersoldaten sowie übermäßige Einschränkungen der

Bewegungs-, Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit, inklusive Zensur. Die

Regierung überwacht die Kommunikation im Internet, inklusive E-Mails, greift in Internetund

Telefondienste ein und blockiert diese. Die Regierung setzt ausgereifte Technologien

und Hunderte von Computerspezialisten für Überwachungszwecke ein (USDOS 30.3.2021).

Berichten zufolge sind Personen in Gebieten, die erst vor kurzer Zeit durch die Regierung

wiedererobert wurden, aus Angst vor Repressalien oft zögerlich dabei, über die Situation

in diesen Gebieten zu berichten (USDOS 11.3.2020). Zwangsdeportationen von

Hunderttausenden Bürgern haben ganze Städte und Dörfer entvölkert (BS 29.4.2020).

Bewaffnete terroristische Gruppierungen, wie die mit al-Qaida in Verbindung stehende

Gruppe Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS), sind für weitverbreitete

Menschenrechtsverletzungen, darunter rechtswidrige Tötungen und Entführungen,

rechtswidrige Inhaftierungen, extreme körperliche Misshandlungen, Tötungen von

Zivilisten bei Angriffen, die als wahllos beschrieben wurden, und Zwangsräumungen von

Häusern auf der Grundlage der konfessionellen Identität, verantwortlich (USDOS

30.3.2021).

 

Elemente der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), einer Koalition aus syrischen

Kurden, Arabern, Turkmenen und anderen Minderheiten, zu der auch Mitglieder der

Kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) gehören, sollen für

Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sein, darunter willkürliche Inhaftierungen,

Folter, Korruption und Einschränkungen der Versammlungsfreiheit (USDOS 30.3.2021). Es

gibt vereinzelte Berichte über Festnahmen von Journalisten, Mitgliedern von

Menschenrechtsorganisationen und Oppositionsparteien und Personen, die sich

weigerten mit den kurdischen Gruppen zu kooperieren (USDOS 11.3.2020; vgl. HRW

10.9.2018, SNHR 26.1.2021).

 

Die menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten stellt sich

insgesamt erkennbar weniger gravierend dar als in den Gebieten, die sich unter Kontrolle

des syrischen Regimes oder islamistischer und jihadistischer Gruppen befinden (AA

4.12.2020).

 

Ein besonderes Merkmal des Konflikts in Syrien ist, dass verschiedene Konfliktparteien

häufig größeren Gruppen von Menschen, einschließlich Familien, Stämmen, religiösen

oder ethnischen Gruppen oder ganzen Städten, Dörfern oder Nachbarschaften, durch

Assoziation eine politische Meinung zuschreiben. Als solche können Mitglieder einer

größeren Einheit, ohne individuell herausgegriffen zu werden, zum Ziel von Repressalien

durch verschiedene Akteure aufgrund von tatsächlicher oder vermeintlicher

Unterstützung einer anderen Konfliktpartei werden. Die Wahrnehmung einer politischen

Meinung oder Zugehörigkeit zu einer Konfliktpartei basiert oft auf wenig mehr als der

physischen Präsenz einer Person in einem bestimmten Gebiet (oder der Tatsache, dass sie

aus einem bestimmten Gebiet stammt) oder ihrem ethnischen oder religiösen

Hintergrund (UNHCR 3.2021).

 

Todesstrafe

Letzte Änderung: 30.06.2021

Die syrische Strafgesetzgebung sieht für Mord, schwere Drogendelikte, Terrorismus,

Hochverrat und weitere Delikte die Todesstrafe vor. Vor allem die durch das Regime

betriebene unterschiedslose Diffamierung von politischen Gegnern, bewaffneten Rebellen

und selbst den syrischen "Weißhelmen" als Terroristen, oder die sehr weite Fassung des

Begriffs Hochverrat, ermöglicht den Missbrauch der Todesstrafe zu politischen Zwecken.

Verurteilungen wegen Mitgliedschaft in der Muslimbruderschaft, worauf ebenfalls die

Todesstrafe steht, werden seit einigen Jahren in der Regel in zwölfjährige Freiheitsstrafen

umgewandelt. Im Jahr 2010 wurden 17 Hinrichtungen bekannt. Seit Beginn des

bewaffneten Konflikts liegen jedoch keine offiziellen Zahlen mehr vor. Im Rahmen der

Kampfhandlungen seit 2011 kam es zu einer Vielzahl von außergerichtlichen Tötungen und

Hinrichtungen, über die keine belastbaren Zahlen vorliegen. Nach Aussagen von

freigelassenen Häftlingen gegenüber Amnesty International (AI) finden regelmäßig

Exekutionen in Gefängnissen statt (AA 4.12.2020).

 

AI konnte für das Jahr 2020 erneut bestätigen, dass Todesurteile verhängt wurden,

verfügte aber nicht über ausreichende Informationen, um eine glaubwürdige Mindestzahl

zu nennen (AI 4.2021). Zwischen 2011 und 2015 wurden etwa 13.000 Gefangene,

überwiegend Zivilpersonen, die als Regierungskritiker angesehen wurden, Opfer

massenhafter außergerichtlicher Hinrichtungen. Die Gerichtsverfahren vor einem

militärischen Feldgericht erfüllten die internationalen Mindeststandards für faire

Gerichtsverfahren bei weitem nicht (AI 22.2.2018). Im Verlauf des Jahres 2018 wurde eine

steigende Zahl von Todesurteilen, unter anderem vor Feldgerichten in Damaskus

ausgesprochen, um die Zahl der politischen Gegner zu verringern (TWP 23.12.2018).

Häftlinge haben 2019 Warnungen aus dem Gefängnis geschmuggelt, dass Hunderte zu

einer Hinrichtungsstätte, das Saydnaya-Gefängnis, gebracht werden, und frisch entlassene

Häftlinge berichteten, dass sich die Hinrichtungen dort beschleunigen (TNYT 11.5.2019).

Die Unabhängige Untersuchungskommission der Vereinten Nationen (VN) für Syrien

berichtete ebenfalls von außergerichtlichen Hinrichtungen in Gebieten unter

Regierungskontrolle. Die "Generalamnestie" vom 22.3.2020 verringert die Todesstrafe bei

einer Vielzahl von Vergehen auf lebenslange harte Strafarbeit, bei anderen Vergehen, z.B.

im Rahmen des Anti-Terror-Gesetzes von 2012, besteht die Todesstrafe fort (AA

4.12.2020).

 

Im Laufe des bewaffneten Konflikts kam es ebenfalls zu Hinrichtungen von

gefangengenommenen Angehörigen der syrischen Sicherheitskräfte durch zumeist

radikalislamische bewaffnete Oppositionsgruppen (AA 4.12.2020). Bis zu seiner

territorialen Niederlage im April 2019 tötete der sogenannte Islamische Staat (IS)

Hunderte von Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder, durch öffentliche Hinrichtungen, wie

Kreuzigungen und Enthauptungen unter dem Vorwurf des Glaubensabfalls, der

Blasphemie und der Homosexualität (USDOS 11.6.2020).

 

Religionsfreiheit

Letzte Änderung: 30.06.2021

In Syrien gibt es keine offizielle Staatsreligion, wobei die Verfassung jedoch vorsieht, dass

der syrische Präsident Muslim sein muss, und dass die islamische Rechtsprechung eine

Hauptquelle der Gesetzgebung darstellt. In Angelegenheiten des Personenstandsrechtes

fallen alle Bürger unter die Gesetzgebung ihrer jeweiligen religiösen Gruppe (Christentum,

Islam oder Judentum). Zur Klärung von Fragen des Familienstandes verlangt die Regierung

daher von ihren Bürgern, ihre Glaubenszugehörigkeit zu einer dieser drei Religionen

registrieren zu lassen. Die Religionszugehörigkeit, abgesehen von der jüdischen

Religionszugehörigkeit, wird nicht im Pass und auf der Identitätskarte vermerkt (USDOS

12.5.2021). Es ist nicht möglich, "keine Religion" zu registrieren (Eijk 2013). Das Gesetz

schränkt Missionierung und Konversionen ein. Es verbietet die Konversion vom Islam zu

anderen Religionen, erkennt die Konversion zum Islam jedoch an. Das Strafgesetz

verbietet "das Verursachen von Spannungen zwischen religiösen Gemeinschaften"

(USDOS 12.5.2021).

 

Bereits vor dem Konflikt wuchs die Bedeutung von religiösen Stiftungen, um fehlende

staatliche soziale und wirtschaftliche Leistungen auszugleichen. Im Zuge des Konfliktes

verstärkte sich diese Rolle abermals. Religiöse Netzwerke in oppositionellen Gebieten, die

in Verbindung mit bewaffneten Fraktionen stehen, wurden zu Pseudo-Organen der

Lokalverwaltung und übernahmen Aufgaben wie z.B. die Verteilung von Hilfsgütern,

Sozialleistungen, Bildung, Verwaltung von Bäckereien und die Verwaltung von

Flüchtlingslagern. Begleitend zu diesen sozialen Diensten gab es klare Bemühungen um

religiöse Indoktrination, z.B. die Vereinheitlichung der Verschleierung, die Verbreitung des

Korans und den Betrieb von Waisenhäusern (in denen sich das Leben um religiöse Lehren

und das Auswendiglernen des Korans dreht). Auch in den von der Regierung kontrollierten

Gebieten wurden religiösen Akteuren, die vom Staat als vertrauenswürdig erachtet

wurden, beispiellose Vorrechte innerhalb ihrer Gemeinschaften eingeräumt. Sie

übernahmen kommunale Aufgaben, um den Zerfall staatlicher Strukturen und Leistungen

auszugleichen, wie beispielsweise die Stromversorgung durch privat betriebene und in

Privatbesitz befindliche Stromgeneratoren (CMEC 19.3.2019).

 

Gesetz Nr. 31 vom Oktober 2018 verleiht dem syrischen Ministerium für Religiöse

Stiftungen („Ministry of Awqaf“) zusätzliche Befugnisse (CEIP 14.11.2018; vgl. CMEC

19.3.2019). So beinhaltet das Gesetz die Einrichtung eines "Rechtswissenschaftlichen und

Gelehrten Rates" mit der Entscheidungshoheit über die Definition, welche Inhalte im

religiösen Diskurs angemessen sind. Der Minister wird mit der Kompetenz ausgestattet

religiöse Persönlichkeiten zu bestrafen, wenn diese "extremistische" oder

auch "abweichende" religiöse Lehren verbreiten, indem ihnen die Lizenz entzogen oder

gegen sie ein Gerichtsverfahren eingeleitet wird. Der Rat soll außerdem jede Fatwa, die in

Syrien veröffentlicht wird, überwachen, um die Verbreitung wahhabitischen oder mit der

Muslimbruderschaft in Verbindung stehenden Gedankenguts zu verhindern (CEIP

14.11.2018). Einem syrischen Anwalt zufolge kann der Minister durch diese

Gesetzesänderung auch in Bereichen, die nicht direkt mit der Verwaltung dieses

Ministeriums in Zusammenhang stehen, Einfluss ausüben, so z.B. auf religiöse Literatur

(France24 14.10.2018).

 

Das syrische Eherecht kennt das Ehehindernis der Religionsverschiedenheit. So ist die Ehe

einer muslimischen Frau mit einem nichtmuslimischen Mann nichtig (MPG o.D.a). Sie wäre

laut Gesetz nicht-existent, selbst wenn sie bereits vollzogen wurde (Eijk 2013). Nach dem

Konsens der islamischen Juristen ist eine Ehe zwischen einem Muslim und einer

nichtmuslimischen Frau wirksam, sofern diese einer der zwei anderen Buchreligionen -

also Christentum und Judentum - angehört (MPG o.D.a). Eine christliche Ehefrau eines

muslimischen Mannes kann jedoch nichts von ihrem Mann erben, selbst wenn sie zum

Islam konvertiert, und sie kann nur auf einem islamischen Friedhof begraben werden,

wenn sie konvertiert (USDOS 12.5.2021). Ihre Kinder werden automatisch Muslime (Eijk

2013).

 

Anm.: Siehe auch Kapitel „Ethnische und religiöse Minderheiten“.

 

Bewegungsfreiheit

Bewegungsfreiheit innerhalb Syriens

 Letzte Änderung: 30.06.2021

Die Regierung, Hay'at Tahrir ash-Sham (HTS) und andere bewaffnete Gruppen

beschränken die Bewegungsfreiheit in Syrien und richteten Checkpoints zur Überwachung

der Reisebewegungen in den von ihnen kontrollierten Gebieten ein (USDOS 30.3.2021).

Die Bewegungsfreiheit der syrischen Bevölkerung wird auch durch aktive

Kampfhandlungen eingeschränkt (UNSC 23.10.2018), etwa durch Belagerungen, die auch

zur Einschränkung der Versorgung der betroffenen Gebiete und damit zu

Mangelernährung, Hunger und Todesfällen führen (USDOS 30.3.2021). Seit der zweiten

Hälfte des Jahres 2018 befinden sich jedoch weit weniger Gebiete unter Belagerung,

nachdem die Regierung und sie unterstützende ausländische Einheiten die meisten

Gebiete im Süden und Zentrum des Landes wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben

(SHRC 24.1.2019).

 

Durch die Wiedereroberung vormals von Rebellen gehaltener Gebiete durch die Regierung

konnten manche wichtige Verkehrswege wieder eröffnet werden. Dies verbessert den

Personen- und Warenverkehr in von der Regierung gehaltenen Gebieten. Die Bedingungen

sind immer noch schwierig (Reuters 27.9.2018). Die Infrastruktur im Land hat unter den

Kriegswirren erheblich gelitten. In den Städten und auf den Hauptverbindungsstraßen

Syriens gibt es eine Vielzahl militärischer Kontrollposten der syrischen

Sicherheitsbehörden und bewaffneter Milizen, die umfassende und häufig willkürliche

Kontrollen durchführen, teils verbunden mit Forderungen nach Geldzahlungen.

Überlandstraßen und Autobahnen sind zeitweise gesperrt (AA 19.8.2020).

Die Fortbewegung in der Stadt Damaskus hat sich Berichten zufolge seit Mai 2018 und der

damaligen Wiedereroberung von oppositionellen Gebieten durch die Regierung

verbessert, da z.B. seither weniger Checkpoints in der Stadt betrieben werden. Die

Checkpoints werden von den unterschiedlichen Sicherheitsbehörden bemannt. Personen

können beim Passieren von Checkpoints genaueren Kontrollen unterliegen, wenn sie aus

oppositionell-kontrollierten Gebieten stammen oder dort wohnen, oder auch wenn sie

Verbindungen zu oppositionellen Gruppierungen haben. Männer im wehrfähigen Alter

werden auch hinsichtlich des Status ihres Wehrdienstes gesondert überprüft. Auch eine

Namensgleichheit mit einer gesuchten Person kann zu Problemen an Checkpoints führen

(DIS/DRC 2.2019). Die Behandlung von Personen an einem Checkpoint kann sehr

unterschiedlich (DIS 9.2019) bzw. recht willkürlich sein. Die fehlende Rechtssicherheit und

die in Syrien im Verlauf des Konfliktes generell gestiegene Willkür verursacht auch

Probleme an Checkpoints (FIS 14.12.2018).

 

Laut Human Rights Watch wird Personen, die aus vom IS gehaltenen Gebieten flüchten,

der Zutritt in kurdisch kontrollierte Gebiete verweigert, wenn diese keinen kurdischen

Fürsprecher (Sponsor) vorweisen können (HRW 1.8.2018).

 

Teilen der syrischen Bevölkerung, speziell Rückkehrern und Menschen in Gebieten, die

vom Regime zurückerobert wurden, fehlt weiterhin der Zugang zu für den persönlichen

Alltag, Dienstleistungen und ihre Bewegungsfreiheit notwendigen Personal-und

Personenstandsdokumenten (AA 19.5.2020).

 

Die vorherrschende Gewalt und starke kulturelle Zwänge schränken die Bewegungsfreiheit

von Frauen in vielen Gebieten stark ein. In Gebieten, die von bewaffneten

Oppositionsgruppen und terroristischen Gruppen wie der islamistischen Miliz Hay'at

Tahrir ash-Sham (HTS) kontrolliert werden, schränken diese ebenfalls die

Bewegungsfreiheit ein. HTS griff systematisch in die Bewegungsfreiheit von Frauen ein,

belästigte unbegleitete Frauen und verwehrte ihnen unter Androhung von Haft den

Zugang zu öffentlichen Veranstaltungen (USDOS 30.3.2021).

Anm.: Informationen zu Zugangsbeschränkungen zu Herkunftsgebieten siehe Kapitel

„Rückkehr“.

 

Ein- und Ausreise, Situation an Grenzübergängen

Letzte Änderung: 30.06.2021

Die syrische Regierung kann die Ausstellung von Reisepässen oder anderen wichtigen

Dokumenten aufgrund der politischen Einstellung einer Person, deren Verbindung zu

oppositionellen Gruppen oder der Verbindung zu einem von der Opposition dominierten

geographischen Gebiet, verweigern. Das syrische Regime verlangt außerdem ein

Ausreisevisum und schließt regelmäßig den Flughafen Damaskus und Grenzübergänge,

angeblich aus Sicherheitsgründen (USDOS 30.3.2021). Grenzen sind zum Teil für den

Personenverkehr geschlossen bzw. können ohne Vorankündigung kurzfristig geschlossen

werden und eine Ausreise aus Syrien unmöglich machen (AA 19.8.2020). Die Regierung

verbietet durchgängig die Ausreise von Mitgliedern der Opposition. Viele Personen

erfahren erst von einem Ausreiseverbot, wenn ihnen die Ausreise verweigert wird.

Berichten zufolge verhängt das Regime Reiseverbote ohne Erklärung oder explizite

Nennung der Dauer (USDOS 30.3.2021).

 

Minderjährige Kinder können nicht ohne schriftliche Genehmigung ihres Vaters ins

Ausland reisen, selbst wenn sie sich in Begleitung ihrer Mutter befinden (STDOK 8.2017).

Außerdem gibt es ein Gesetz, das Ehemännern erlaubt, ihren Ehefrauen das Reisen zu

verbieten (USDOS 30.3.2021).

 

Einige in Syrien aufhältige Palästinenser brauchen für eine legale Ausreise aus Syrien eine

Genehmigung und müssen sich zusätzlich einer weiteren Sicherheitskontrolle unterziehen,

dies hängt jedoch von ihrem rechtlichen Status in Syrien ab (STDOK 8.2017).

Infolge der COVID-19-Pandemie wurden sowohl der Flughafen Damaskus als auch die

Grenzen zu den Nachbarländern geschlossen. Innerhalb des Landes wurden mehrere

Maßnahmen zur Begrenzung der Ausbreitung umgesetzt, darunter Ausgangssperren.

Reisen zwischen den Provinzen wurde weitestgehend untersagt (AA 19.5.2020). Es gab

jedoch bereits wieder Lockerungen, sowohl für Reisen in das Ausland, als auch bei der

Einreise nach Syrien. Der Flugbetrieb am internationalen Flughafen in Damaskus wurde

wieder aufgenommen (BMEIA 19.8.2020). Es kommt jedoch zu verstärkten

Einreisekontrollen, Gesundheitsprüfungen und Einreisesperren (AA 19.8.2020). Die

Reisebeschränkungen zwischen Städten und Umland wurden wieder aufgehoben (FES

7.2020).

 

IDPs und Flüchtlinge

Letzte Änderung: 30.06.2021

Im Jahr 2020 registrierte UNOCHA in Syrien rund 1,8 Millionen Binnenvertriebene. Ca.

450.000 Binnenvertriebene kehrten in diesem Jahr dagegen zurück (UNOCHA 8.2.2021).

Insgesamt beläuft sich die Zahl der Binnenvertriebenen mit Stand 2020 auf 6,7 Millionen

(CIA 16.2.2021). Die meisten Binnenflüchtlinge suchen in Gastgemeinden, Sammelzentren,

verlassenen Gebäuden oder informellen Lagern Schutz (USDOS 30.3.2021).

Die Verschiebung der Frontlinien und die daraus folgenden Veränderungen der

Sicherheitslage führten zu mehrmaliger Vertreibung von Personen. IDPs verließen bei

einem Rückgang der Gewalt [in einem Gebiet] ihre Unterkünfte und kehrten in ihre

Heimat zurück, nur um dann erneut zu fliehen, nachdem die Kämpfe wieder eskalierten

(IDMC o.D.).

 

Die Regierung verwendete weiterhin Gesetz Nr. 10, um regierungstreue Personen zu

belohnen und Flüchtlinge und IDPs daran zu hindern, ihr Eigentum einzufordern oder in

ihre Heimat zurückzukehren (USDOS 12.5.2021).

 

Das syrische Gesetz bietet die Möglichkeit den Flüchtlingsstatus zu gewähren. Das Gesetz

garantiert Flüchtlingen nicht explizit das Recht auf Arbeit, außer Palästinensern mit einem

bestimmten rechtlichen Status. Die Regierung gewährt Nicht-Palästinensern selten

Arbeitsgenehmigungen, und viele Geflüchtete finden im informellen Sektor Arbeit, z.B. als

Wachpersonal, Bauarbeiter, Straßenhändler oder in anderen manuellen Berufen (USDOS

30.3.2021).

 

Die Regierung gewährt irakischen Flüchtlingen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen,

wie Gesundheitsversorgung und Bildung, doch Aufenthaltsgenehmigungen sind nur für

jene erhältlich, die legal einreisen und einen gültigen Pass haben. Diese Kriterien erfüllten

nicht alle Flüchtlinge. Es wird geschätzt, dass sich 23.600 nicht-palästinensische Flüchtlinge

in Syrien aufhalten. Diese sind mit wachsenden Risiken und verstärkten

Sicherheitsmaßnahmen bei Checkpoints konfrontiert (USDOS 30.3.2021).

 

Anm.: Weitere Informationen zur Rückkehr von Binnenvertriebenen und Flüchtlingen siehe

Kapitel „Rückkehr“. Für weitere Informationen zu palästinensischen Flüchtlingen in Syrien

siehe Kapitel „Palästinensische Flüchtlinge“

 

Grundversorgung und Wirtschaft

Letzte Änderung: 30.06.2021

Der seit 2011 andauernde Krieg in Syrien hat massive Auswirkungen auf die

Wirtschaftsleistung, die Sicherheitslage und die humanitäre Lage im Land. Die Regierung

Syriens sieht sich mit internationalen Sanktionen, einer breiten Zerstörung der

Infrastruktur, geringen Devisenreserven, der weiterhin nicht vollständigen territorialen

Kontrolle aller Landesteile, einer hohen Anzahl an Binnenflüchtlingen sowie der Präsenz

kleinerer terroristischer Gruppen konfrontiert. Die im November 2018 und März 2019

erfolgte Verschärfung der US-Sanktionen und das Auslaufen der iranischen Kredite für

Ölimporte 2018 führten zu einem massiven Versorgungsengpass an Öl (WKO 17.10.2019).

Das Jahr 2020 erlebte einen wirtschaftlichen Niedergang, vor allem in den vom Regime

kontrollierten Gebieten, während der Wert der syrischen Lira [synonym verwendbar für

Pfund, Anm.] auf ein während des gesamten Krieges noch nie dagewesenes Niveau sank.

Auf den Märkten kam es zu Einschränkungen bei lebenswichtigen Produkten und einer

enormen Preisinflation, die dazu führen könnte, dass die Zahl der Menschen unter der

Kontrolle des Regimes, die unter der Armutsgrenze leben, steigt (SHRC 1.2021).

 

Im Verlauf der bewaffneten Auseinandersetzungen ist Syriens Infrastruktur weitgehend

zerstört worden. Dies betrifft vor allem den Energiesektor inklusive Öl- und Gasförderung

sowie Elektrizitätswerke, Straßen und Transportwege sowie Wasser- und

Abwasserversorgung. Zu massiven Schäden kam es ebenso beim Wohnungsbestand, bei

Gesundheits- und Bildungseinrichtungen sowie in der Landwirtschaft. Dabei sind die

Kriegsschäden sehr ungleich verteilt. Schwere Zerstörungen gibt es vor allem in jenen

Gebieten, die teils jahrelang umkämpft waren und die durch das Regime und seine

Verbündeten von den Rebellen oder dem sogenannten Islamischen Staat (IS)

zurückerobert wurden. Insbesondere gilt das für die östlichen Vororte von Damaskus, für

Yarmouk, ein Flüchtlingscamp am Südrand der Hauptstadt, ebenso für Ost-Aleppo, Raqqa,

Homs und Hama. Vor allem in den (vormals) umkämpften Orten ist die Versorgung mit

Gesundheitsdienstleistungen, Schulbildung, Trinkwasser und Elektrizität erheblich

eingeschränkt (SWP 7.4.2020).

 

Vor dem Krieg betrug das Bruttoinlandsprodukt (BIP) Syriens 60 Milliarden US-Dollar (TE

28.6.2018). In Relation zum Vorkriegsniveau ist das BIP um etwa 65% zurückgegangen

(CHH 26.9.2019). Unterschiedlichen Schätzungen zufolge könnten die Kosten des

Wiederaufbaus bei 250 bis 400 Milliarden oder sogar einer Billion US-Dollar liegen (SWP

7.4.2020). Internationale Sanktionen, große strukturelle Schäden, der verringerte Konsum

und die geminderte Produktion, reduzierte Subventionen und die hohe Inflation senken

unter anderem den Wert des syrischen Pfunds und die Kaufkraft privater Haushalte (CIA

16.2.2021; vgl. TS 22.1.2020). Im Jänner 2020 erließ Assad ein Dekret, wonach das syrische

Pfund bei geschäftlichen Transaktionen als Währung zwingend vorgeschrieben ist.

Geschäfte mit ausländischen Währungen werden mit bis zu sieben Jahren Zwangsarbeit

bestraft (TS 22.1.2020).

 

Landesweite Wirtschaftsindikatoren zeigen die Lage in Syrien jedoch nur unvollständig, da

die Situation unterschiedlich ist, je nachdem, wer welches Gebiet kontrolliert (BS

29.4.2020), oder weil das Zahlenmaterial teils auf Schätzungen oder Statistiken basiert, die

regionale Unterschiede missachten, nicht flächendeckend sind oder zu

Propagandazwecken veröffentlicht werden (WKO 10.2019).

 

Mit dem Abflauen des Konflikts dominiert die katastrophale wirtschaftliche Lage und die

Verarmung breiter Bevölkerungsschichten die öffentliche Wahrnehmung und Kritik, auch

seitens bisher regierungsloyaler Bevölkerungsgruppen (ÖB 29.9.2020). Wirtschaftliche

Verluste führten zum Verlust von Arbeitsplätzen. Inzwischen gehen laut GIZ drei von vier

Erwachsenen keiner beruflichen Tätigkeit mehr nach (GIZ 9.2020). Das deutsche

Auswärtige Amt berichtet hingegen, dass 50% der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos

sind (AA 4.12.2020). Der Think Tank Middle East Institute berichtete schon 2018, dass es in

Damaskus immer schwieriger wird ohne Beziehungen (wasta) eine Arbeitsmöglichkeit zu

finden (MEI 6.11.2018). Aufgrund von Treibstoffknappheit verteuern sich auch viele

Grundprodukte, und die Preise öffentlicher Verkehrsmittel erhöhten sich teilweise um bis

zu 200%, sodass für viele Menschen der Weg zur Arbeit inzwischen teurer ist als ihr Gehalt

(AA 4.12.2020).

 

Die Covid-19 Krise verschärft die Wirtschaftslage weiter. Der anhaltende Währungsverfall

des syrischen Pfunds – allein um zwei Drittel innerhalb eines Jahres und um 97% seit

Konfliktbeginn – erodiert Haushaltseinkommen, während Lebensmittelpreise stark

steigen: Selbst Preise von Grundnahrungsmitteln sind innerhalb der zweiten Hälfte des

Jahres 2020 um ca. 200% gestiegen. Versorgungsengpässe halten an oder verschlimmern

sich. Mittlerweile sind subventionierte Basisgüter nur in begrenztem Umfang über eine

elektronische Karte zu beziehen, zuerst Benzin und Heizöl, dann Reis, Zucker, Tee und

Speiseöl, zuletzt sogar Brot. Rücküberweisungen der syrischen Diaspora, die bisher eine

wichtige Einnahmequelle darstellen, sinken. Die andauernde politische und wirtschaftliche

Krise im benachbarten Libanon hemmt die Aussichten auf wirtschaftliche Erholung in

Syrien zusätzlich, da auf umfangreiche syrische Vermögenswerte in libanesischen Banken

nicht mehr zugegriffen werden kann und die Abwicklung von Importen nach Syrien über

den Hafen und Finanzplatz Beirut auch weiterhin nur in begrenztem Maße möglich ist.

Mitte 2020 führten die türkisch-kontrollierten Gebiete in Nordsyrien die türkische Lira als

Währung ein, um das volatile syrische Pfund zu umgehen (AA 4.12.2020).

Durch den Bürgerkrieg haben sich bestehende Einkommens- und

Vermögensungleichheiten verschärft, indem gleichzeitig große Teile der Bevölkerung in

die Armut getrieben und die Konsolidierung einer wohlhabenden Wirtschaftselite in den

von der Regierung kontrollierten Gebieten ermöglicht wurde. Die Mittelschicht ist

landesweit verschwunden. Es zeichnet sich ein Muster der Ungleichheit innerhalb der von

der Regierung kontrollierten Gebiete ab: Ehemals von der Opposition kontrollierte

Gebiete sind anfälliger für die Verletzung ihrer wirtschaftlichen Freiheiten (durch

Plünderungen und Einschüchterungen) und haben weniger Chancen, von

Wiederaufbaugeldern zu profitieren. Die Entwicklungsungleichheit folgt zunehmend der

historischen Loyalität einer Region gegenüber dem Regime Assads und nicht mehr dem

ethnischen oder religiösen Status (BS 29.4.2020).

 

Die syrische Regierung kontrolliert den Zugang zu humanitärer Hilfe und die Sammlung

von Daten. Die Organisationen können folglich weder ein eigenes Monitoring und

Evaluierungen noch unabhängige Studien über die Bevölkerung oder deren Bedürfnisse

durchführen. Davon ist auch UNHCR nicht ausgenommen. Dies führt dazu, dass in

manchen Gebieten die Bedarfserhebungen unvollständig sind. In manchen Fällen ist

UNHCR auch gezwungen die Untersuchungen durch andere NGOs durchführen zu lassen

(EIP 6.2019). Im Juli 2020 setzte die Russische Föderation für ihren Verbündeten Syrien

durch, dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen humanitäre Hilfslieferungen in den

hauptsächlich von Rebellen kontrollierten Nordwesten des Landes nur mehr über einen

Grenzübergang von der Türkei aus zu liefern. Russland argumentiert, dass die

Hilfslieferungen von innerhalb des Landes über die Konfliktlinien hinweg erfolgen sollten.

So wird die humanitäre Hilfe für 1,3 Millionen Menschen in der Region Aleppo, darunter

800.000 IDPs und 500.000 Kinder, gefährdet (EN 12.7.2020).

 

Der Zugang zu Sozialleistungen wird häufig durch die geografische Lage und die politische

Kontrolle bestimmt. In den von der Regierung kontrollierten Gebieten waren bestimmte

Sozialleistungen eine wichtige Stütze für die "Leistungsfähigkeit des Staates", vor allem

der fortgesetzte Zugang zu subventioniertem Brot. Das Regime versucht jedoch auch, den

Zugang zu Sozialleistungen in Rebellengebieten zu verhindern. Dies geschieht häufig durch

die Ausbeutung von Hilfslieferungen an Checkpoints durch Regimekräfte sowie durch

andere bewaffnete Gruppen. Mangelnde Überwachung bedingt außerdem, dass die Hilfe,

selbst wenn sie die betroffenen Gebiete erreicht, oft nach politischen Loyalitäten oder

familiären Bindungen verteilt wird. Die Regierung verlässt sich zunehmend auf

Wohltätigkeitsverbände bei der Vergabe von Sozialleistungen und Unterstützungen (BS

29.4.2020).

 

Laut Angaben der Vereinten Nationen vom März 2021 benötigen 13,4 Mio. Menschen in

Syrien humanitäre Hilfe. Dies stellt eine Steigerung von 21% gegenüber dem Jahr 2020

dar. Mehr als 90% der Bevölkerung leben Schätzungen zufolge unterhalb der

Armutsgrenze (UNOCHA 3.2021). Ausreichender humanitärer Zugang und Schutz der

Zivilbevölkerung stellen weiter die größte Herausforderung dar. Das syrische Regime

gewährt weiterhin keinen ausreichenden Zugang zu den zurückeroberten Gebieten.

Insgesamt wurden im Februar und März 2020 nur 44% der humanitären Missionen, die

einer Genehmigung des Regimes bedürfen, genehmigt (AA 19.5.2020).

 

Außerhalb von Damaskus übersteigt der durchschnittliche Lebensmittelpreis die Preise in

der Hauptstadt um ein Vielfaches, aber auch in Damaskus und den Gouvernements

Lattakia und Tartous hat sich die Versorgungslage aufgrund der Wirtschaftskrise wieder

deutlich verschlechtert. Zur Versorgunglage der vier bis fünf Mio. nicht von humanitärer

Hilfe abhängiger Menschen in Syrien liegen laut UN keine Daten vor. In Gebieten im

Nordwesten und Nordosten Syriens sowie Landesteilen mit einem hohen Anteil an

Binnenvertriebenen ist die humanitäre Lage besonders angespannt. Die kritische

Versorgungslage hat in Regionen mit einem besonders hohen Anteil Binnenvertriebener

(z.B. Provinz Idlib, aber auch Zufluchtsorte in den Provinzen Homs, Damaskus, Lattakia und

Tartous) darüber hinaus vereinzelt zu Ablehnung und Abweisung von Neuankömmlingen

geführt, die als Konkurrenten in Bezug auf die ohnehin sehr knappen Ressourcen gesehen

werden. Nach wie vor verhindert das Regime Hilfslieferungen über die Konfliktlinien in

Oppositionsgebiete. Die Zahl der akut hilfsbedürftigen Personen ist laut UNOCHA in

Tartous, Lattakia und Teilen Hassakahs am niedrigsten. Der Zugang zu Wasser, Elektrizität,

Bildung und gesundheitlicher Versorgung ist dort grundlegend gewährleistet. Doch auch

dort sind Teile der Bevölkerung, vor allem Binnenvertriebene und vulnerable

Aufnahmegemeinden in den ländlichen Gegenden, weiterhin von Lebensmittelhilfe

abhängig (AA 4.12.2020).

 

In Damaskus haben sich fast eine Million Binnenvertriebene vorübergehend oder

dauerhaft niedergelassen, während ein großer Teil der Wohnhäuser am ehemals von den

Rebellen gehaltenen östlichen und südlichen Stadtrand zerstört ist (Wind/Ibrahim 2.2020).

Die Nachfrage nach Wohnraum ist enorm, während das Angebot auf dem

Wohnungsmarkt begrenzt ist. Neue Stadtentwicklungsprojekte sind luxuriös und

unerschwinglich für Familien, die ihr Zuhause aufgrund des Krieges verloren haben. Daher

hat der informelle Wohnungsbau am südlichen und nördlichen Rand der Stadt stark

zugenommen (Wind/Ibrahim 2.2020; vgl. ST 21.6.2020). Aufgrund der Abwertung des

syrischen Pfunds sind die Wohnungspreise im Laufe des Jahres 2020 stark gestiegen (ST

21.6.2020).

 

Das umstrittene Gesetz Nr. 10, das im April 2018 in Kraft trat, sieht vor, dass örtliche

Behörden die Kontrolle über ausgewiesene Gebiete für den Wiederaufbau übernehmen

und auch Enteignungen vornehmen können. Die Eigentümer werden innerhalb einer

einmonatigen Ankündigungsfrist verständigt und haben dann ein Jahr Zeit, ihre

Eigentumsansprüche einzubringen, damit sie Anspruch auf Kompensation (auch

Eigentumsansprüche auf neu errichtete Wohneinheiten auf ihren Grundstücken) erheben

können. Anvisierte Bezirke oder Gebiete waren mehrheitlich in der Hand der Rebellen. De

facto stellt dies auch eine Enteignung jener Flüchtlinge dar, die wegen der Angst vor

politischer Verfolgung oder anderer Gründe, nicht nach Syrien zurückkehren können, um

ihre Ansprüche anzumelden (WKO 10.2019). Informelle Siedler werden verdrängt und

erhalten nur begrenzte Entschädigungen, während die ehemaligen formellen

Grundeigentümer nur begrenzte Möglichkeiten haben, von der Wertsteigerung zu

profitieren (Wind/Ibrahim 2.2020).

 

Besonders gravierende Langzeitfolgen hat der Konflikt unter anderem im Bildungsbereich.

Durch Flucht und Vertreibung ist ein dramatischer Verlust an Lehrkräften entstanden

(SWP 7.4.2020). In Etwa drei Millionen Kinder in Syrien haben keinen Zugang zu

Schulbildung und etwa ein Drittel der Schulgebäude sind nicht in Betrieb (SHRC 1.2021). In

Gebieten, die zuvor unter Kontrolle des sogenannten Islamischen Staates (IS) standen und

von den Syrian Democratic Forces (SDF) wiedererobert wurden, konnten Schulen

wiedereröffnet werden. Viele der Schulen benötigen jedoch noch umfangreiche

Reparaturen und müssen von explosiven Kampfmittelrückständen gesäubert werden

(USDOS 30.3.2021).

Die syrische Regierung bemüht sich den Wiederaufbau voranzutreiben, doch kann dieser

im Hinblick auf die Dimension der Zerstörung im Land im Moment nur als sehr

eingeschränkt und sehr punktuell bezeichnet werden. Die Ankündigung von Projekten

dient demnach eher der internen Propaganda bzw. dem Versuch, vor allem in Gebieten, in

denen die syrische Regierung erst seit Kurzem wieder die Kontrolle erlangt hat, ein

politisches Signal zu senden und die Präsenz des Staates zu bekräftigen (WKO 10.2019).

Erhebliche Teile bestimmter Städte wurden durch den Konflikt teils stark zerstört und sind

auch mittel- bis langfristig nicht bewohnbar, wie z.B. Teile von Homs, Ost-Aleppo, Raqqa,

die Vororte von Damaskus, Deir ez-Zour, Dara‘a und Idlib. Im vom sogenannten IS

befreiten Raqqa ist das Ausmaß der Zerstörung sehr hoch, hinzu kommt die immense

Kontaminierung durch nicht explodierte Munition und IS-Sprengfallen. Am wenigsten vom

Konflikt betroffen sind neben dem Stadtzentrum der Hauptstadt Damaskus die

Hafenstädte Tartous und Lattakia (AA 2.12.2020). Vor allem im westlichen Teil des Landes

ist aufgrund der weiterhin vorhandenen Strukturen und neu angesiedelter

Industriebetriebe eine stärkere wirtschaftliche Entwicklung zu beobachten. Von einer

Normalisierung der Wirtschaft ist man nach wie vor jedoch weit entfernt (WKO 10.2019).

Die Stadt Damaskus erstreckt sich über eine große Fläche und der Beschädigungsgrad

variiert stark. Es gibt Stadtteile, die dem Erdboden gleichgemacht wurden, andere weisen

klare Spuren des Krieges auf und wiederum andere sehen mit Ausnahme der Checkpoints

und der starken Militärpräsenz so aus wie vor dem Krieg (WKO 11.2018).

 

Die lange andauernden kriegerischen Handlungen führten auch zu einer Zerstörung der

landwirtschaftlichen Infrastruktur. Die COVID-19-Krise hat dies noch weiter verschärft. Im

Jahresverlauf 2020 ist die Zahl der Menschen, deren Ernährung nicht gesichert ist,

dramatisch gestiegen. Zu den Gebieten mit der größten Ernährungsunsicherheit gehören

Lattakia, Raqqa und Aleppo (UNFAO 13.8.2020). Anfang 2021 sind 12,4 Mio. Menschen in

Syrien von Ernährungsunsicherheit betroffen (WFP 3.2021). Anfang 2020 waren es noch

7,9 Mio. (UNOCHA 3.2021). Vulnerable Bevölkerungsgruppen, darunter Vertriebene und

Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand, sind einem größeren Risiko der

Ernährungsunsicherheit ausgesetzt. Die Transportkosten sind im Allgemeinen um etwa

30% gestiegen, in abgelegenen Gebieten sogar noch stärker, was die Warenlieferungen an

die Märkte beeinflusst (UNFAO 13.8.2020). Trotz der Brotkrise weigerte sich das Regime

im Jahr 2020 oft, private Bäcker in Gebieten, die zuvor von der Opposition kontrolliert

wurden, zuzulassen (USDOS 30.3.2021).

 

Die Trinkwasser- und Elektrizitätsversorgung ist infolge gezielter Zerstörung vor allem in

umkämpften Gebieten eingeschränkt. 15,5 Millionen Menschen benötigten 2019 dringend

Zugang zu (Trink-)Wasser, Sanitär- und Hygieneeinrichtungen (2018: 12,1 Mio.).

Insbesondere im Süden (Dara‘a, Quneitra) sowie im Norden (Idlib, Aleppo) ist die

Bevölkerung in hohem Maße auf durch Lastwagen im Rahmen der humanitären Hilfe

geliefertes Wasser angewiesen (AA 4.12.2020). Auch im Nordosten Syriens gibt es

zunehmend ernste Bedenken bezüglich der steigenden Wasserknappheit.

Medienberichten zufolge erreicht außerdem die Verschmutzung wichtiger Gewässer ein

kritisches Niveau. In vielen Gebieten ist das verschmutzte Wasser nicht mehr für den

Konsum geeignet (COAR 31.5.2021).

 

Anm.: Zur wachsenden Bedeutung religiöser Stiftungen für die Grundversorgung siehe

Kapitel "Religionsfreiheit".

 

Medizinische Versorgung

Letzte Änderung: 18.02.2021

Die medizinische Infrastruktur Syriens ist in den vergangenen Jahren größtenteils von

Luftangriffen der eigenen Regierung und Russlands zerstört worden (bpb 18.6.2020; vgl.

SWP 7.4.2020).

 

Laut Erhebungen der Weltgesundheitsorganisation sind mit Ende Juni 2020 von 1.790

untersuchten öffentlichen Gesundheitszentren 32% funktionsunfähig, 22% teilweise

funktionsunfähig und 47% voll funktionsfähig (WHO 2020c). In Hinblick auf die

Krankenhäuser waren von 113 untersuchten mit Ende Juni 2020 24% funktionsunfähig,

26% teilweise funktionsunfähig und 50% voll funktionsfähig (WHO 2020d).

Notfalltransporte sind durch einen Mangel an Krankenwagen stark beeinträchtigt, circa

40% der Ambulanzfahrzeuge sind beschädigt oder zerstört. Laut WHO können komplexere

Operationen und spezialisierte Behandlungen chronischer Krankheiten derzeit

ausschließlich in Damaskus oder den Küstenorten Tartous und Lattakia durchgeführt

werden. In den Städten Dara‘a und Idlib ist jeweils nur ein Krankenhaus funktionsfähig. In

Raqqa kann derzeit lediglich ein von Ärzte ohne Grenzen betriebenes Feldkrankenhaus

außerhalb der Stadt genutzt werden. Die medizinische Versorgung in von der Opposition

gehaltenen Gebieten wird weitestgehend von NGOs geleistet. Humanitäre Maßnahmen

der internationalen Gemeinschaft zur Sicherstellung einer Basisgesundheitsversorgung der

Menschen, die in nicht vom syrischen Regime kontrollierten Gebieten leben, werden von

diesem gezielt behindert bzw. verhindert (AA 4.12.2020). Neun von zehn Patienten in

Damaskus kommen aus anderen Provinzen, um Gesundheitsversorgung zu erhalten.

Aufgrund des hohen Bedarfs ist das Gesundheitswesen überlastet. Zum Beispiel müssen

sich Verwandte an der Pflege von Kindern in der Notfallversorgung beteiligen, da das

medizinische Personal nicht über ausreichende Ressourcen verfügt und die Krankenhäuser

überbelegt sind. Eine Mitarbeiterin einer internationalen Organisation in Damaskus

berichtete, dass in der Kinder-Notbetreuung fünf Kinder in einem Bett liegen (IO C

2.4.2019). Ansteckende Krankheiten wie Polio treten wieder auf (AA 4.12.2020).

Gezielte Angriffe des syrischen Regimes gegen zivile Gesundheitseinrichtungen dauern

weiterhin an (AA 4.12.2020). Das syrische Regime und seine Verbündeten zielten im

Verlauf des Konfliktes klar und bewusst auf den medizinischen Sektor und die

Notfallrettung ab und zogen es sogar vor, diese anstelle von Hauptquartieren bewaffneter

Gruppierungen, einschließlich der als terroristisch eingestuften, ins Visier zu nehmen.

Solche Angriffe stellen eine der wichtigsten militärischen Strategien des syrischen Regimes

und seiner Anhänger dar (SHRC 1.2020; vgl. AI 11.5.2020, NYT 3.6.2019, BS 29.4.2020). Im

Jahr 2020 wurde von der Menschenrechtsorganisation Syrian Human Rights Committee

verglichen mit früheren Jahren ein merkbarer Rückgang der Angriffe auf den

medizinischen Sektor und die Notfallrettung dokumentiert (SHRC 1.2021).

Die folgende Grafik der WHO mit Stand Ende Juni 2020 zeigt die Verteilung und den

Funktionalitätsstatus öffentlicher Gesundheitszentren:

 

RückkehrLetzte Änderung: 30.06.2021

Im Juli 2020 zählte die syrische Bevölkerung geschätzte 19,4 Millionen Menschen (CIA

12.8.2020).

Im Jahr 2020 registrierte UNOCHA in Syrien rund 1,8 Millionen Binnenvertriebene. Ca.

450.000 Binnenvertriebene kehrten in diesem Jahr dagegen zurück (UNOCHA 8.2.2021).

Mit Ende September 2020 waren 5.565.954 Personen in den Nachbarländern Syriens und

in Nordafrika als syrische Flüchtlinge registriert. 2019 sind laut UNHCR insgesamt etwa

95.000 Flüchtlinge nach Syrien zurückgekehrt (UNHCR 23.9.2020), im Jahr 2020 waren es

38.200 (UNOCHA 3.2021). Weder IDPs noch Flüchtlinge sind notwendigerweise in ihre

Heimatgebiete zurückgekehrt (UNHCR 18.3.2019).

 

Wenn eine Person in ihre Heimat zurückkehren möchte, können viele unterschiedliche

Faktoren die Rückkehrmöglichkeiten beeinflussen. Ethno-religiöse, wirtschaftliche und

politische Aspekte spielen ebenso eine Rolle, wie Fragen des Wiederaufbaus und die

Haltung der Regierung gegenüber Gemeinden, die der Opposition zugeneigt sind (FIS

14.12.2018). Die Sicherheit von Rückkehrern wird nicht in erster Linie durch die Region

bestimmt, in welche die Rückkehr erfolgt, sondern entscheidend ist vielmehr, wie

Rückkehrer von den im jeweiligen Gebiet präsenten Akteuren wahrgenommen werden

(AA 4.12.2020).

 

Eine Studie der Weltbank ergab, dass die Sicherheitslage in Syrien ein wesentlicher

Bestimmungsfaktor bei Rückkehrentscheidungen ist. Flüchtlinge kehren mit geringerer

Wahrscheinlichkeit in Distrikte zurück, in welchen es zu intensiven Kämpfen kam. Auch die

geringe Versorgung mit Bildung, Gesundheit und grundlegenden Dienstleistungen in

Syrien hält Personen von einer Rückkehr ab. Die Bedingungen im Gastland haben

komplexe Auswirkungen auf Rückkehrentscheidungen, wobei eine geringere

Lebensqualität im Gastland die Rückkehrwahrscheinlichkeit nicht immer erhöht (WB

2020). Als wichtiger Grund für eine Rückkehr wurde auch der Wunsch nach

Familienzusammenführung genannt (UNHCR 7.2018). Neben der allgemein volatilen

Sicherheitslage bleibt mangelnde persönliche Sicherheit verbunden mit der Angst vor

staatlicher Repression weiterhin das wichtigste Hindernis für eine Rückkehr (AA 19.5.2020;

vgl. SACD 21.7.2020, ICG 13.2.2020). Rückkehrüberlegungen von syrischen Männern

werden auch von ihrem Wehrdienststatus beeinflusst (DIS/DRC 2.2019).

 

Über die Zustände, in welche die Flüchtlinge zurückkehren und die Mechanismen des

Rückkehrprozesses ist wenig bekannt. Da Präsident Assad die Kontrolle über große

Gebiete wiedererlangt, sind immer weniger Informationen verfügbar (EIP 6.2019). UNHCR

erhielt vom Regime auch im Jahr 2020 nur stark eingeschränkten Zugang in Syrien und

konnte daher weder ein umfassendes Monitoring zur Lage von zurückgekehrten

Binnenvertriebenen und Flüchtlingen sicherstellen noch einen Schutz ihrer Rechte

gewährleisten. Dennoch bemüht sich UNHCR, Beispiele von Rechtsbrüchen zu sammeln,

nachzuverfolgen und gegenüber dem Regime zu kommunizieren. Mittlerweile wurde ein

Mechanismus zur Meldung solcher Fälle durch UNHCR beim Regime eingerichtet (AA

4.12.2020). Die Behandlung von Einreisenden ist stark vom Einzelfall abhängig und über

den genauen Wissensstand der syrischen Behörden über einzelne Rückkehrer gibt es keine

gesicherten Kenntnisse (ÖB 29.9.2020).

 

Bereits im Jahr 2017 haben die libanesischen Behörden trotz des Konfliktes und

begründeter Furcht vor Verfolgung vermehrt die Rückkehr syrischer Flüchtlinge gefordert.

Eine kleine Anzahl von Flüchtlingen ist im Rahmen lokaler Abkommen nach Syrien

zurückgekehrt. Diese Rückkehrbewegungen werden nicht von UNHCR überwacht. Einige

Flüchtlinge kehren aufgrund der harschen Politik der Regierung ihnen gegenüber und sich

verschlechternden Bedingungen im Libanon nach Syrien zurück, und nicht weil sie der

Meinung sind, dass Syrien sicher sei. Gemeinden im Libanon haben Tausende von

Flüchtlingen in Massenausweisungen/Massenvertreibungen ohne Rechtsgrundlage oder

ordnungsgemäßes Verfahren vertrieben. Zehntausende sind weiterhin der Gefahr einer

Vertreibung ausgesetzt (HRW 17.1.2019).

 

Obwohl die wirtschaftliche Lage vieler syrischer Flüchtlinge in Jordanien schwierig ist (TN

1.10.2019; SD 6.5.2020), sind aufgrund der Sicherheitslage und wirtschaftlichen Situation

in Syrien bislang nur eine geringe Zahl Syrer wieder nach Syrien zurückgekehrt (SD

6.5.2020).

 

Die Türkei beherbergt etwa 3,65 Millionen syrische Flüchtlinge (DGMM 3.2.2021). Im Juli

2019 änderte sich die Einstellung der türkischen Regierung ihnen gegenüber. Nach

maßgeblichen Verlusten bei lokalen Wahlen und mit dem Wunsch die Kontrolle der

Regierung über die Situation zu demonstrieren, begannen türkische Sicherheitskräfte

syrische Flüchtlinge zusammenzutreiben und sie in die türkischen Provinzen, in denen sie

registriert waren, zurückzuschicken, bzw. einige von ihnen abzuschieben und andere zu

ermutigen, in die von der Türkei kontrollierten Gebiete in Nordsyrien, einschließlich der

Konfliktzone Idlib, zu ziehen (SWP 5.2.2020). Laut NGO-Berichten haben die türkischen

Behörden Flüchtlinge immer wieder festgenommen und sie gezwungen, "freiwillige"

Rückkehrdokumente zu unterzeichnen, manchmal durch Schläge und Drohungen (SJAC

8.10.2020).

 

Es liegen widersprüchliche Informationen vor, ob Personen, die nach Syrien zurückkehren

möchten, eine Sicherheitsüberprüfung durchlaufen müssen, oder nicht. Laut deutschem

Auswärtigen Amt müssen syrische Flüchtlinge, unabhängig von politischer Ausrichtung,

vor ihrer Rückkehr weiterhin eine Überprüfung durch die syrischen Sicherheitsdienste

durchlaufen (AA 19.5.2020). Auch laut International Crisis Group (ICG) stellt unabhängig

davon, welchen administrativen Weg ein rückkehrwilliger Flüchtling wählt, die

Sicherheitsfreigabe durch den zentralen Geheimdienstapparat in Damaskus (oder die

Verweigerung einer solchen) das endgültige Urteil dar, ob es einem Flüchtling möglich ist

sicher nach Hause zurückzukehren (ICG 13.2.2020). Im Gegensatz dazu berichtet der

Danish Immigration Service (DIS) auf Basis von Interviews, dass Syrer, die außerhalb

Syriens wohnen und nicht von der syrischen Regierung gesucht werden, keine

Sicherheitsfreigabe benötigen, um nach Syrien zurückzukehren. Weiters berichtete Syria

Direct gegenüber DIS, dass lediglich Syrer im Libanon, die über "organisierte

Gruppenrückkehr" nach Syrien zurückkehren möchten, eine Sicherheitsfreigabe benötigen

(DIS 12.2020).

 

Ein Punkt, der nach wie vor schwer zu ermitteln ist, ist der Anteil der Antragsteller, denen

die Rückkehr nicht genehmigt wurde (ICG 13.2.2020). Er wird von den verschiedenen

Quellen mit 5% (SD 16.1.2019), 10% (Reuters 25.9.2018), bis hin zu 30% (ABC 6.10.2018)

angegeben. In manchen Fällen wird auch Binnenvertriebenen die Rückkehr in ihre

Heimatgebiete nicht erlaubt (USDOS 30.3.2021).

 

Gründe für eine Ablehnung können (wahrgenommene) politische Aktivitäten gegen die

Regierung bzw. Verbindungen zur Opposition oder die Nicht-Erfüllung der Wehrpflicht

sein (Reuters 25.9.2018; vgl. ABC 6.10.2018, SD 16.1.2019). Einige Beobachter und

humanitäre Helfer behaupten, dass die Bewilligungsrate für Antragsteller aus Gebieten,

die als regimefeindliche Hochburgen identifiziert wurden, nahezu Null ist (ICG 13.2.2020).

Kriterien und Anforderungen, um ein positives Ergebnis zu erhalten, sind nicht bekannt

(AA 19.5.2020). Es gibt Berichte, denen zufolge Rückkehrer trotz positiver

Sicherheitsüberprüfung Opfer willkürlicher Verhaftung, Folter oder Verschwindenlassens

geworden und vereinzelt in Haft ums Leben gekommen sein sollen (AA 19.5.2020; vgl.

EASO 6.2021).

 

Personen, die von der syrischen Regierung gesucht werden, und darum die Genehmigung

zur Rückkehr nicht erhalten, sind aufgefordert ihren "Status zu klären", bevor sie

zurückkehren können (Reuters 25.9.2018; vgl. SD 16.1.2019). Einem syrischen General

zufolge müssen Personen, die aus dem Ausland zurückkehren möchten, in der

entsprechenden syrischen Auslandsvertretung "Versöhnung" beantragen und unter

anderem angeben, wie und warum sie das Land verlassen haben und Angaben über

Tätigkeiten in der Zeit des Auslandsaufenthaltes etc. machen. Diese Informationen

werden an das syrische Außenministerium weitergeleitet, wo eine Sicherheitsüberprüfung

durchgeführt wird. Syrer, die über die Landgrenzen einreisen, müssen dem General

zufolge dort ein "Versöhnungsformular" ausfüllen (DIS 6.2019). Um im Falle der Rückkehr

einer Verhaftung zu entgehen, versuchen Syrer, Informationen über ihre Sicherheitsakte

zu erhalten und diese, wenn möglich, zu bereinigen. Persönliche Kontakte und

Bestechungsgelder sind die gängigsten Mittel und Wege zu diesem Zweck (ICG 13.2.2020;

vgl. EASO 6.2021), doch aufgrund ihrer Informalität und der Undurchsichtigkeit des

syrischen Sicherheitssektors sind solche Informationen und Sicherheitsfreigaben nicht

immer zuverlässig, und nicht jeder kann sie erhalten (ICG 13.2.2020). Zwei Quellen

berichten EASO gegenüber, dass wenn ein Rückkehrer über informelle Netzwerke bzw.

Beziehungen (arab. wasta) herausfindet, dass er von den syrischen Behörden nicht

gesucht wird, es dennoch keine Garantie gibt, dass er oder sie im Zuge der Rückkehr nicht

verhaftet wird (EASO 6.2021).

 

Zwar schützt der Genehmigungsprozess potenzielle Rückkehrer nicht vor Misshandlung

durch die Milizen oder zukünftiger Verfolgung, trägt jedoch dazu bei, die Unsicherheit zu

verringern, mit der sie konfrontiert sind, und nimmt ihnen damit ein Element der

Abschreckung (ICG 13.2.2020).

 

Der Sicherheitssektor kontrolliert den Rückkehrprozess in Syrien. Die Sicherheitsdienste

institutionalisieren ein System der Selbstbeschuldigung und Informationsweitergabe über

Dritte, um große Datenbanken mit Informationen über reale und wahrgenommene

Bedrohungen aus der syrischen Bevölkerung aufzubauen. Um intern oder aus dem

Ausland zurückzukehren, müssen Geflüchtete umfangreiche Formulare ausfüllen (EIP

6.2019).

 

Gesetz Nr. 18 von 2014 sieht eine Strafverfolgung für illegale Ausreise in der Form von

Bußgeldern oder Haftstrafen vor. Entsprechend einem Rundschreiben wurde die

Bestrafung für illegale Ausreise jedoch aufgehoben und Grenzbeamte sind angehalten,

Personen, die illegal ausgereist sind, "bei der Einreise gut zu behandeln" (DIS 6.2019).

Syrer benötigen in unterschiedlichen Lebensbereichen eine Sicherheitsfreigabe von den

Behörden, so z.B. auch für die Eröffnung eines Geschäftes, eine Eheschließung und

Organisation einer Hochzeitsfeier, um den Wohnsitz zu wechseln, für

Wiederaufbautätigkeiten oder auch, um eine Immobilie zu kaufen (FIS 14.12.2018; vgl. EIP

6.2019). Die Sicherheitsfreigabe kann auch Informationen enthalten, z.B. wo eine Person

seit dem Verlassen des konkreten Gebietes aufhältig war. Der Genehmigungsprozess

könnte sich einfacher gestalten für eine Person, die in Damaskus aufhältig war,

wohingegen der Aufenthalt einer Person in Orten wie Deir ez-Zour zusätzliche

Überprüfungen nach sich ziehen kann. Eine Person wird für die Sicherheitserklärung nach

Familienmitgliedern, die von der Regierung gesucht werden, befragt, wobei nicht nur

Mitglieder der Kern- sondern auch der Großfamilie eine Rolle spielen (FIS 14.12.2018).

Erschwerend kommt hinzu, dass eine Sicherheitsfreigabe, die von einer regierungsnahen

Stelle innerhalb Syriens erteilt wurde, in Gebieten, die von anderen regierungsnahen

Stellen kontrolliert werden, als ungültig angesehen werden kann. Dies ist auf die

Fragmentierung des Sicherheitsapparats der Regierung zurückzuführen, die die Mobilität

auf Gebiete beschränkt, die von bestimmten regierungsnahen Sicherheitsbehörden

kontrolliert werden (EASO 6.2021).

 

Für Personen aus bestimmten Gebieten Syriens erlaubt die Regierung die

Wohnsitzänderung aktuell nicht. Wenn es darum geht, wer in seinen Heimatort

zurückkehren kann, können einem Experten zufolge ethnisch-konfessionelle aber auch

praktische Motive eine Rolle spielen (FIS 14.12.2018). Ehemalige Bewohner von Homs

müssen auch Jahre nach der Wiedereroberung durch die Regierung noch immer eine

Sicherheitsüberprüfung bestehen, um in ihre Wohngebiete zurückkehren und ihre Häuser

wieder aufbauen zu können (TE 28.6.2018; vgl. CMEC 15.5.2020). Syrer, die nach Syrien

zurückkehren, können sich nicht an jedem Ort, der unter Regierungskontrolle steht,

niederlassen. Die Begründung eines Wohnsitzes ist nur mit Bewilligung der Behörden

möglich (ÖB 21.8.2019). Das syrische Innenministerium kündigte Anfang 2019 an, keine

Sicherheitserklärung mehr als Voraussetzung für die Registrierung eines Mietvertrages bei

Gemeinden zu verlangen (SLJ 29.1.2019; vgl. ÖB 10.5.2019), sondern Mietverträge werden

dort registriert und die Daten an die Sicherheitsbehörden weitergeleitet (ÖB 10.5.2019),

sodass die Sicherheitsbehörden nur im Nachhinein Einspruch erheben können. Abgesehen

von Damaskus wurde dies bisher nicht umgesetzt (ÖB 21.8.2019). Außerhalb von

Damaskus muss die Genehmigung nach wie vor eingeholt werden. Auch hinsichtlich

Damaskus wurde berichtet, dass Syrer aus anderen Gebieten nicht erlaubt wurde, sich in

Damaskus niederzulassen. Die Niederlassung ist dementsprechend – für alle Gebiete unter

Regierungskontrolle – von einer Zustimmung der Sicherheitsbehörden abhängig (ÖB

29.9.2020).

 

Laut einem Syrien-Experten dient eine Sicherheitsfreigabe, die einem Rückkehrer von

einer syrischen Botschaft oder einem Konsulat erteilt wird, nur dem Zweck, dem Inhaber

die Einreise nach Syrien zu ermöglichen. Sie garantiert einem Rückkehrer nicht, dass er

seinen Herkunftsort innerhalb der von der Regierung gehaltenen Gebiete physisch

erreichen kann. Die Rückkehr an den Herkunftsort innerhalb der Gebiete unter

Regierungskontrolle erfordert einen anderen Weg, der von lokalen Machthabern, wie z. B.

kommunalen Behörden oder lokalen pro-regime Milizen, gesteuert wird. Die Verfahren,

um eine Erlaubnis zur Einreise in den Herkunftsort zu erhalten, variieren von Ort zu Ort

und von Akteur zu Akteur. Da sich die lokale Machtdynamik im Laufe der Zeit verschiebt,

sind auch die unterschiedlichen Verfahren einem Wandel unterworfen (EASO 6.2021).

Einige zuvor von der Opposition besetzte Gebiete sind für Personen, die in ihre

ursprüngliche Heimat zurückkehren möchten, praktisch abgeriegelt. In anderen versucht

das Regime, die Rückkehr der ursprünglichen Bevölkerung einzuschränken, um ein

(Wieder-)Entstehen des sozialen Umfelds, das den Aufstand verursachte, zu verhindern.

Einige Gebiete, die nominell vom Regime kontrolliert werden, wie Dara'a, die Stadt Deir

ez-Zour und Teile von Aleppo und Homs, sind für Rückkehrer unwirtlich, nämlich aufgrund

der schweren Zerstörungen, der Herrschaft übergriffiger regimefreundlicher Milizen und

der die Sicherheitslage betreffenden Aspekte, wie Angriffe durch den sogenannten

Islamischen Staat (IS), oder infolge einer Kombination aus allen drei Aspekten (ICG

13.2.2020).

 

Eine Reihe von Vierteln in Damaskus bleibt teilweise oder vollständig geschlossen, selbst

für Zivilisten, welche die Wohnviertel nur kurz aufsuchen wollen, um nach ihren

ehemaligen Häusern zu sehen (SD 19.11.2018). Beispielsweise durften Bewohnerinnen

und Bewohner des palästinensischen Camps Yarmouk in Damaskus auch zwei Jahre,

nachdem das Regime die Kontrolle wiedererlangt hat, weitgehend noch nicht

zurückkehren (EB 8.7.2020), bzw. erhielten nach Angaben von Aktivisten bislang nur

wenige Familien mit Verbindungen zu regierungsfreundlichen Milizen und ältere

Bewohner die Erlaubnis, zurückzukehren (MEI 6.5.2020).

 

Sowohl Menschenrechtsorganisationen als auch die Vereinten Nationen prangern

umstrittene Wohn- und Eigentumsgesetze des Regimes an, die, wie beispielsweise das

Dekret Nr. 42/2018 oder das Gesetz Nr. 10, zur Enteignung von Binnenvertriebenen und

Flüchtlingen führen können. Der Wiederaufbau schreitet nur langsam voran. Insbesondere

große Teile der syrischen Städte sind im Konfliktverlauf zerstört worden. Auch mittel- bis

langfristig werden sie nicht bewohnbar sein. Berichten von

Menschenrechtsorganisationen zufolge reißt das Regime beschädigte Häuser und

Wohnungen in ehemaligen Oppositionsgebieten ab (AA 19.5.2020; BS 29.4.2020).

Es ist wichtig, dass Rückkehrer in ihren Herkunftsort zurückkehren, weil sie dann auf ein

soziales Netzwerk und/oder ihren Stamm zurückgreifen können. Jenen, die aus dem

Ausland in ein Gebiet ziehen, aus dem sie nicht stammen, fehlt ein solches Sicherheitsnetz

(MOFANL 7.2019).

 

Es ist schwierig, Informationen über die Lage von Rückkehrern in Syrien zu erhalten.

Regierungsfreundliche Medien berichten über die Freude der Rückkehrer (TN 10.12.2018),

oppositionelle Medien berichten über Inhaftierungen und willkürliche Tötungen von

Rückkehrern (TN 10.12.2018; vgl. TWP 2.6.2019, FP 6.2.2019). Zudem wollen viele

Flüchtlinge aus Angst vor Repressionen der Regierung nicht mehr mit Journalisten (TN

10.12.2018) oder sogar mit Verwandten sprechen, nachdem sie nach Syrien zurückgekehrt

sind (SD 16.1.2019; vgl. TN 10.12.2018). Zur Situation von rückkehrenden Flüchtlingen aus

Europa gibt es, wohl auch aufgrund deren geringen Zahl, keine Angaben (ÖB 29.9.2020).

Die syrische Regierung führt Listen mit Namen von Personen, die als in irgendeiner Form

regierungsfeindlich angesehen werden. Die Aufnahme in diese Listen kann aus sehr

unterschiedlichen Gründen erfolgen und sogar vollkommen willkürlich sein. Zum Beispiel

kann die Behandlung einer Person an einer Kontrollstelle, wie einem Checkpoint, von

unterschiedlichen Faktoren abhängen, darunter die Willkür des Personals am

Kontrollpunkt oder praktische Probleme, wie die Namensgleichheit mit einer von der

Regierung gesuchten Person. Personen, die als regierungsfeindlich angesehen werden,

können unterschiedliche Konsequenzen von Regierungsseite zu gewärtigen haben, wie

Festnahme und im Zuge dessen auch Folter. Zu als oppositionell oder regierungsfeindlich

angesehenen Personen gehören einigen Quellen zufolge unter anderem medizinisches

Personal, insbesondere wenn die Person in einem von der Regierung belagerten

oppositionellen Gebiet gearbeitet hat, Aktivisten und Journalisten, die sich mit ihrer Arbeit

gegen die Regierung engagieren und diese offen kritisieren, oder Informationen oder

Fotos von Geschehnissen in Syrien, wie Angriffe der Regierung, verbreitet haben sowie

allgemein Personen, die offene Kritik an der Regierung üben. Einer Quelle zufolge kann es

sein, dass die Regierung eine Person, deren Vergehen als nicht so schwerwiegend gesehen

wird, nicht sofort, sondern erst nach einer gewissen Zeit festnimmt (FIS 14.12.2018). Jeder

Geheimdienst führt eigene Fahndungslisten und es findet keine Abstimmung und

Zentralisierung statt. Daher kann es trotz positiver Sicherheitsüberprüfung eines Dienstes

jederzeit zur Verhaftung durch einen anderen kommen (AA 4.12.2020).

 

Ein weiterer Faktor, der die Behandlung an einem Checkpoint beeinflussen kann, ist das

Herkunftsgebiet oder der Wohnort einer Person. In einem Ort, der von der Opposition

kontrolliert wird oder wurde, zu wohnen oder von dort zu stammen kann den Verdacht

des Kontrollpersonals wecken (FIS 14.12.2018).

 

Laut ICG ist nicht immer klar, wen die syrische Regierung als Gegner ansieht, bzw. kann

sich dies im Laufe der Zeit auch ändern. Demnach gibt es keine Gewissheit darüber, wer

vor einer Verhaftung sicher ist. Viele Flüchtlinge, mit denen ICG Gespräche führte,

berichteten, dass der Verzicht auf regimefeindliche Aktivitäten keine sichere Rückkehr

garantiert (ICG 13.2.2020).

 

Es wurde regelmäßig von Verhaftungen von und Anklagen gegen Rückkehrer gemäß der

Anti-Terror-Gesetzgebung berichtet, wenn diesen Regimegegnerschaft unterstellt wird.

Diese Berichte erscheinen laut deutschem Auswärtigem Amt glaubwürdig, konnten im

Einzelfall aber nicht verifiziert werden (AA 13.11.2018).

 

Es muss davon ausgegangen werden, dass syrische Sicherheitsdienste in der Lage sind,

exil-politische Tätigkeiten auszuspähen und darüber zu berichten (ÖB 29.9.2020; vgl. TWP

2.6.2019, EASO 6.2021). Es gab Berichte, dass syrische Sicherheitsdienste mit Drohungen

gegenüber noch in Syrien lebenden Familienmitgliedern Druck auf in z.B. Deutschland

lebende Verwandte ausübten (AA 13.11.2018). Die syrische Regierung hat Interesse an

politischen Aktivitäten von Syrern im Ausland. Eine Gefährdung eines Rückkehrers im Falle

von exil-politischer Aktivität hängt jedoch von den Aktivitäten selbst, dem Profil der

Person und von zahlreichen anderen Faktoren, wie dem familiären Hintergrund und den

Ressourcen ab, die der Regierung zur Verfügung stehen (STDOK 8.2017). Einem Syrien-

Experten des European Institute of Peace zufolge werden Syrer in der Diaspora auf zwei

Arten überwacht: informell und formell. Die informelle Art der Überwachung beinhaltet,

dass Einzelpersonen andere an die syrischen Behörden melden. Diese Informanten sind

nicht offiziell bei den Sicherheitsbehörden angestellt, melden aber andere, um

regierungstreu zu erscheinen. Damit versuchen sie, mögliche negative Aufmerksamkeit

von sich abzuwenden. Die formelle Art der Überwachung besteht darin, dass staatliche

Institutionen wie Botschaften und Sicherheitsbehörden Informationen über dissidente

Syrer sammeln, die sich im Ausland aufhalten (EASO 6.2021).

 

Der Sicherheitssektor nützt den Rückkehr- und Versöhnungsprozess, um, wie in der

Vergangenheit, lokale Informanten zur Informationsgewinnung und Kontrolle der

Bevölkerung zu institutionalisieren. Die Regierung weitet ihre Informationssammlung über

alle Personen, die nach Syrien zurückkehren oder die dort verblieben sind, aus. Historisch

wurden Informationen dieser Art benutzt, um Personen, die aus jedwedem Grund als

Bedrohung für die Regierung gesehen werden, zu erpressen oder zu verhaften (EIP

6.2019). Das Schreiben eines „taqrir“ (Bericht), d.h. die Meldung von Personen an die

Sicherheitsbehörden, ist seit Jahrzehnten Teil des Lebens im ba'athistischen Syrien, der

laut ICG auch unter den Flüchtlingen im Libanon fortbesteht. Motive sind dabei

persönliche Bereicherung, Begleichen von Rechnungen oder Vermeidung selbst zur

Zielscheibe zu werden. Sogar Regimebeamte geben zu, dass Verhaftungen aufgrund

unbegründeter Denunziationen erfolgen (ICG 13.2.2020).

 

Es gibt Berichte über Menschenrechtsverletzungen gegenüber Personen, die nach Syrien

zurückgekehrt waren (IT 17.3.2018). Hunderte syrische Flüchtlinge wurden nach ihrer

Rückkehr verhaftet und verhört – inklusive Geflüchteten, die aus dem Ausland nach Syrien

zurückkehrten, IDPs aus von der Opposition kontrollierten Gebieten, und Personen, die in

durch die Regierung wiedereroberten Gebieten ein Versöhnungsabkommen mit der

Regierung unterschrieben haben. Sie wurden gezwungen, Aussagen über

Familienmitglieder zu machen und in manchen Fällen wurden sie gefoltert (TWP 2.6.2019;

vgl. EIP 6.2019).

 

Daten der Vereinten Nationen weisen darauf hin, dass 14% von mehr als 17.000 befragten

IDP- und Flüchtlingshaushalten, die im Jahr 2018 zurückgekehrt sind, während ihrer

Rückkehr angehalten oder verhaftet wurden, 4% davon für über 24 Stunden. In der

Gruppe der (ins Ausland) Geflüchteten wurden 19% verhaftet. Diese Zahlen beziehen sich

spezifisch auf den Heimweg und nicht auf die Zeit nach der Rückkehr (EIP 6.2019).

Syrische Flüchtlinge benötigen für die Heimreise üblicherweise die Zustimmung der

Regierung und die Bereitschaft, vollständige Angaben über ihr Verhältnis zur Opposition

zu machen. In vielen Fällen hält die Regierung die im Rahmen der

„Versöhnungsabkommen“ vereinbarten Garantien nicht ein, und Rückkehrer sind

Schikanen oder Erpressungen durch die Sicherheitsbehörden oder auch Inhaftierung und

Folter ausgesetzt, mit dem Ziel Informationen über die Aktivitäten der Flüchtlinge im

Ausland zu erhalten (TWP 2.6.2019).

 

Nach Einschätzung des Hochkommissariats für Flüchtlinge der Vereinten Nationen

(UNHCR), der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und des Internationalen

Komitees vom roten Kreuz (IKRK) sind die Bedingungen für eine umfassende Rückkehr von

Flüchtlingen nach Syrien in Sicherheit und Würde aufgrund weiter bestehender

signifikanter Sicherheitsrisiken für die Zivilbevölkerung in ganz Syrien weiterhin nicht

gegeben (AA 4.12.2020).

 

2. Beweiswürdigung:

 

Zur Person der beschwerdeführenden Partei:

 

Die Feststellungen zur Herkunftsprovinz, zur Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, zur Muttersprache sowie zum Familienstand und zu den Kindern der beschwerdeführenden Partei basieren auf den in diesem Zusammenhang im bisherigen Verfahren konsistenten und kohärenten Angaben der beschwerdeführenden Partei, die auch die belangte Behörde dem angefochtenen Bescheid zugrunde legte. Die Identität der beschwerdeführenden Partei geht aus einem in Vorlage gebrachten syrischen Personalausweis hervor, der auch von der belangten Behörde nicht in Abrede gestellt wurde.

 

Dass die Herkunftsregion der beschwerdeführenden Partei aktuell unter kurdischer Kontrolle steht und die syrische Regierung in der unter kurdischer Selbstverwaltung stehenden Region die Kontrolle über zwei kleine Gebiete, sogenannte „Sicherheitsviertel“, ausübt, ergibt sich aus einer Nachschau unter https://syria.liveuamap.com/ .

 

Die Feststellungen zur Ausreise der beschwerdeführenden Partei aus Syrien und der Asylantragstellung in Österreich basieren auf seinen glaubhaften Angaben im Verfahren und dem Akteninhalt.

 

Zum Fluchtgrund:

 

Zum Fluchtgrund gab die beschwerdeführende Partei im Zuge der Erstbefragung an, dass er Angst vor einer erneuten Rekrutierung zum Militärdienst habe. Bei der niederschriftlichen Einvernahme gab die beschwerdeführende Partei ebenfalls an, dass er in Syrien als Reservist gesucht werde, vermochte dieses Vorbringen jedoch nicht durch weitere Ausführungen zu präzisieren und konnte auch keine diesbezüglichen Beweismittel vorlegen.

 

Wenn die beschwerdeführende Partei auf Aufforderung, die konkrete Einberufung als Reservist zu schildern, vorbringt, dass er am 15.01.2019 vom Direktor erfahren habe, als Reservist einberufen zu werden, und dass er sich bei der Rekrutierungsabteilung melden müsse, so stehen diesen Ausführungen im diametralen Widerspruch zu den Erläuterungen hinsichtlich der Umsetzung der Rekrutierung durch die syrische Armee in den Länderfeststellungen, aus denen explizit hervorgeht, dass die Regierung bei der Einberufung neuer Rekruten Wehrdienstbescheide an Männer, die das wehrfähige Alter erreicht haben, mit der Aufforderung übermittelt, sich zum Militärdienst anzumelden. Weiters ist aus dem Länderinformationsblatt abzuleiten, dass die Namen der einberufenen Männer in einer zentralen Datenbank erfasst werden. In Bezug auf die Rekrutierungspraxis seitens kurdischer Streitkräfte wurde im Länderinformationsblatt angemerkt, dass es zu Überprüfungen von möglichen Wehrpflichtigen an Kontrollposten und auch zu Ausforschungen kommt und dass die Autonomiebehörden laut der Österreichischen Botschaft Damaskus eine Verweigerung aber nicht als Ausdruck einer bestimmten politischen Gesinnung sehen dürften (ÖB 29.9.2020).

 

Für die von der beschwerdeführenden Partei geschilderte Praxis der Rekrutierung, über einen mündlichen Hinweis nur indirekt über eine Rekrutierungsabteilung einberufen zu werden, gibt es hingegen keine Anhaltspunkte. Der Rechtfertigungsversuch der beschwerdeführenden Partei, wonach solche Reservisten immer dem Direktor geschickt werden würden, stimmt nicht mit den dem Gericht aufliegenden Länderinformationen überein und geht daher ins Leere. Überdies wurde vom BFA im angefochtenen Bescheid richtigerweise festgehalten, dass die beschwerdeführende Partei im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahme ausdrücklich bestätigte, vom 15.01.2019 bis zu seiner Ausreise im Jahr 2020 keinerlei Probleme mit der Militärbehörde gehabt zu haben, und dass er die Frage, ob ihm eine schriftliche Einberufung übermittelt worden sei, verneinte (AS 193). Es ist unabhängig davon bereits nicht anzunehmen, dass sich die beschwerdeführende Partei bei Wahrheitsunterstellung des Vorbringens noch über ein Jahr unbehelligt in Syrien aufhalten und gänzlich unerkannt ein Restaurant betreiben hätte können, falls er tatsächlich für syrische Streitkräfte oder kurdische Milizen von besonderem Interesse gewesen wäre.

 

Wenngleich die beschwerdeführende Partei auf die Frage, ob er seitens des Schuldirektors oder der zuständigen Behörde zwischen 15./16.01.2019 und seiner Ausreise im Jahr 2020 kontaktiert oder aufgesucht worden sei, den Anschein erweckte, nunmehr zu wissen, dass er gesucht werde, ist dieser lapidaren Behauptung entgegenzuhalten, dass er auf Nachfrage selbst einräumte, von niemandem und vor allem von keiner Behörde kontaktiert oder aufgesucht worden zu sein (AS 193). Er konnte jedenfalls auch keine nachvollziehbare Erklärung angeben, wieso es seinen drei Brüdern im Gegensatz zu ihm nach wie vor möglich ist, sich weiterhin in Syrien aufzuhalten, ohne von einer unmittelbar bevorstehenden Rekrutierung betroffen zu sein. Der bloße Verweis der beschwerdeführenden Partei, wonach in Syrien theoretisch jeder eine Einberufung bekommen könne, ist mangels konkreter Anhaltspunkte jedenfalls nicht geeignet, eine unmittelbar bevorstehende Gefährdung seiner Person anzunehmen. Es ist zwar nicht zu verkennen, dass syrische Behörden oftmals eine willkürliche Rekrutierungspraxis betreiben, eine gänzlich pauschale Gefährdungslage ist jedoch nicht anzunehmen. Selbst im Hinblick auf etwaige Rückkehrbefürchtungen gestand die beschwerdeführende Partei ein, dass es sich bei seiner Annahme, mit der syrischen Polizei Probleme zu bekommen, um eine bloße Spekulation handle, die jedoch auf keiner hinreichend substanziierten Grundlage basiert (AS 194).

 

Gemäß Artikel 15 des Gesetzesdekrets Nr. 30 von 2007 bleibt ein syrischer Mann nach Beendigung des Pflichtwehrdienstes Reservist und kann bis zum Alter von 42 Jahren in den aktiven Dienst einberufen werden (TIMEP 22.8.2019; vgl. STDOK 8.2017). Es liegen einzelne Berichte vor, denen zufolge die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht wird, wenn die betreffende Person besondere Qualifikationen hat (z. B. für Ärzte, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialisten und Ingenieure für Kampfausrüstung). Die Behörden ziehen vornehmlich Männer bis zu einem Alter von 27 Jahren ein, während Ältere sich eher auf Ausnahmen berufen können.

 

Aus den Angaben der beschwerdeführenden Partei im Verfahren sind daher keine Hinweise für eine mögliche Einberufung als Reservist ableitbar. Die beschwerdeführende Partei ist jedenfalls weder als Militärdienstverweigerer noch als Deserteur zu qualifizieren, da er bereits 45 Jahre alt ist, sich daher nicht mehr im wehrdienstfähigen Alter befindet und von 1996 bis 1999 den Militärdienst als einfacher Soldat bereits ableistete.

 

Im gesamten Verfahren sind keine Hinweise auf sonstige gefahrenerhöhende Umstände hervorgekommen, aufgrund derer die beschwerdeführende Partei in Syrien aktuell mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen könnte, von der syrischen Regierung zum Militärdienst eingezogen oder bestraft zu werden.

 

Aus den aktuellen Länderberichten ergibt sich überdies auch nicht, dass jedem Rückkehrer, der Syrien unrechtmäßig verlassen hat und im Ausland einen Asylantrag gestellt hat, eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird bzw. dass dieser bei einer Rückkehr eine allgemein asylrelevante Verfolgung zu befürchten hätte (VwGH 11.11.2020, Ra 2020/18/0147). Die Tatsache, dass eine Person Syrien verlassen hat, bedeutet normalerweise für sich genommen nicht, dass für sie eine hinreichend große Gefahr besteht, um eine begründete Furcht vor Verfolgung festzustellen. In den meisten Fällen, in denen eine begründete Furcht vor Verfolgung glaubhaft gemacht wird, steht diese im Zusammenhang mit Umständen, die anderen in diesem Leitfaden behandelten Profilgruppen zuzuordnen sind, insbesondere der Gruppe der „Vermeintlich regierungsfeindlichen Personen“ (EASO, Leitfaden Syrien, November 2021, S. 11). Es ist im Verfahren jedenfalls entgegen dem Beschwerdevorbringen, dass die beschwerdeführende Partei nach den UNHCR-Erwägungen als Wehrdienstverweigerer drei Risikoprofilen entspreche, nicht hervorgekommen, aus welchem Grund die beschwerdeführende Partei als politischer Gegner der syrischen Streitkräfte oder der kurdischen Milizen eingestuft werden könnte.

 

Konkrete Gründe, aufgrund derer anzunehmen wäre, dass die beschwerdeführende Partei die Aufmerksamkeit der syrischen Regierungsbehörden auf sich gelenkt haben könnte, brachte er selbst nicht vor und konnten auch im Verfahren nicht ermittelt werden. Die Frage, ob er jemals Probleme mit den Behörden gehabt habe, wurde von der beschwerdeführenden Partei ebenfalls ausdrücklich verneint (AS 96).

 

Zu einem von der beschwerdeführenden Partei vorgelegten syrischen Wehrdienstbuch ist noch anzumerken, dass dieses Dokument nicht geeignet ist, eine asylrelevante Verfolgung zu belegen, da von der beschwerdeführenden Partei im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme nicht einmal ansatzweise angedeutet wurde, dass in diesem Schriftstück seine Einberufung als Reservist vermerkt wurde.

 

3. Rechtliche Beurteilung:

 

Zu A) Abweisung der Beschwerde:

 

Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:

 

Das Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ist im vorliegenden Fall in der Fassung nach dem Bundesgesetz BGBl. I Nr. 29/2020 anzuwenden. Die maßgeblichen Bestimmungen lauten:

 

§ 3 (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.

 

(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.

 

(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn

1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder

2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.

 

(4) Einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, kommt eine befristete Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zu. Die Aufenthaltsberechtigung gilt drei Jahre und verlängert sich um eine unbefristete Gültigkeitsdauer, sofern die Voraussetzungen für eine Einleitung eines Verfahrens zur Aberkennung des Status des Asylberechtigten nicht vorliegen oder das Aberkennungsverfahren eingestellt wird. Bis zur rechtskräftigen Aberkennung des Status des Asylberechtigten gilt die Aufenthaltsberechtigung weiter. Mit Rechtskraft der Aberkennung des Status des Asylberechtigten erlischt die Aufenthaltsberechtigung.

 

(4a) Im Rahmen der Staatendokumentation (§ 5 BFA-G) hat das Bundesamt zumindest einmal im Kalenderjahr eine Analyse zu erstellen, inwieweit es in jenen Herkunftsstaaten, denen im Hinblick auf die Anzahl der in den letzten fünf Kalenderjahren erfolgten Zuerkennungen des Status des Asylberechtigten eine besondere Bedeutung zukommt, zu einer wesentlichen, dauerhaften Veränderung der spezifischen, insbesondere politischen, Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind, gekommen ist.

 

(4b) In einem Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 1 Z 1 gilt Abs. 4 mit der Maßgabe, dass sich die Gültigkeitsdauer der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach der Gültigkeitsdauer der Aufenthaltsberechtigung des Familienangehörigen, von dem das Recht abgeleitet wird, richtet.

 

(5) Die Entscheidung, mit der einem Fremden von Amts wegen oder auf Grund eines Antrags auf internationalen Schutz der Status des Asylberechtigten zuerkannt wird, ist mit der Feststellung zu verbinden, dass diesem Fremden damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

 

§ 11 (1) Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist der Antrag auf internationalen Schutz abzuweisen (Innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.

 

(2) Bei der Prüfung, ob eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben ist, ist auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände der Asylwerber zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen.

 

Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist Flüchtling, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich in Folge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

 

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist unter Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen (VwGH 23.02.2016, Ra 2015/20/0113; 24.03.2011, 2008/23/1443).

 

§ 2 Abs. 1 Z 11 AsylG 2005 umschreibt Verfolgung als jede Verfolgungshandlung im Sinn des Art. 9 Statusrichtlinie 2011/95/EU , worunter - unter anderem - Handlungen fallen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen gemäß Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist. Dazu gehören insbesondere das durch Art. 2 EMRK geschützte Recht auf Leben und das in Art. 3 EMRK niedergelegte Verbot der Folter.

 

Dass die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen stehen muss, ergibt sich schon aus der Definition des Flüchtlingsbegriffs in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, wonach als Flüchtling im Sinn dieses Abkommens anzusehen ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen. Auch Art. 9 Abs. 3 der Statusrichtlinie verlangt eine Verknüpfung zwischen den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen einerseits und den Verfolgungsgründen andererseits (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0080). Dafür reicht es nach der jüngeren Ansicht des UNHCR aus, dass der Konventionsgrund ein (maßgebend) beitragender Faktor ist, er muss aber nicht als einziger oder überwiegender Grund für die Verfolgung oder das Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen nachgewiesen werden (VwGH 13.01.2015, Ra 2014/18/0140).

 

Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu § 11 Abs. 1 AsylG 2005 (vgl. VwGH 23.01.2018, Ra 2018/18/0001, Rn. 14-24) ist im Sinne einer unionsrechtskonformen Auslegung das Kriterium der "Zumutbarkeit" gleichbedeutend mit dem Erfordernis nach Art. 8 Abs. 1 Statusrichtlinie, dass vom Asylwerber vernünftigerweise erwartet werden kann, sich im betreffenden Gebiet seines Herkunftslandes niederzulassen. Die Frage der Zumutbarkeit soll danach beurteilt werden, ob der in einem Teil seines Herkunftslandes verfolgte oder von ernsthaften Schäden (iSd Art. 15 Statusrichtlinie) bedrohte Asylwerber in einem anderen Teil des Herkunftsstaates ein „relativ normales Leben“ ohne unangemessene Härte führen kann. Dabei ist gemäß § 11 Abs. 2 AsylG 2005 (Art. 8 Abs. 2 Statusrichtlinie) auf die allgemeinen Gegebenheiten des Herkunftsstaates und auf die persönlichen Umstände des Asylwerbers zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag abzustellen. Der Verwaltungsgerichtshof hielt fest, dass die Frage der Sicherheit des Asylwerbers in dem als innerstaatliche Fluchtalternative geprüften Gebiet des Herkunftsstaates selbstverständlich wesentliche Bedeutung hat. Es muss mit ausreichender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden können, dass der Asylwerber in diesem Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würden, findet. Es muss dem Asylwerber aber auch möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss.

 

Im vorliegenden Fall ist auf Grund der Sachverhaltsfeststellungen davon auszugehen, dass die beschwerdeführende Partei eine drohende Verfolgung, die in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK steht, nicht glaubhaft machen konnte. Als Flüchtling im Sinn dieses Abkommens ist nur anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

 

Die beschwerdeführende Partei verließ den Herkunftsstaat wegen des Krieges und erhielt auch bereits subsidiären Schutz in Österreich. Eine Gefahr der neuerlichen Einberufung der beschwerdeführenden Partei zum Wehrdienst trotz des Fehlens von besonderen Qualifikationen ist nach den Länderfeststellungen nicht ersichtlich (vgl. auch VwGH 21.09.2022, Ra 2022/19/0227).

 

Auch für eine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgungsgefahr in Syrien für alle Rückkehrer aus Europa, die einen Asylantrag stellten, gibt es keine ausreichenden Hinweise. Die einschlägigen Länderberichte sprechen davon, dass die Behandlung eines Rückkehrers durch die Behörden davon abhängt, ob die Person für oder gegen das Regime ist. Die beschwerdeführende Partei stellt aber keine besonders exponierte Person dar und behauptete auch selbst nicht, dass er gegen die syrische Regierung aufgetreten wäre.

 

Die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides ist daher als unbegründet abzuweisen.

 

Zu dem Antrag auf Durchführung einer Verhandlung wird ausgeführt:

 

Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.

 

Den Umfang der Verhandlungspflicht aufgrund dieser Bestimmung umschrieb der Verwaltungsgerichtshof in seinem grundlegenden Erkenntnis vom 28.05.2014, Ra 2014/20/0017, worin die Kriterien für die Annahme eines geklärten Sachverhaltes zusammengefasst wurden, folgendermaßen (seither ständige Rechtsprechung; vgl. zum grundrechtlichen Gesichtspunkt auch VfGH 26.02.2018, E 3296/2017; 24.11.2016, E 1079/2016; 14.03.2012, U 466/11, U 1836/11):

 

„Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht muss die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstanziiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.“

 

Im vorliegenden Fall liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 21 Abs. 7 erster Fall BFA-VG und die dazu von der ständigen Rechtsprechung aufgestellten Kriterien vor. Der Sachverhalt ist aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt. In einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren wurde der beschwerdeführenden Partei ausreichend Parteiengehör eingeräumt, und auch die Beschwerde zeigt nicht plausibel auf, inwieweit eine neuerliche Einvernahme zu einer weiteren Klärung der Sache führen könnte.

 

Im gegenständlichen Fall ist dem angefochtenen Bescheid ein umfassendes Ermittlungsverfahren durch das BFA vorangegangen. Für die in der Beschwerde behauptete Mangelhaftigkeit des Verfahrens ergeben sich aus der Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes keine Anhaltspunkte. Vielmehr wurde den Grundsätzen der Amtswegigkeit, der freien Beweiswürdigung, der Erforschung der materiellen Wahrheit und des Parteiengehörs entsprochen. Der Sachverhalt wurde daher nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens unter schlüssiger Beweiswürdigung festgestellt.

 

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

 

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen. Nach Art. 133 Abs. 4 erster Satz B-VG idF BGBl. I Nr. 51/2012 ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

 

Im vorliegenden Fall ist die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung abhängt. Denn das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu den einzelnen Spruchpunkten des angefochtenen Bescheides wiedergegeben.

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