AsylG 2005 §57
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2
FPG §55 Abs3
European Case Law Identifier: ECLI:AT:BVWG:2018:L514.2142290.1.00
Spruch:
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Mariella KLOIBMÜLLER als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX, geb. XXXX, StA. Irak, vertreten durch RA Mag. Susanne SINGER, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.11.2016, Zl. XXXX RD Tirol, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 05.10.2017, zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird gemäß § 57 und § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG sowie § 52 Abs. 2 Z 2 und Abs. 9, § 46 und § 55 Abs. 1 bis 3 FPG als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer gab an, ein Staatsangehöriger des Irak, kurdischer Abstammung und schiitischen Glaubens zu sein. Er reiste am XXXX2012 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte noch am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen der am selben Tag durchgeführten Erstbefragung brachte er vor, dass er mit seiner Schwester neun Jahre lang einen Frisörsalon für Damen betrieben habe. Im XXXX 2012 seien islamische Extremisten gekommen und hätten ihm gedroht den Salon zu zerstören, sollte er diesen weiter betreiben. Der Beschwerdeführer habe weitergemacht und einige Tage danach seien die islamischen Extremisten gekommen und hätten den Frisörsalon zerstört. Zudem sei eine Todesnachricht für ihn hinterlassen worden. Er habe dies auch der Polizei gemeldet, jedoch die Täter nicht nennen können, weshalb diese nichts tun hätte können. Aus Angst diese Personen könnten erneut kommen, habe er dann den Irak verlassen.
Am 29.11.2012 wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesasylamt niederschriftlich einvernommen. Dabei brachte er zusammengefasst vor, dass er ab dem Jahr 2002 einen Frisörsalon betrieben habe, welcher am XXXX2007 aufgrund einer Explosion eines LKW in der Nähe zerstört worden sei. XXXX 2008 habe er erneut einen Frisörsalon eröffnet, welchen er bis XXXX 2012 auch betrieben habe. Am XXXX2012 seien zwei Männer zu ihm gekommen und hätten ihn gedrängt, sein Geschäft zu schließen, zumal er zu westlich eingestellt sei. Der Beschwerdeführer habe seinen Frisörsalon aber nicht geschlossen und am XXXX2012 beim Aufsperren des Geschäftes gemerkt, dass die Glasfront zerstört und die Inneneinrichtung komplett demoliert gewesen sei. Am Eingang sei ein an ihn gerichtetes Schreiben gehängt worden, worin ihm der Tod angedroht worden sei, sollte er als Jezide dieses Geschäft weiter betreiben, welches in der Gegend nicht erlaubt sei. Da ihm die Polizei keine Sicherheit habe garantieren können, habe er Angst gehabt und schließlich den Irak verlassen.
2. Mit Bescheid vom 06.02.2013, Zl. 12 10.078-BAI, wies das Bundesasylamt den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet in den Irak ausgewiesen (Spruchpunkt III.).
In seiner Beweiswürdigung führte das Bundesasylamt aus, dass die Angaben des Beschwerdeführers zu seinen Ausreisegründen selbst bei Wahrunterstellung nicht zu der Feststellung führen würden, dass die Demolierung des Frisörsalons aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Ansichten oder aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe erfolgt sei, sondern allein deshalb, weil er den Frisörsalon nach westlichem Vorbild geführt habe. Dieser Führungsstil weise keine GFK-Relevanz auf.
Rechtlich führte das Bundesasylamt aus, dass der Beschwerdeführer keine konkrete, individuelle gegen ihn selbst gerichtete Verfolgung aus einem in der GFK angeführten Grund befürchten müsse, weshalb kein Asyl gewährt werden könnte.
Es bestünden auch keine Abschiebungshindernisse und sei daher kein subsidiärer Schutz zu gewähren.
Hinsichtlich der Ausweisung führte das Bundesasylamt aus, dass kein Familienbezug des Beschwerdeführers in Österreich vorliege. Zum Privatleben kam das Bundesasylamt zum Ergebnis, dass ein solches hierorts noch nicht entstanden sei.
Mit Verfahrensanordnung vom 06.02.2013 wurde dem Beschwerdeführer für das Beschwerdeverfahren gemäß § 66 Abs. 1 AsylG amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.
3. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer mit Schriftsatz vom 21.02.2013 fristgerecht Beschwerde.
Darin bringt der Beschwerdeführer im Einzelnen vor, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen sei, weil er im Herkunftsland aufgrund seines jezidischen Glaubens verfolgt werde. Der Beschwerdeführer habe bereits im Rahmen der Einvernahme vor dem BAA angegeben, dass er aufgrund seines jezidischen Glaubens mit dem Umbringen bedroht sowie sein Frisörsalon demoliert worden sei. Nachdem er dies bei der Polizei angezeigt habe, sei ihm mitgeteilt worden, dass diese nicht gewillt sei ihn vor weiteren Übergriffen zu schützen. Dem Beschwerdeführer sei es gerade aufgrund seines jezidischen Glaubens möglich gewesen, einen westlich orientierten Frisörsalon zu führen. Im Weiteren wurden auszugsweise Länderberichte zitiert, aus denen sich ergebe, dass Jeziden aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit verfolgt werden würden und kein Schutz von Sicherheitsbehörden erwartet werden könne. Außerdem sei die Situation des Beschwerdeführers im Falle einer Rückkehr völlig falsch beurteilt worden. Im Irak sei nicht nur die politische Lage äußerst instabil, sondern auch die Versorgungslage sowie die allgemeine Sicherheitslage nach wie vor sehr schlecht. Diesbezüglich sowie zur Menschenrechtslage im Irak wurden Passagen aus dem bekämpften Bescheid zitiert.
4. Am 18.11.2013 erfolgte seitens des Asylgerichtshofes eine Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme. Dem Beschwerdeführer wurde der Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak des Deutschen Auswärtigen Amtes vom 17.01.2013 sowie die Stellungnahme des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien über Jeziden im Irak vom 17.02.2010 übermittelt und ihm die Möglichkeit zur Abgabe einer schriftlichen Stellungnahem innerhalb von zwei Wochen eingeräumt.
Mit Schriftsatz vom 06.12.2013 erstattete der Beschwerdeführer zum Ergebnis der Beweisaufnahme eine Stellungnahme. Der Beschwerdeführer stimme den Ausführungen zu, wonach besonders gefährdete gesellschaftliche Gruppen (u. a. auch Frisöre) immer wieder Ziel von Anschlägen seien. Jeziden würden im Irak nach wie vor auch systematisch diskriminiert und bedroht werden. Diesbezüglich wurde auszugsweise ein Bericht von Said Shehata verwiesen. Durch den Zustrom von syrischen Flüchtlingen in den Irak hätte sich die Lage für Jeziden sogar verschlechtert. Schließlich wurde noch ausgeführt, dass sich der Beschwerdeführer bemühe, sich in Österreich zu integrieren. Er besuche derzeit einen Deutschkurs.
5. Am 20.05.2014 und 13.01.2016 führte das Bundesverwaltungsgericht in der Sache des Beschwerdeführers eine öffentlich mündliche Verhandlung durch. In dieser wurde dem Beschwerdeführer Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung im Irak anhand vorliegender Länderdokumentationsunterlagen erörtert.
Mit Schriftsatz vom 10.02.2016 erstattete der rechtsfreundliche Vertreter des Beschwerdeführers eine Stellungnahme zu den in der mündlichen Verhandlung am 13.01.2016 ausgehändigten länderkundlichen Informationen. Darin wurde zur Möglichkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative Bezug genommen und angemerkt, dass dieser aus humanitären Gründen entschieden entgegengetreten werde. Die dem Beschwerdeführer zur Kenntnis gebrachten Länderfeststellungen seien inhaltlich nicht geeignet, die Position von UNHCR zur Rückkehr in den Irak vom Oktober 2014 zu entkräften und eine gegenteilige Annahme zuzulassen. Es würden entsprechend der UNHCR-Position vom Oktober 2014 prekäre humanitäre Bedingungen in den Provinzen der kurdischen Autonomieregion herrschen. Aus den übermittelten länderkundlichen Feststellungen sei nicht ersichtlich, weshalb das Bundesverwaltungsgericht zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat Irak komme und wurde dazu im Weiteren auf die einzelnen Berichte eingegangen, welche eine schlechte humanitäre Lage in der kurdischen Autonomieregion ausführlich darlegen würden. Eine Rückkehr dorthin sei aus humanitären Gesichtspunkten daher nicht zumutbar. Zudem sei zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer über keinen familiären oder ethnischen und sozialen Rückhalt in der kurdischen Autonomieregion verfüge. Seine noch am Leben gebliebenen Familienangehörigen würden in einem Flüchtlingslager in den Bergen leben. Ein Bruder und eine Schwester seien nach wie vor vermisst. Die noch verbliebenen Familienangehörigen im Irak hätten jedenfalls nicht die Möglichkeit gehabt, die innerstaatliche Fluchtalternative Kurdistan zu nutzen.
6. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 09.08.2016, Zl. L507 1433114-1/35E, wurde die Beschwerde gemäß §§ 3, 8 Abs. 1 Z 1 AsylG als unbegründet abgewiesen. Gemäß § 75 Abs. 20 AsylG wurde das Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die vom Beschwerdeführer behaupteten Ausreisegründe in Form einer individuellen Verfolgung durch unbekannte Islamisten wegen seiner beruflichen Tätigkeit als Frisör in seinem eigenen Geschäft bereits vor dem BAA als nicht glaubhaft bewertet wurden und sei es dem Beschwerdeführer auch aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts bis zuletzt nicht gelungen, diesbezüglich ein nachvollziehbares glaubwürdiges Geschehen darzustellen.
Weiters ergebe sich aus den herangezogenen Länderfeststellungen, dass die Expansion der Terrororganisation IS im Nordirak Ende 2014 zum Stillstand gekommen sei und seither die Sicherheitskräfte der kurdischen Regionalregierung mit Unterstützung alliierter Streitkräfte nicht nur die Grenzen der kurdischen Autonomieregion abgesichert, sondern auch maßgebliche Teile der nördlichen Region der Provinz Ninava, die im Grenzgebiet zur Autonomieregion liegen und seit jeher kurdisch besiedelt waren, zurückerobert hätten. Dies treffe auch auf die nördlich der Stadt XXXX gelegene Region, auf große Teile des Bezirks XXXX einschließlich der Stadt XXXX und zuletzt auf die östliche Region des XXXX zu.
Vor diesem Hintergrund habe sich auch eine Rückkehrbewegung unter den ursprünglich aus diesen Gebieten in die Autonomieregion Geflohenen entwickelt. Dennoch müsse die aktuelle Lage dort angesichts von kriegsbedingten Zerstörungen, von Kriegsrelikten ausgehenden Gefahren und einer wohl insgesamt noch sehr schwierigen wirtschaftlichen Lage als nicht hinreichend sicher und eine Rückkehr dorthin (noch) nicht als zumutbar angesehen werden.
Eine Rückkehr dorthin bzw. ein Aufenthalt dort stelle sich daher auch für den Beschwerdeführer aktuell als nicht zumutbar dar.
Für den Beschwerdeführer bestehe jedoch die Möglichkeit einer zumutbaren Rückkehr in die von der kurdischen Regionalregierung (KRG) kontrollierte Autonomieregion im Nordirak, insbesondere in die Provinz Dohuk. Dies ergibt sich aus den der Entscheidung zugrunde gelegten detaillierten länderkundlichen Informationen und auch aus dem von der rechtsfreundlichen Vertretung mit Schriftsatz vom 02.08.2016 in Vorlage gebrachten Artikel der Tiroler Tageszeitung.
7. Mit Schreiben des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) vom 26.08.2016 wurde der Beschwerdeführer aufgefordert, alle integrativen Schritte darzulegen und einen Fragenkatalog schriftlich zu beantworten. Gleichzeitig wurden dem Beschwerdeführer aktuelle Länderfeststellungen zur Kenntnis gebracht und ihm die Möglichkeit eingeräumt, dazu innerhalb einer Frist von zwei Wochen eine Stellungnahme abzugeben.
Mit Schriftsatz des rechtsfreundlichen Vertreters des Beschwerdeführers vom 19.09.2016 wurde davon Gebrauch gemacht und ausgeführt, dass der Beschwerdeführer im Bundesgebiet alleine lebe, er zwar in Österreich einen Cousin habe, von diesem aber nicht abhängig sei. Er besuche aktuell einen Deutschkurs, habe aber bisher noch nicht die A2-Prüfung abgelegt. Weiters wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer über keinen Schulabschluss verfüge, keinen Kurs und keine Schule in Österreich besucht habe und bislang noch keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen sei. Der Lebensunterhalt des Beschwerdeführers werde durch die Grundversorgung bestritten und sei er bisher nicht straffällig geworden. Als Kurde und Jezide sei er aufgrund der derzeitige Lage nicht gewillt, freiwillig in den Irak zurückzukehren.
8. Mit Bescheid des BFA vom 09.11.2016, Zl. 13-821007806 RD Tirol, wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in den Irak zulässig sei (Spruchpunkt I.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für seine freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt II.).
Begründend führte das BFA aus, dass der Beschwerdeführer nur unzureichend die deutsche Sprache spreche, in einer Flüchtlingsunterkunft lebe und auf die Grundversorgung angewiesen sei. Der Beschwerdeführer habe nicht einmal ansatzweise versucht, sich in die österreichische Gesellschaft zu integrieren. Im Gegenzug habe er im Irak familiäre Anknüpfungspunkte und werde es trotz längerer Abwesenheit möglich sein, in seiner Heimat wieder Fuß zu fassen.
Mit Verfahrensanordnung des BFA vom 09.11.2016 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.
9. Gegen diesen dem rechtsfreundlichen Vertreter des Beschwerdeführers am 16.11.2016 ordnungsgemäß zugestellten Bescheid wurde mit Schriftsatz vom 14.12.2016 fristgerecht Beschwerde erhoben.
Begründend wurde ausgeführt, dass entsprechend der aktuellen UNHCR Position zur Rückkehr in den Irak vom 14.11.2016 von erzwungenen Rückführungen abzusehen sei, insbesondere in Regionen, in denen es militärische Auseinandersetzungen gebe, welche instabil seien, nachdem sie vom IS zurückerobert worden seien oder welche noch unter deren Herrschaft stehen würden. Auch eine innerstaatliche Fluchtalternative seiner einer genauen Überprüfung zu unterziehen, insbesondere im Hinblick auf humanitäre Aspekte.
Darüber hinaus wurde ausgeführt, dass der Beschwerdeführer mittlerweile über ein gewisses Maß an Integration, wenn auch auf niedrigem Niveau, verfügen würde, sich immer wohlverhalten habe und es keine wie auch immer gearteten Anhaltspunkte dafür gegen würde, dass er eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit in Österreich darstellen würde. Der Beschwerdeführer sei jung und arbeitsfähig und würde bei Erhalt eines entsprechenden Aufenthaltstitels selbstständig für seinen Lebensunterhalt sorgen.
10. Am 05.10.2017 führte das Bundesverwaltungsgericht in der Sache des Beschwerdeführers eine öffentlich mündliche Verhandlung durch. In dieser wurde dem Beschwerdeführer Gelegenheit gegeben, seine Integration darzulegen und Gründe ins Treffen zu führen, die gegen eine Rückkehr in den Irak sprechen würden. Weiters wurde die aktuelle Lageentwicklung im Irak anhand vorliegender Länderdokumentationsunterlagen erörtert.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Sachverhalt:
1.1. Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger des Irak, kurdischer Abstammung und Angehöriger der Jeziden. Er stammt aus dem Dorf XXXX, im Distrikt XXXX in der Provinz XXXX, wo er sechs Jahre lang die Grundschule besuchte und drei Jahre lang eine Frisörausbildung gemacht habe. Der Beschwerdeführer lebte bis zu seiner Ausreise im Elternhaus.
Im Irak sind nach wie vor die Eltern, eine Schwester und ein Bruder des Beschwerdeführers aufhältig. Er steht mit diesem in einem, wenn auch unregelmäßigen, Kontakt. Sie leben in einem Flüchtlingslager namens XXXX, etwa 10 km vom Heimatdorf des Beschwerdeführers entfernt und werden durch Spenden internationaler Organisationen versorgt.
Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge im Irak.
Der Beschwerdeführer ist ein gesunder, arbeitsfähiger Mensch mit hinreichender Ausbildung und mehrjähriger Berufserfahrung. Der Beschwerdeführer verfügt über eine gesicherte Existenzgrundlage in seinem Herkunftsstaat und über bestehende familiäre Anknüpfungspunkte. Dem Beschwerdeführer ist insbesondere die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu Sicherstellung des eigenen Auskommens möglich und zumutbar.
In Österreich bestreitet der Beschwerdeführer seinen Lebensunterhalt durch die Grundversorgung und konnten Kenntnisse der deutschen Sprache auf gutem Niveau festgestellt werden. Weiters leben zwei Cousins väterlicherseits des Beschwerdeführers mit deren Familien im Bundesgebiet, jedoch besteht zu diesen kein wie auch immer geartetes Abhängigkeitsverhältnis. Der Beschwerdeführer verfügt im Bundesgebiet über einen Freundeskreis. Weiters hat er im XXXX 2017 um die Feststellung der individuellen Befähigung gemäß § 19 GewO angesucht.
1.3. Zur Lage im Irak
Zusammenfassung (AA 07.02.2017)
* Laut Verfassung ist Irak ein demokratischer Rechtsstaat mit allen Merkmalen der Gewaltenteilung. In Irak wurde im September 2014 eine Regierung der nationalen Einheit unter Premierminister Al-Abadi (Da'wa-Partei, Rechtsstaatskoalition) mit Beteiligung aller großen Parteienblöcke gebildet.
* Die Sicherheitslage in Irak hatte sich ab Mitte 2014 vor allem durch den Vormarsch der terroristischen Organisation "Islamischer Staat in Irak und Syrien" (i. F. IS) dramatisch verschlechtert und hat sich 2015 und 2016, außer in einigen vom IS zurückeroberten Gebieten nicht verbessert. Schwerpunkte terroristischer Aktivitäten bleiben Bagdad sowie die Provinzen Anbar, Ninawa, Salah al-Din und Diyala im Norden und Westen des Landes. Teile dieser Provinzen sind weiterhin nicht vollständig unter Kontrolle der Zentralregierung. Systematische, grausamste Verbrechen von IS an Tausenden Menschen bis hin zu Versuchen, ganze Bevölkerungsgruppen zu vernichten, prägen hier das Bild. Rund 17 Millionen Menschen (53% der Bevölkerung) sind von Gewalt betroffen. Als Reaktion auf den Vorstoß des IS wurden auch viele Milizen in Irak wieder mobilisiert. Gewalttaten gegen Zivilisten gehen nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen und der Vereinten Nationen auch von irakischen Sicherheitskräften und Milizen aus.
* Weiterhin gespannt ist das Verhältnis der Zentralregierung zur Region Kurdistan-Irak, die einen semi-autonomen Status innehat. Grundlegende Fragen zwischen Bagdad und Erbil bleiben bisher ungelöst, insbesondere die Verteilung der Öl-Einnahmen. Nach Zerbrechen der Allparteienkoalition in der Region Kurdistan-Irak im August 2015 ist auch dort das innenpolitische Klima angespannt. 2016 bildet der gemeinsame Kampf gegen den IS eine Basis für Kooperation. Ein Durchbruch bei der Verbesserung der Beziehungen ist jedoch bisher nicht erkennbar.
* Verstöße gegen die Menschenrechte sind auch außerhalb des vom IS beherrschten Gebietes weit verbreitet. Besonders problematisch sind Folter und Defizite im Justizsystem sowie der Umgang mit Journalisten. Offiziell anerkannte Minderheiten, wie chaldäische und assyrische Christen sowie Jesiden, genießen in der Verfassung verbriefte Minderheitenrechte, sind jedoch im täglichen Leben, insbesondere außerhalb der Region Kurdistan-Irak, oft benachteiligt. Die Hauptsiedlungsgebiete der Minderheiten, darunter Jesiden und Christen, liegen in den Gebieten Nordiraks, die im Sommer 2014 unter die Kontrolle von IS gerieten. Dabei kam es zu systematischer Verfolgung, Zwangskonversion, Massenvertreibungen und -hinrichtungen von Angehörigen religiöser Minderheiten sowie Verschleppungen und sexueller Gewalt gegen Frauen und Kinder. Insbesondere Angehörige der Minderheiten, aber auch schiitische Angehörige der Sicherheitskräfte wurden und werden in den von IS beherrschten Gebieten Opfer von Gräueltaten.
* Die irakischen Sicherheitskräfte sind nicht in der Lage, den Schutz der Bürger sicherzustellen. Die Anwendung bestehender Gesetze ist nicht gesichert. Gerichte und Sicherheitskräfte verfügen nicht über ausreichend qualifiziertes Personal, es fehlt an rechtsstaatlichem Grundverständnis. Gewalttaten bleiben oft straflos.
* Die Gesamtzahl der Binnenvertriebenen, die seit Januar 2014 innerhalb Iraks aus ihren Heimatorten geflohen sind, liegt bei ca. 3,11 Millionen (Stand: Dezember 2016). Davon sind rund 1,27 Millionen Irakerinnen und Iraker mittlerweile wieder in die vom IS befreiten Gebiete zurückgekehrt. Die Provinzen Anbar, Ninawa und Salah Al-Din sind besonders stark von Vertreibungen betroffen. Über 11,3 Mio. Binnenvertriebene halten sich in der Region Kurdistan-Irak auf. Über 10 Mio. Menschen im Irak, also knapp ein Drittel der Bevölkerung, sind auf humanitäre Hilfe angewiesen.
* Die Offensive zur Befreiung Mosuls, der zweitgrößten Stadt des Irak, begann am 17. Oktober 2016. Durch die militärischen Erfolge der Anti-IS-Koalition besteht die Befürchtung, dass der IS verstärkt zu einer asymmetrische Kampfführung übergeht. Die Gefahr von Sprengstoffanschlägen und anderen terroristischen Angriffen könnte dadurch weiter steigen.
* Die nächsten Parlamentswahlen sind 2018 fällig. Allerdings erwarten einige Beobachter vorgezogene Wahlen für 2017. Regionalwahlen sind für April 2017 angesetzt. Wahlen in der Region Kurdistan, die seit August 2015 verschoben wurden, werden ebenfalls für 2017 erwartet.
Sicherheitslage (LIB 24.08.2017 mit Stand 27.09.2017)
Nachdem Premierminister Abadi am 31. August 2017 die gesamte Provinz Ninewah für vom IS zurückerobert erklärt hatte (Rudaw 31.8.2017), liegt der Focus nun auf den Provinzen Anbar und Kirkuk. Am 21. September 2017 startete die Operation zur Rückeroberung der in der Provinz Kirkuk/Tameem liegenden Stadt Hawija und deren Umgebung (BAMF 25.9.2017). Bei der Operation nehmen irakische Truppen, sowie schiitische Milizen teil, die kurdischen Peschmerga sind derzeit nicht beteiligt (Al-Jazeera 23.9.2017). Das Gebiet liegt jedoch im von den Kurden für sich beanspruchten Gebiet (Al-Jazeera 27.9.2017). Gleichzeitig findet eine Offensive zur Rückeroberung der Provinz Anbar statt, an der die irakischen Sicherheitskräfte, einschließlich Polizeieinheiten und schiitischer PMF-Milizen (PMF: Popular Mobilization Forces) teilnehmen (Al-Monitor 26.9.2017).
Im Folgenden finden sich zwei unterschiedliche Quellen, die die aktuelle Situation bzgl. der Kontrollgebiete im Irak darstellen:
Bild kann nicht dargestellt werden
(BBC 21.9.2017)
Bild kann nicht dargestellt werden
(Al-Jazeera 20.9.2017)
In der Provinz Anbar haben sich irakische Regierungstruppen westlich von Bagdad heftige Gefechte mit dem IS geliefert. Laut Angaben eines irakischen Generals vom 27.9.2017 waren IS-Kämpfer in die Ortschaft al-Tach südlich der Stadt Ramadi sowie in das "Kilometer Sieben" genannte Gebiet westlich davon vorgedrungen (Standard 27.9.2017).
Relevant für Abschnitt Todesstrafe
Am 24.09.17 wurden 42 Todesurteile wegen terroristischer Angriffe und tödlicher Überfälle auf Sicherheitskräfte vollstreckt (BAMF 25.9.2017).
Nach der Rückeroberung Mossuls Ende Juni 2017 erklärte der irakische Premierminister Haider al-Abadi am 31. August 2017 mit Tal-Afar eine weitere Stadt als vom "Islamischen Staat" (IS) befreit (Al-Jazeera 31.8.2017).
Indes kommt es im Zuge der Zurückdrängung des IS zu vermehrten Spannungen zwischen jenen Kräften, die den IS bekämpfen, so auch zwischen den USA und schiitischen Gruppen (Al-Monitor 23.8.2017), u. a. der schiitischen PMF-Miliz "Kata'ib Hezbollah" [von den USA als Terrororganisation eingestuft]. Diese droht mit erneuten Angriffen gegenüber den USA im Irak, sollten diese sich nicht aus dem Irak zurückziehen. Die USA zeigen indes keine Anzeichen, sich aus dem Irak zurückziehen zu wollen (MEE 7.9.2017; Economist 12.4.2017).
Neben den Anschlägen und Angriffen, die weiterhin regelmäßig im Irak verübt werden (IBC 15.9.2017), fand nun auch ein großer Doppelanschlag im Süden Iraks statt. (Anm.: In den südlichen Provinzen Iraks ist die Sicherheitslage üblicher Weise eher von stammesbezogener und krimineller Gewalt und - verglichen mit dem Nord- und Zentralirak - nur in geringerem Ausmaß von terroristischer Gewalt geprägt). Bei dem nun am 14. September 2017 stattgefundenen Doppelanschlag stürmten bewaffnete Männer in Militäruniformen ein Restaurant in Nasiriyah, der Hauptstadt der südlichen Provinz Thi-Qar, und eröffneten das Feuer. Kurz darauf explodierte das Auto eines Selbstmordattentäters bei einem Checkpoint in der Nähe des Restaurants. Die beiden Anschläge trafen u.a. schiitische Pilger. Zumindest 60 Menschen (gemäß Washington Post mehr als 80 Menschen) wurden getötet, 93 verletzt. Der IS gab an, für den Anschlag verantwortlich zu sein (WP 14.9.2017; vgl. Al-Jazeera 15.9.2017).
Der IS hat nach wie vor weite Gebiete des Iraks unter seiner Kontrolle [zusätzlich zu jenen Gebieten, in denen er aktiv ist und z. B. terroristische Anschläge verübt - siehe dazu weiter unten], darunter die Städte Tal-Afar westlich von Mossul [mit Stand 24. August 2017 derzeit umkämpft, s.u.], die drei Städte Al-Qaim, Raw und Ana im Westen der Provinz Anbar (BBC 22.6.2017), ein Großteil der Provinz Kirkuk inklusive dem gesamten Bezirk Hawija mit mehreren darin befindlichen Städten (BBC 22.6.2017, BAMF 26.6.2017), sowie Teile der Provinz Salahuddin (IraqiNews 7.8.2017). Dies geht auch aus den vier folgenden Grafiken des Institute for the Study of War, von Al-Jazeera, des Instituts für Friedenssicherung und Konfliktforschung des österreichischen Bundesheeres und des IHS Conflict Monitor hervor (Es werden hier mehrere unterschiedliche Grafiken abgebildet, da teilweise Abweichungen - v. a. in der Methodik der Darstellung - existieren).
Die Rückeroberung Tal-Afars verzögerte sich zunächst auf Grund der Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen teilnehmenden Akteuren. Vom Iran gestützte schiitische Milizen drängten darauf, eine Rolle bei der Eroberung der Stadt zu spielen, was die Türkei und die USA, sowie auch Premierminister Abadi zu verhindern versuchten. Bei der am 20. August begonnenen Tal-Afar-Offensive nehmen die PMF-Milizen trotz vorangehender Konzessionen gegenüber Abadi nun doch teil (WI 22.8.2017; ISW 26.6.2017; AA 7.2.2017). Luftangriffe auf Tal-Afar werden schon seit längerer Zeit von der Anti-IS-Allianz und der irakischen Luftwaffe durchgeführt. Inzwischen gibt es erste Berichte, nach denen der IS Bewohner aus dem Bezirk Tal-Afar in die Stadt treibt, um sie als Schutzschilde zu verwenden, ähnlich wie er das auch bei der Mossul-Offensive betrieben hatte (Harrer 20.8.2017). Für die schiitischen Milizen ist Tal-Afar ein besonders wichtiges Ziel. Im Gegensatz zum sunnitisch-dominierten Mossul gab es dort vor der Eroberung durch den IS einen signifikanten schiitischen Bevölkerungsanteil und die Stadt war die nördlichste Hochburg der Milizen, die sie nun zurückerobern möchten, und sich darüber hinaus für die seit 2005 durch djihadistische sunnitische Gruppen verübten Verwüstungen rächen wollen (17.7.2017). Ebenso gab es Befürchtungen der Türkei (die weiterhin in der Nähe von Mossul mit Truppen präsent ist), denn Tal Afar ist zum Teil eine turkmenische Stadt (Harrer 20.8.2017). Die UNO warnt vor weiterer Gewalt an mutmaßlichen IS-Kollaborateuren, prangert die - insbesondere auch nach der Rückeroberung Mossuls - im ganzen Land stattfindenden Racheakte an und fordert den irakischen Regierungschef Abadi auf, dringend Maßnahmen zur Unterbindung der "Kollektivbestrafung" ganzer Familien zu ergreifen (Standard 17.7.2017).
Bezüglich der Offensive zur Rückeroberung Hawijas gibt es weiterhin Dispute, welche Kräfte das Gebiet betreten werden. Auch hier wird bezüglich schiitischer Milizen und kurdischer Kämpfer befürchtet, dass es zu Racheakten an der sunnitischen Bevölkerung kommen könnte (ICG 22.9.2016), bzw. dass eine Invasion durch nicht-sunnitische Kräfte sogar eine Ausweitung der bewaffneten Kämpfe auf weitere Teile der umstrittenen Gebiete auslösen könnte. Hawija stand in den letzten Jahren im Zentrum mehrfacher und bedeutender sunnitischer Aufstände (Rudaw 17.5.2017).
Die US-geführte Koalition hat gegen den IS im Irak seit August 2014 mehr als 12.200 Luftschläge durchgeführt (BBC 20.7.2017). Bei diesen Luftangriffen sind hunderte, vermutlich tausende Zivilisten ums Leben gekommen. Die US-geführte Koalition hat zugegeben, dass bei ihren Luftangriffen in Syrien und Irak [die zum größten Teil in Irak, dabei vorrangig in Mossul, aber auch in anderen Gebieten des Nord- und Zentral-Irak stattfanden, s. Karte] zumindest 484 Zivilisten getötet wurden. Unabhängige Beobachter sprechen eher von tausenden, das Transparenz-Projekt Airwars spricht von zumindest
3.800 toten Zivilisten in Irak und Syrien. Der tödlichste Einzel-Luftschlag war jener auf den Mossul-Bezirk al-Jadida am 17. März 2017, bei dem zumindest 101 Männer, Frauen und Kinder getötet wurden (IP 3.6.2017), obwohl das Ziel dieses Angriffes lediglich zwei IS-Scharfschützen waren (Zeit 11.7.2017). Neben den "Bedenken bezüglich möglicher Kriegsverbrechen", die den Kampf gegen den IS in Mossul betreffend geäußert werden (IP 3.6.2017), haben nun auch einige ehemalige US-amerikanische Sicherheitsoffiziere einen warnenden Brief an den US-Verteidigungsminister James Mattis gerichtet, dass "unbeabsichtigte Zivilopfer strategische Rückschläge verursachen können, indem etwa die Kooperation mit lokalen Partnern zurückgehen könnte, oder als Antrieb für militante Propaganda benutzt werden könnten" (NYTimes 25.5.2017).
Die Sicherheitslage im Irak hat sich nach der dramatischen Verschlechterung (vor allem durch den Vormarsch des IS ab Mitte 2014) in den Jahren 2015 und 2016 (mit Ausnahme von einigen vom IS zurückeroberten Gebieten) nicht verbessert (AA 7.2.2017). Es herrschen
weiterhin Langzeit-Instabilität und Gewalt an mehreren Fronten gleichzeitig (OA/EASO 2.2017). Die territoriale Zurückdrängung des IS im Laufe des Jahres 2016 hat die Zahl der terroristischen Anschläge in den genannten Provinzen nicht wesentlich verringert, in manchen Fällen hat sie sogar eine asymmetrische Kriegführung des IS mit verstärkten terroristischen Aktivitäten provoziert (AA 7.2.2017; vgl. ÖB 12.2016). Schwerpunkte terroristischer Aktivitäten bleiben Bagdad sowie die Provinzen Anbar, Ninewah, Salahuddin und Dialah im Norden und Westen des Landes (AA 7.2.2017). Teile dieser Provinzen sind weiterhin nicht vollständig unter der Kontrolle der Zentralregierung. Systematische, grausamste Verbrechen des IS an tausenden Menschen bis hin zu Versuchen, ganze Bevölkerungsgruppen zu vernichten, prägen hier das Bild. Rund 17 Millionen Menschen (53 Prozent der Bevölkerung Iraks) sind von Gewalt betroffen (AA 7.2.2017). Zuletzt griff der IS am 4. Juli 2017 das Dorf Imam Gharbi, südlich von Qayyarah, an. Dabei gab es 170 Opfer, einige davon Zivilisten (OCHA 13.7.2017). Dem IS wird auch immer wieder vorgeworfen, Chemiewaffen einzusetzen (Zeit 16.4.2017). Laut World Health Organization (WHO) sind "mögliche Fälle von Einsätzen von Chemiewaffen" im Irak seit 2016 stark angestiegen, insbesondere in Mossul gibt es regelmäßig solche Berichte. Die WHO bezog jedoch nicht Stellung, ob die Chemiewaffeneinsätze auf das Konto des IS oder das von anderen Gruppen, die in die Kämpfe um Mossul verwickelt sind, gehen (New Arab 26.6.2017).
Neben den sicherheitsrelevanten Handlungen des IS wird auch von Gewalttaten gegen Zivilisten von Seiten der irakischen Sicherheitskräfte und Milizen berichtet (AA 7.2.2017). Die Milizen sind ein wichtiger Teil der Offensiven gegen den IS, gleichzeitig sind sie jedoch stark religiös/konfessionell motiviert, und es gibt zahlreiche Berichte über Racheakte insbesondere an der sunnitischen Bevölkerung (s. dazu ausführlich die Abschnitte zur Menschenrechtslage sowie den Abschnitt zu IDPs). Allgemein ergeben sich zunehmende Spannungen dadurch, dass die (vorwiegend) schiitischen Milizen der PMF zunehmend an Macht und Terrain gewinnen. Im Norden Iraks nimmt das Gebiet, das die Milizen im Zuge der Mossul-Rückeroberungsoffensive unter ihrer Kontrolle haben, stark zu. (BBC 3.12.2016). Im Nordwesten des Irak eroberten pro-iranische schiitische Milizen beispielsweise die Stadt Baadsch im irakisch-syrischen Grenzgebiet vom IS zurück. Weitere Vorstöße erfolgten in Richtung der Stadt Al-Qaim. Der Sprecher der Volksmobilisierungseinheiten, Karim al-Nuri, betonte zudem, dass in Koordination mit dem syrischen Regime der IS auch auf syrischem Boden bekämpft wird. Die neue Dominanz der pro-iranischen Milizen im Grenzgebiet stößt auf heftige Kritik der kurdisch dominierten SDF (Syrian Democratic Forces) in Syrien, die davor warnen syrisches Territorium zu betreten. Ein Einmarsch der schiitischen Milizen würde neue Spannungen zwischen den von den USA unterstützten Kurden und den vom Iran unterstützten schiitischen Milizen schaffen. Premierminister Abadi kritisierte die Aussage des Kommandanten der Volksmobilisierungseinheiten und betonte, dass es gemäß Verfassung Irakern nicht gestattet ist, über die Grenzen des Landes hinaus zu kämpfen (IFK 9.6.2017).
Sicherheitslage im Kurdischen Autonomiegebiet (KRI) und den von Kurden kontrollierten Gebieten (LIB 24.08.2017 mit Stand 27.09.2017)
Während der IS in Richtung Syrien zurückgedrängt werden konnte, bleibt die Sicherheitslage in der KRI volatil ("fluid"). Die Gefahr von asymmetrischen Angriffen auf sogenannte "weiche Ziele" bleibt hoch (OSAC 13.2.2017), auch wenn es in der irakischen Kurdenregion bedeutend weniger Berichte von Morden oder konfessioneller Gewalt gibt als im restlichen Land. Minderheitengruppen berichteten von Bedrohungen und Angriffen gegen ihre Gemeinden außerhalb des Kurdischen Autonomiegebietes, innerhalb jener Regionen, die (effektiv) unter der Kontrolle der kurdischen Regionalregierung stehen (USDOS 3.3.2017). Außerdem kommt es nach der Befreiung von Ortschaften aus den Händen des IS im Nachgang teilweise zu Machtkämpfen um die Vorherrschaft im jeweiligen Gebiet; so wurde im Sommer/Herbst 2016 über Zusammenstöße zwischen kurdischen Peschmerga und schiitischen Milizen in der Stadt Tuz Khurmatu berichtet (AA 7.2.2017).
Die KDP (Kurdische Demokratische Partei) des kurdischen Regionalpräsidenten Mas'ud Barzani kontrolliert die Provinzen Erbil und Dohuk im Norden des Kurdengebiets mit Grenzen zu Syrien, der Türkei und dem Iran. Die PUK (Patriotische Union Kurdistans) übt traditionell die Kontrolle über die Provinzen Sulaimaniya und Halabdscha im Süden des Kurdengebiets mit Grenze zum Iran aus. Im Zuge des Kampfes gegen den IS haben die kurdischen Peschmerga-Kämpfer auch die erdölreiche und von vielen Kurden bewohnte Provinz Kirkuk unter ihre Kontrolle gebracht [Mit den in Abschnitt "Sicherheitslage" erwähnten Einschränkungen; der IS hält in der Provinz Kirkuk nach wie vor Kontrollgebiet]. Auch diese gilt als Einflussgebiet der PUK. Auch weitere Gebiete im Norden und Osten von Mossul, in der Provinz Ninewa, fallen derzeit in den Machtbereich der Kurden, in diesem Fall der KDP. Es ist derzeit nicht absehbar, ob und inwieweit die Peschmerga diese Gebiete nach Beendigung der Mossul-Operation wieder räumen werden (AA 7.2.2017). Die Sicherheitslage in Kirkuk hat sich nach 2014 stetig verschlechtert, im Jahr 2016 blieb sie weiterhin instabil (IOM 2015-2016). Laut US Department of States Bureau of Diplomatic Security ist die Sicherheitslage in Kirkuk sogar höchst instabil, mit regelmäßigen Angriffen/Anschlägen und sicherheitsrelevanten Vorfällen (OSAC 13.2.2017). Im Oktober 2016 fand ein Angriff des IS auf die Stadt Kirkuk statt, bei dem eine große Zahl an IS-Kämpfern in die Stadt eindrang; laut Rudaw wurden dabei etwa hundert Menschen getötet. Kirkuk ist immer wieder Schauplatz von Angriffen oder Anschlägen (Rudaw 8.11.2016, vgl. HB 22.10.2016). Im Jahr 2016 dokumentierte Iraqi Body Count in der Provinz Kirkuk Vorfälle mit
1.106 getöteten Zivilisten, in den ersten beiden Monaten des Jahres 2017 wurden 120 in dieser Provinz getötete Zivilisten dokumentiert (Anm.: Im Westen der Provinz Kirkuk hält der IS nach wie vor das Kontrollgebiet rund um Hawija.) (IBC 2016/2017). Joel Wing dokumentierte in den ersten 6 Monaten des Jahres 2017 in der Provinz Kirkuk Vorfälle mit 328 getöteten Zivilisten (MOI 2016/2017). Anm.:
Auch bezüglich dieser Zahlen gelten die in Abschnitt Sicherheitslage und nochmals weiter unten beschriebenen Anmerkungen und Einschränkungen. Der IS führt in der Provinz Kirkuk immer wieder Exekutionen durch, zuletzt exekutierte er im August laut Berichten 27 Zivilisten auf dem Al-Bakkara Militärstützpunkt in Hawija im Südwesten Kirkuks (IraqiNews 9.8.2017).
Die UN-Unterstützungsmission für den Irak (UNAMI) erwähnt in ihrem Bericht vom Dezember 2016 Kampfhandlungen des IS im Distrikt Makhmur der Provinz Erbil im Zeitraum März bis April 2016. Dabei wurden von UNAMI sieben Todesfälle dokumentiert (UNAMI/OHCHR 30.12.2016). Im Februar 2017 ist es gemäß dem im Irak ansässigen kurdischen Mediennetzwerk Rudaw zu vier sicherheitsrelevanten Vorfällen im Zusammenhang mit dem IS gekommen, die sich in der Nähe der Stadt Erbil ereignet haben, darunter zwei Luftangriffe der Koalition gegen den IS auf Ziele 20 bzw. 30 Kilometer von der Stadt entfernt. Darüber hinaus werden immer wieder mutmaßliche IS-Kämpfer oder IS-Sympathisanten in der Kurdenregion verhaftet oder getötet. Viele IS-Kämpfer sind von Mossul aus in die Provinz Sulaymaniya eingedrungen (Rudaw 24.2.2017).
Seit Ende Juli 2015 führt die Türkei Luftschläge gegen IS-Stellungen in Syrien und im Norden Iraks durch und nimmt dabei auch PKK-Stellungen in der Region Kurdistan-Irak ins Visier (AA 7.2.2017). Dabei werden regelmäßig Mitglieder der PKK getötet, immer wieder auch Zivilisten (Zeit 25.4.2017, vgl. MOI 2016/2017, vgl. Rudaw 22.2.2017, vgl. Reuters 1.8.2017, vgl. Reuters 1.8.2015), bzw. wurde auch zumindest von einem Fall berichtet, in dem versehentlich sechs kurdische Peschmerga-Kämpfer getötet wurden (Zeit 25.4.2017). Auch ein Ausbildungslager [der von der PKK trainierten] jesidischen Widerstandseinheiten Sinjar YBS wurde laut Berichten bei Angriffen durch die türkische Luftwaffe zerstört. Während die Jesiden und Kurden gegen die Angriffe protestieren, verteidigt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan die Luftschläge (Euronews 27.4.2017) mit dem Argument, dass die Türkei nicht zulassen könne, dass das Sinjar-Gebirge eine Basis der Terrororganisation PKK werde. Die PKK gewinnt im Irak immer stärker an Einfluss, was die Türkei zunehmend als Bedrohung ansieht (Natali 3.1.2017; vgl. WINEP 2017). Mit dem Schlag auf Sinjar (Shengal) drang die türkische Luftwaffe deutlich tiefer als zuvor in das irakische Staatsgebiet ein (NA 28.4.2017). Denn zusätzlich zum Hauptstützpunkt in den Qandil-Bergen hat sich die PKK seit der Rückeroberung Sinjars vom IS nun auch in diesem Gebiet, also in den Sinjar-Bergen einen offenbar dauerhaften Standort eingerichtet - einerseits, um die Jesiden vor dem IS zu schützen, andererseits aus strategischen Gründen (WINEP 2017, Al-Jazeera 25.4.2017). Das türkische Militär führt im Irak mittlerweile nicht nur Luftschläge, sondern auch Bodeneinsätze gegen die PKK durch, z.B. kam es im Juni 2017 zu einem Zusammenstoß zwischen der PKK und türkischen Truppen, bei dem es zumindest 18 Tote gab (AN 18.6.2017).
Der Konflikt zwischen der PKK und der Türkei auf irakischem Boden führt auch zu einer weiteren Verstärkung der innerkurdischen Feindseligkeiten zwischen der PKK und der KDP, welche die PKK immer wieder auffordert, sich aus der Region zurückzuziehen. Es kommt zu Gefechten zwischen den beiden kurdischen Parteien rund um Gebiete bei Sinjar (NA 28.4.2017). Sinjar befindet sich außerhalb des offiziellen Gebietes der Autonomieregion und es wurde berichtet, dass die vom Westen unterstützten Peschmerga dort auch gegen PKK-nahe Jesiden kämpfen (Spiegel 6.3.2017). Zur Vorgeschichte: Die Jesiden bildeten nach der Befreiung Sinjars (Shengals) im November 2015 eigene Selbstverteidigungseinheiten (YBS), die von den Einheiten der dort präsenten PKK ausgebildet wurden. Nachdem sich die Peschmerga im Kampf um Sinjar damals zurückgezogen hatten, wollten sich die Jesiden nicht mehr auf deren Schutz verlassen und gründeten einen jesidischen Volksrat, der den Wiederaufbau Sinjars organisieren sollte. Allerdings akzeptiert die KRG unter Barzani weder die jesidischen Selbstverteidigungseinheiten noch den jesidischen Volksrat (TP 23.1.2017). Die Jesiden - gespalten zwischen KDP und PKK - befürchten nun erneute Vertreibungen aus ihrem Siedlungsgebiet, denn der Türkei wie auch der kurdischen Autonomieregierung im Nordirak sind die kurdischen Jesiden mit ihren Selbstverwaltungsplänen in Sinjar ein Dorn im Auge (TP 23.1.2017; Al-Monitor 21.8.2017).
In der KRI befinden sich neben der PKK auch noch zahlreiche andere kurdische Gruppen / bewaffnete kurdische Organisationen, welche die Türkei bzw. der Iran regelmäßig auf dem Boden der KRI mit Luft- und Artillerieschlägen angreift (MEE 21.12.2016). Das iranische Militär führte im Jahr 2016 Anti-Terror-Operationen (beispielsweise gegen die iranisch-kurdische "Partei für ein freies Leben in Kurdistan"/PJAK) mit erheblichen militärischen Mitteln (Luftangriffe bzw. Artilleriebeschuss) auf irakischem Boden durch (AA 7.2.2017). Gegen die iranisch-kurdische Partei Kurdistan Democratic Party-Iran (KDPI) gab es auch zumindest einen solchen Vorfall im Dezember 2016, bei dem sieben Menschen ums Leben kamen. (MEE 21.12.2016).
Türkische Bodentruppen greifen im Nordirak auch Stellungen des IS an (HRW 21.1.2017).
In der KRI finden immer wieder zivile Unruhen statt. Religiöse und politische Versammlungen ziehen Hunderte, gelegentlich Tausende an. Die Proteste sind üblicherweise friedlich, an
eine Demonstrationsbewilligung gebunden und streng bewacht von kurdischen Polizei- und Sicherheitskräften. Die Demonstrationen sind eine Folge der politischen Konflikte und der wirtschaftlichen Herausforderungen, die in der Region existieren. Im Jahr 2015 eskalierte eine Demonstration zu einem heftigen Zusammenstoß zwischen der KDP und Anhängern von Goran, in dessen Folge das irakisch-kurdische Parlament außer Kraft gesetzt wurde, das bis heute (Stand 11.8.2017) nicht mehr tagt (s. Abschnitt Kurdische Autonomieregion). Es gab im Jahr 2016 weitere Demonstrationen in Zusammenhang mit Gehältern von Staatsangestellten, diese waren jedoch weniger gewaltsam (OSAC 13.2.2017).
Irakexperte Joel Wing ("Musings on Iraq") dokumentierte für den Zeitraum Juli 2016 bis Juni 2017 innerhalb des kurdischen Gebietes 36 sicherheitsrelevante Vorfälle mit insgesamt 296 Toten (Großteil dieser Todesfälle: Mitglieder der türkisch-kurdischen PKK im Zuge von Angriffen durch die türkische Luftwaffe) - davon 23 getötete Zivilisten, 44 Zivilisten wurden laut dieser Quelle verletzt (MOI 2016/2017). Dabei muss beachtet werden, dass in diesen Zahlen Opfer stammesbezogener Gewalt, "gewöhnlicher" krimineller Handlungen (z.B. Raubüberfälle oder Kidnapping), etc. nicht enthalten sind (Wing 19.7.2017). Iraqi Body Count dokumentierte für die drei Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaymaniya für das Jahr 2016 105 Zivilisten, die durch Gewalt von Seiten "der US-geführten Koalition, der Sicherheitskräfte der irakischen Regierung, paramilitärischer Einheiten oder durch kriminelle Angriffe von anderen" ums Leben kamen. Anm.: Für die Quellen Joel Wing und Iraqi Body Count gelten wiederum die oben erwähnten Anmerkungen. UNAMI veröffentlicht nur Zahlen zu den jeweils am stärksten betroffenen Provinzen, es gibt somit keine UNAMI-Zahlen zu den Provinzen der KRI.
In den letzten drei Jahren hat es einen kontinuierlichen Anstieg der Mord- und Selbstmordraten im Irak gegeben, was einerseits auf die Finanzkrise zurückgeführt werden kann, andererseits aber auch als Folge der Militarisierung der Bevölkerung durch den Kampf gegen den IS und die deutlich größere Verfügbarkeit und steigende Zahl von in Umlauf befindlichen Waffen gesehen wird. So starben im letzten Jahr im Kurdischen Autonomiegebiet alleine 377 Menschen durch Mord oder Selbstmord (Zeitraum 1.6.2016 - 30.6.2016) (Niqash 19.7.2017).
Sicherheitslage in den zurückeroberten Gebieten (LIB 24.08.2017 mit Stand 27.09.2017)
Die prekäre Sicherheitslage in den vom IS zurückeroberten Gebieten ist v.a. durch IEDs (improvised explosive devices) und Minen sowie durch Konflikte zwischen Milizen geprägt (ÖB 12.2016). Besonders in ethnisch gemischten Gebieten werden nach Befreiungsoperationen eskalierende Kämpfe zwischen verschiedenen Gruppen, die an der Rückeroberung teilgenommen haben, dokumentiert (USDOS 3.3.2017). Auch Angriffe seitens des IS können in diesen Gebieten weiterhin eine Rolle spielen.
Kurden (AA 07.02.2017)
Von ethnisch-konfessionellen Auseinandersetzungen sind auch Kurden betroffen, soweit sie außerhalb der Region Kurdistan-Irak leben. Im Konflikt um die Zukunft von Kirkuk, aber auch in Mosul kommt es immer wieder zu Übergriffen und Anschlägen auf Kurden. Aus Gebieten, die durch kurdische Peschmerga vom IS zurückerobert wurden, wird teilweise berichtet, dass den vertriebenen sunnitischen und auch schiitischen arabischen Bewohnern eine Rückkehr nicht gestattet wird und Häuser von vermeintlichen IS-Kollaborateuren zerstört werden. Nach der Befreiung von Ortschaften aus den Händen der Terrormiliz IS kommt es teilweise im Nachgang zu Machtkämpfen um die Vorherrschaft im jeweiligen Gebiet; so wurde Sommer/Herbst 2016 über Zusammenstöße zwischen kurdischen Peschmerga und schiitischen Milizen in der Stadt Tuz Khurmatu berichtet.
Jesiden (AA 07.02.2017)
Die Zahl der monotheistisch-synkretistischen Jesiden in Irak liegt nach eigenen Angaben bei etwa 450.000 bis 500.000. Die Mehrzahl siedelte im Norden Iraks, v. a. im Gebiet um die Städte Sindschar (zwischen Tigris und syrischer Grenze), Schekhan (Provinz Ninawa) und in der Provinz Dohuk. Für die Extremisten des IS sind Jesiden "Ungläubige" (sog. "Teufelsanbeter"), die mit dem Tod bestraft werden können. Die schwersten Menschenrechtsverletzungen an ihnen wurden bereits beschrieben. Viele Jesiden leben derzeit in Flüchtlingslagern, besonders in der Region Kurdistan-Irak, ein großer Teil trägt sich mit Auswanderungsplänen. Außerdem gibt es in der Stadt Dohuk, nahe des jesidischen Heiligtums Lalesh, sehr viele Jesiden, die dort weitgehend ohne Unterdrückung oder Verfolgung leben. Eine Rückkehr nach Sindschar war bis Ende 2016 kaum möglich, da sich nach der Befreiung aus den Händen des IS im Stadtgebiet verschiedene Milizen bekämpfen.
Jesidische Binnenvertriebene (UNHCR Anfrage 04.03.2016)
Es wurde festgestellt, dass jesidische Binnenflüchtlinge (IDPs) im Allgemeinen mit weniger Beschränkungen in der KR-I konfrontiert sind, als Binnenflüchtlinge mit arabischer oder turkmenischer Volkszugehörigkeit. Beispielsweise wird es jesidischen Binnenvertriebenen und Zugehörigen anderer Minderheiten erlaubt, ihre Identitätspapiere zu behalten, während die Identitätspapiere von arabischen IDPs häufig konfisziert werden und dadurch ihre Bewegungsfreiheit weitgehend eingeschränkt wird. Desweiteren ist es für jedsidische Binnenflüchtlinge nicht erforderlich, Aufenthaltserlaubnisse in der KR-I zu besitzen. Jedoch wird von ihnen gefordert, ein Wohnungs-Schreiben von ihrem lokalen Asayish (kurdisch für Sicherheit) einzuholen, wenn sie eine Unterkunft in einer urbanen Gegend mieten wollen. Diese Wohnungserlaubnis wird ebenfalls benötigt, um sich beim Ministerium für Vertreibung und Migration (MoMD) registrieren zu können.
Die Sicherheitssituation in der Region Kurdistan bleibt relativ stabil. Die Sicherheitskräfte befinden sich in Alarmbereitschaft und ergreifen verschärfte Sicherheitsmaßnahmen, damit Angriffe seitens der ISIS und der ihr assoziierten Gruppierungen verhindert werden können. An den Grenzen der Region Kurdistan kommt es weiterhin zu bewaffneten Übergriffen zwischen den kurdischen Kräften und der ISIS, die es bewältigt, ihre Angriffe hauptsächlich gegen Regierungs- und Sicherheitseinrichtungen in Gebieten unter de facto, und in einem viel geringerem Ausmaß in Gebieten unter de jure Kontrolle der KRG (Regionalregierung Kurdistan) durchzuführen.
Ausweichmöglichkeiten (AA 07.02.2017)
Innerirakische Migration in die Region Kurdistan-Irak ist grundsätzlich möglich. Durch ein Registrierungsverfahren wird der Zuzug kontrolliert. Wer dauerhaft bleiben möchte, muss zur Asayisch-Behörde des jeweiligen Bezirks gehen und sich anmelden. Informationen über die Anzahl der Anträge und Ablehnungen werden nicht veröffentlicht. Durch den Zustrom von Binnenvertriebenen ist die Region Kurdistan-Irak an der Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit angelangt. Mehr als 900.000 Binnenflüchtlinge sind allein seit Anfang 2014 nach Kurdistan-Irak geflohen. Hinzu kommen mehr als 250.000 syrische Flüchtlinge. 2015 und 2016 sind weitere Flüchtlingslager entstanden. Auch wegen der eigenen Finanzkrise sieht sich die kurdische Regionalregierung nicht mehr in der Lage, weiter Flüchtlinge aufzunehmen.
Auch die Hauptstadt Bagdad (ca. 570.000) und in geringerem Maße der schiitisch geprägte Südirak (ca. 200.000) haben zahlreiche Binnenvertriebene aus umkämpften Gebieten aufgenommen. Aus Furcht vor der Infiltration von Terroristen sind die Grenzen von Bagdad, Kerbela und Babel für weitere Vertriebene fast vollständig geschlossen. Rückkehrer aus dem Ausland, die derzeit nicht in ihre noch vom IS kontrollierte Heimat zurückkehren können, haben daher kaum eine Möglichkeit, einen sicheren Aufnahmeplatz in Irak zu finden. Ausnahmen stellen ggf. Familienangehörige in nicht umkämpften Landesteilen dar.
IDPs und Flüchtlinge / Bewegungsfreiheit (LIB 24.08.2017 mit Stand 27.09.2017)
Die Vorstöße des IS in den Jahren 2014/2015 und die nachfolgenden militärischen Operationen gegen den IS haben zu Massenvertreibungen geführt (UNHCR 14.11.2016), während gleichzeitig humanitäre Hilfsorganisationen einen starken Rückgang internationaler Finanzhilfen beklagten (ÖB 12.2017). Die humanitäre Krise im Irak ist eine der größten und brisantesten in der Welt (OCHA 7.3.2017). Gemessen an der Gesamtzahl verfügt der Irak über die drittgrößte Flüchtlingspopulation der Welt (UNHCR 14.11.2016). Im Jahr 2014 waren über 2,5 Millionen Menschen vertrieben worden, im Jahr 2015 war eine weitere Million gezwungen, zu fliehen. Während des Jahres 2016 wurden abermals fast 700.000 Menschen vertrieben (OCHA 7.3.2017). Laut der International Organization for Migration (IOM) gibt es mit Stand Juli 2017 über 3,3 Millionen IDPs im Irak. Zurückgekehrt in ihre Heimatgebiete sind rund zwei Millionen (IOM 15.7.2017). Die Provinzen Anbar, Ninewah und Salahuddin sind besonders stark von den Vertreibungen betroffen (AA 7.2.2017). Fast 1,8 Millionen Iraker und Syrer sind in die KRI geflohen, in der geschätzte 20 Prozent der Bevölkerung Vertriebene sind (UNHCR 27.4.2017). Über 10 Mio. Menschen im Irak, also knapp ein Drittel der Bevölkerung, sind auf humanitäre Hilfe angewiesen (AA 7.2.2017).
Auf Grund der massiven finanziellen Schwierigkeiten kämpfen die irakische Regierung und die Regionalregierung Kurdistans auch auf Grund von Ressourcenproblemen mit der Bewältigung der IDP-Krise. Die irakischen Streitkräfte und die Streitkräfte der Regionalregierung tragen zur Unsicherheit der IDPs bei, indem sie sich zu wenig um den Schutz und die Unterstützung der vom Konflikt betroffenen IDPs kümmern, wodurch viele Vertriebene um ihr Leben kämpfen müssen, obwohl sie sich bereits in von der Regierung kontrollierten Gebieten befinden (MRG 22.12.2016). Die missliche Lage der IDPs wird zum Teil ausgenützt. So werden IDPs - Vorwürfen zufolge - teilweise von Milizen zwangsrekrutiert (auch Minderjährige). Die in Flüchtlingscamps untergebrachten IDPs haben häufig das Problem, dass ihre Bewegungsfreiheit drastisch eingeschränkt ist, sowie dass Milizen ihnen die Papiere abnehmen und für lange Zeit nicht zurückgeben. Ein zusätzliches Problem ist, dass sie nicht mit ihren Familien kommunizieren können, da ihnen die Mobiltelefone abgenommen werden (UNHCR 20.1.2017, vgl. Al-Jazeera 1.2.2017). Dadurch, dass den IDPs in bestimmten Flüchtlingslagern auch ihre Dokumente abgenommen werden, kämpfen diese mit zusätzlichen Problemen bei der Registrierung von personenstandsrechtlichen Ereignissen [z.B. Heirat, Geburt, etc.]. Viele IDPs haben auch das Problem, dass in (vormals) unter der Kontrolle des IS stehenden Gebieten zum Teil viele standesamtliche Aufzeichnungen zerstört wurden (AIO 12.6.2017). UNAMI berichtete, dass aus Konfliktzonen fliehende Zivilisten in manchen Gebieten von bewaffneten Gruppen und Milizen, die mit Unterstützung der ISF operieren, abgefangen werden und Drohungen, Einschüchterungen, physischer Gewalt, Entführungen, Zerstörung von Eigentum und Tötungen ausgesetzt sind (USDOS 3.3.2017).
Fokus Mossul
Weiter angefacht wurde die Flüchtlingskrise durch die Mossul-Offensive. Laut Zahlen der Regierung sind seit Beginn der Offensive im Oktober 2016 mehr als 875.000 Menschen aus Mossul geflohen, aus Westmossul alleine fast 700.000. Über 679.000 Menschen bleiben aus der Stadt vertrieben, die Mehrheit davon ist in Camps rund um Mossul untergebracht (UNHCR 27.6.2017). Die Zustände in den Flüchtlingslagern um Mossul sind geprägt vom Mangel an Nahrung und Medikamenten (BAMF 26.6.2017).
Die zuständigen Behörden in Mossul werden laut Ankündigungen den Zuzug - ebenso wie die Möglichkeit des Umzugs innerhalb Mossuls - massiv einschränken. Künftig besteht ein Rückkehrrecht nur dann, wenn man nachweisen kann, dass man vor Juni 2014 in Mossul gelebt hat und nur zur alten Adresse. Ausnahmen soll es lediglich bei Zerstörung der alten Wohnung geben (BAMF 26.6.2017). Bislang sind 79.000 Menschen - etwa 10 Prozent der Geflüchteten - in den Westen Mossuls zurückgekehrt. In den Osten der Stadt, in dem weniger zerstört wurde, sind rund 90 Prozent der Einwohner zurückgekehrt (UNOF 15.8.2017). Allerdings gibt es Berichte, dass die irakische Armee und andere lokale Sicherheitskräfte hunderte IDP-Familien zur Rückkehr nach Mossul zwingen. Auf diese Weise soll in den Lagern Platz für weitere IDPs geschaffen werden, die aus neu zurückeroberten Gebieten stammen (HRW 18.5.2017). Die Infrastruktur ist wesentlich stärker zerstört als gedacht, und die Zivilisten in den zuletzt vom IS gehaltenen Stadtteilen weisen in erheblichem Maße Anzeichen von Unterernährung und Mangelerkrankungen auf.
Staatliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit
Anm.: Die Regelungen bzgl. der Bewegungsfreiheit, insbesondere bezüglich der Zugangs- und Aufenthaltsbestimmungen für IDPs sind laufenden Änderungen und einem hohen Maß an Willkür unterworfen. Darüber hinaus berichten unterschiedliche Quellen bezüglich mancher Aspekte Unterschiedliches. Daher werden die unterschiedlichen
Quellen namentlich erwähnt und nebeneinander gestellt:
Laut Einschätzung des UNHCR sind die Möglichkeiten einer innerstaatlichen Fluchtalternative für IDPs durch die aktuellen Umstände, das Ausmaß innerstaatlicher Vertreibung, die ernstzunehmende humanitäre Krise, die zunehmenden interkommunalen Spannungen, die Beschränkungen bzgl. des Zuganges und/oder Aufenthaltes in fast allen Teilen des Landes und durch den steigenden Druck auf IDPs in ihre Heimatgebiete zurückzukehren, eingeschränkt (UNHCR 12.4.2017). Laut Amnesty International schränkten die Behörden des Irak sowie der KRI die Bewegungsfreiheit vertriebener arabischer Sunniten willkürlich und in diskriminierender Weise ein (AI 22.2.2017). Laut USDOS hatten IDPs während des Jahres 2016 (Berichtszeitraum des USDOS-Menschenrechtsberichtes) eingeschränkten Zugang zu Bagdad, Kirkuk, sowie zur Provinz Najaf und zu Gebieten, die unter der Kontrolle der KRG stehen. Hunderten sunnitisch-turkmenischen IDPs aus der Umgebung von Tal Afar wurde die Einreise nach Dohuk in der KRI verwehrt. Der Gouverneur von Dohuk äußerte Bedenken, dass es innerhalb dieser IDPs Elemente des IS gäbe, deren Anwesenheit in den IDP-Lagern in Dohuk zu jesidischen Racheattacken an ihnen führen könnte (USDOS 3.3.2017). Das Gesetz erlaubt es, dass bevollmächtigte Sicherheitskräfte die Reisefreiheit im Inland einschränken, Ausgangssperren verhängen, ein Gebiet absperren oder durchsuchen dürfen, sowie andere notwendige Sicherheits- und Militärmaßnahmen als Reaktion auf Sicherheitsbedrohungen und Angriffe ergreifen können. Es gab im Berichtszeitraum 2016 zahlreiche Berichte, dass Sicherheitskräfte, inklusive der ISF, der Peschmerga, sowie auch der PMF selektiv Bestimmungen bezüglich Aufenthaltsgenehmigungen durchsetzten, um den Zugang von Personen in befreite, unter ihrer Kontrolle stehende Gebiete zu limitieren. UNAMI und das UN Office of the High Commissioner for Human Rights erhielten mehrere Berichte, dass Behörden von Kirkuk sunnitisch-arabischen IDPs aus den Provinzen Salahuddin und Ninewah den Zugang in die Provinz Kirkuk verwehrten (USDOS 3.3.2017).
Das deutsche Auswärtige Amt berichtete am 7.2.2017, dass auch die Hauptstadt Bagdad (ca. 570.000) und in geringerem Maße der schiitisch geprägte Südirak (ca. 200.000) zahlreiche Binnenvertriebene aus umkämpften Gebieten aufgenommen haben. Aus Furcht vor der Infiltration von Terroristen sind die Grenzen von Bagdad, Kerbela und Babel für weitere Vertriebene fast vollständig geschlossen. (AA 7.2.2017).
Laut UNHCR wurden in fast allen Teilen des Landes für IDPs verschärfte Zugangs- und Aufenthaltsbeschränkungen implementiert. Zu den verschärften Maßnahmen gehören die Notwendigkeit des Vorweisens eines Sponsors (Bürgen), des Registrierens bei lokalen Behörden, sowie Sicherheitsüberprüfungen durch mehrere verschiedene Sicherheitsbehörden. Diese Maßnahmen wurden zwar damit begründet, dass der Irak mit zahlreichen sicherheitsrelevanten Herausforderungen konfrontiert ist, gleichzeitig weisen Berichte jedoch darauf hin, dass es häufig zu diskriminierenden Vorgehensweisen bezüglich der Gewährung oder Nicht-Gewährung des Zuganges oder Aufenthaltes zu/in den vergleichsweise sichereren Gebieten kommt (UNHCR 12.4.2017). Zugangs- und Aufenthaltsbedingungen variieren von Provinz zu Provinz und beinhalten nicht nur Sicherheits-Screenings, sondern hängen Berichten zufolge auch vom persönlichen Profil der IDPs ab, wie z.B. vom ethnisch-konfessionellen Hintergrund, dem Herkunftsort oder der Zusammensetzung der Familie der jeweiligen Person (UNHCR 12.4.2017, vgl. AI 22.2.2017). Selbst Menschen mit ernsthaften gesundheitlichen Problemen wurde der Zugang verwehrt (UNHCR 14.11.2016). Laut Amnesty International mussten zehntausende IDPs in Lagern ausharren und hatten keinen Zugang zum Arbeitsmarkt oder zu grundlegenden Versorgungsleistungen, weil sie vor Ort keine Bürgen hatten, die ihnen die notwendigen offiziellen Aufenthaltsgenehmigungen für die Städte besorgen konnten (AI 22.2.2017).
Ad Sponsorsystem: Die Bedingung des Vorweisens eines Sponsors basiert im Irak auf keinem Gesetz, wird nicht offiziell verkündet, und deren Implementierung ist ständigen Änderungen unterworfen. Ob und auf welche Art diese Bedingung zur Anwendung kommt, ist von Checkpoint zu Checkpoint und von Beamten zu Beamten unterschiedlich. Selbst dann, wenn die betreffende Person alle diesbezüglichen Bedingungen erfüllt, ist der Zugang nicht garantiert. Wenn das Vorweisen eines Sponsors verlangt wird, die betreffende Person jedoch keinen vorweisen kann, führt dies regelmäßig dazu, dass die Person verhaftet, oder unter Druck gesetzt wird, in die Region zurückzukehren, in der sie verfolgt wurde (UNHCR 12.4.2017). Das Erfordernis eines Sponsors und der Umstand, dass weder ihr Geltungsumfang noch die anzuwendenden Verfahren eindeutig geregelt sind, erhöhen die Gefahr, dass Binnenvertriebene ausgebeutet und misshandelt werden, einschließlich sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt, da einige Bürgen Geld oder "Dienste" für die Übernahme einer Bürgschaft verlangen (UNHCR 14.11.2016).
Ebenfalls laut UNHCR betreffen Beschränkungen bezüglich des Zugangs und Aufenthaltes zu/in einer Region insbesondere sunnitische Araber und sunnitische Turkmenen aus (damals oder aktuell) vom IS kontrollierten Gebieten, die vorgeblich als Sicherheitsrisiko wahrgenommen werden, und denen häufig auf der Basis von breit ausgelegten und diskriminierenden Kriterien der Zugang oder der Aufenthalt zu/in vergleichsweise sicheren Gebieten verwehrt wird. Im Gegensatz dazu gibt es im Land für Schiiten, Kurden und Mitglieder religiöser/ethnischer Minderheiten in den überwiegenden Fällen keine außertourlichen Anforderungen für den Zugang oder den Aufenthalt (mit Ausnahme der Provinz Erbil) (UNHCR 12.4.2017).
Die Anforderungen für jene Personen, die in Bagdad wohnhaft werden wollen, unterscheiden sich Berichten zufolge (auch bezüglich der geforderten Dokumente) je nach Viertel und dem dafür zuständigen Beamten (Hierbei können auch die Mukhtars - die für die Checkpoints der ISF-Milizen zuständigen Milizenangehörigen eine Rolle spielen). Grundsätzlich sind die Anforderungen, um in Bagdad wohnhaft werden zu können, in Bezirken mit einer höheren Konzentration von IDPs strikter (vorwiegend die sunnitischen Viertel wie Adhamiyah, Karkh, Abu Ghraib und die Mahmoudiyah-Bezirke). Personen, die aus (damals oder aktuell) vom IS kontrollierten Gebieten oder aus von Konflikten betroffenen Gebieten stammen und in einem dieser Viertel Bagdads wohnhaft werden wollen, müssen grundsätzlich kumulativ drei Anforderungen erfüllen. Anm.: Diese können mit zusätzlichen weiterführenden Informationen aus dem Originaldokument des UNHCR (S.4) entnommen werden (UNHCR 12.4.2017).
Bei der Benützung von Straßenverbindungen (z.B. vom Bagdader Flughafen nach Bagdad City, oder zwischen den Provinzen) können Iraker mit bestimmtem ethnischen oder religiösen Hintergrund bei Checkpoints Opfer diskriminierender Behandlung werden (einschließlich willkürlicher Verhaftungen aufgrund von pauschalisierendem und diskriminierendem Profiling) (UNHCR 12.4.2017).
Personen werden immer häufiger unter Druck gesetzt, in die Regionen ihrer Herkunft zurückzukehren, wenn diese durch die ISF oder die kurdischen Kräfte vom IS zurückerobert wurden (UNHCR 12.4.2017).
Anm.: In dem hier zitierten Dokument finden sich weiterführende detaillierte Informationen zu den Einschränkungen des Zuganges/Aufenthaltes zu den / in den jeweiligen Provinzen Iraks. Die diesbezüglichen Bestimmungen und unterschiedlichen Handhabungen in der Praxis sind regelmäßigen Änderungen unterworfen. Der Inhalt des Dokuments gibt die Situation wieder, die sich dem UNHCR am 12. April 2017 präsentierte (UNHCR 12.4.2017). Auf Grund des Umfanges dieser Informationen wurde davon abgesehen den gesamten Inhalt des Dokumentes in das Länderinformationsblatt zu übernehmen.
Zugang zur Kurdenregion:
Die dänische Einwanderungsbehörde (Danish Immigration Service, DIS) schreibt in ihrem im April 2016 veröffentlichten Fact-Finding-Mission-Bericht, dass mehrere befragte Quellen angaben, dass es möglich sei, ohne Bürgschaft in die KRI einzureisen. Man brauche jedoch in der Praxis eine solche Bürgschaft, um dort zu arbeiten oder sich niederzulassen. Laut IOM würden irakische Bürger bei der Ankunft an einem Checkpoint einer Landgrenze zu Kurdistan oder am Flughafen eine einwöchige Aufenthaltserlaubnis erhalten. Ein westlicher Diplomat hat angegeben, dass man keine Bürgschaft brauche, um in die KRI einzureisen, irakische Bürger aber eine Bürgschaft bräuchten, um Arbeit zu finden. Zwei Quellen gaben an, dass seit Ende 2014 die Behörden für Binnenflüchtlinge eine Bürgschaftspflicht durchgesetzt hätten. Laut UNHCR könne der Zugang zur KRI für Binnenflüchtlinge sehr schwierig sein, wenn sie über keine Bürgschaft oder ein bestimmtes ethnisch/religiöses Profil sowie Verbindungen zu Regierungsbeamten oder Personen, die Kontakte zu lokalen Sicherheitskräften haben, verfügen würden. Auch in den zwischen der Zentralregierung und der kurdischen Regionalregierung umstrittenen Gebieten würde eine Art Bürgschaft verlangt. Der westliche Diplomat habe hingegen angegeben, dass man als irakischer Binnenflüchtling keine Bürgschaft benötige. Laut Angaben des International Rescue Committee gibt es keine Bürgschaftspflicht für IDPs, die in den Flüchtlingslagern leben würden, aber sehr wohl für IDPs, die außerhalb der Lager leben würden (DIS 12.4.2016).
Laut USDOS-Menschenrechtsbericht schränkte die KRG im Berichtszeitraum 2016 die Bewegungsfreiheit innerhalb der Gebiete, die sie verwaltet ein, indem sie laut eigenen Angaben "notwendige Sicherheitsmaßnahmen" ergriff. Die Behörden verlangten von Nicht-Einwohnern der KRI das Einholen einer Genehmigung, die einen zeitlich beschränkten Aufenthalt ermöglicht. Diese Genehmigungen konnten in den meisten Fällen erneuert werden. Von den irakischen Bürgern, die aus Gebieten außerhalb der KRI stammten und die versuchten, sich eine solche Genehmigung für den Aufenthalt in den von der KRG kontrollierten Gebieten zu beschaffen, wurde das Vorweisen eines "Bürgen", der innerhalb der Region wohnt, verlangt (USDOS 3.3.2017). Die Behörden der KRG schränkten die Bewegungsfreiheit in einigen Gegenden stärker ein, als in anderen. Gemäß Vereinten Nationen und internationalen Hilfsorganisationen war der Zugang in die KRI für IDPs und irakische Flüchtlinge, die versuchten zurückzukehren, stärker oder schwächer eingeschränkt, je nach Ort des Checkpoints und je nach ethno-konfessionellem Hintergrund der Vertriebenen. Es gab auch Berichte, dass Checkpoints in die KRI manchmal für längere Zeiten geschlossen waren. Beamte verwehrten Personen, die sie als Sicherheitsrisiko wahrnahmen, den Zutritt in die Region. In den überwiegenden Fällen gewährten die Beamten jenen IDPs, die Mitglieder einer Minderheitengruppe sind, Zutritt in die Region, es kam allerdings gelegentlich zu in die Länge gezogenen Sicherheitschecks. Für Männer, insbesondere (arabische) Männer ohne Familie war es schwieriger, in die KRI zu gelangen (USDOS 3.3.2017).
Laut Auswärtigem Amt ist die inner-irakische Migration in die Region Kurdistan-Irak grundsätzlich möglich. Durch ein Registrierungsverfahren wird der Zuzug kontrolliert. Wer dauerhaft bleiben möchte, muss zur Asayisch-Behörde des jeweiligen Bezirks gehen und sich anmelden. Informationen über die Anzahl der Anträge und Ablehnungen werden nicht veröffentlicht (AA 7.2.2017). Laut Human Rights Watch gestatten die Behörden den IDPs nicht, sich in der KRI und den umstrittenen Gebieten frei zu bewegen. Von IDPs wurde verlangt, dass sie in Camps verbleiben, mit ernsthaften Einschränkungen der Bewegungsfreiheit (HRW 12.1.2017). Beispielsweise gewährt keines der Lager, in denen die aus Mossul Geflohenen leben, mit der Ausnahme von einem, das Recht auf Bewegungsfreiheit, so dass die IDPs nach ihrer Befreiung laut Human Rights Watch- Irakexpertin Belkis Wille, nun in "Open Air-Gefängnissen" festsitzen, teilweise mit Telefonverbot und ohne Möglichkeit mit ihren Angehörigen Kontakt aufzunehmen (Al-Jazeera 1.2.2017). Human Rights Watch (HRW) berichtet davon, dass sowohl die irakischen als auch die Sicherheitsbehörden der Autonomen Region Kurdistan widerrechtlich die Bewegungsfreiheit von Binnenflüchtlingen in Lagern in der Nähe von Kirkuk einschränken. Den IDPs ist es nicht erlaubt, die Lager zu verlassen. IDPs in den Lagern Nazrawa und Laylan haben gegenüber HRW erwähnt, dass sie das Lager nur verlassen könnten, wenn sie einen Bürgen finden würden. Diese Einschränkungen haben für die Lagerbewohner den Zugang zu medizinischer Versorgung, Arbeit und Verwandten eingeschränkt (HRW 21.10.2016).
Zu den von den kurdischen Sicherheitskräften kontrollierten Gebieten wurde auch berichtet, dass sunnitisch-arabische Familien von kurdischen Sicherheitskräften zwangsweise umgesiedelt und aus ihren Heimatorten vertrieben wurden. Angeblich erfolgten die Umsiedlungen zur Sicherheit der Betroffenen, doch wurden diese nunmehr in unmittelbarer Nähe der Front angesiedelt (UNHCR 14.11.2016).
Insgesamt hat die zunehmende Anwesenheit und Macht der Milizen eine Reihe von unmittelbaren Folgen für die jeweilige Bevölkerung. Sie bewirkt, dass ihre Möglichkeiten, sich fortzubewegen, oder auch ihre geschäftlichen Tätigkeiten fortzusetzen, jetzt vom Wohlwollen der bewaffneten Milizen abhängen. Um in diesen von Milizen kontrollierten Gebieten leben zu können, müssen die Menschen eine Art von Beziehung zu / Verpflichtung gegenüber diesen Milizen eingehen. Das bedeutet, dass - wenn man reisen / sich fortbewegen will - man sich der Herausforderung stellen muss, mehrere Checkpoints (zum Teil von ganz unterschiedlichen Milizen, teilweise mit unterschiedlichen konfessionellen und ethnischen Identitäten) durchqueren muss. Dies stellt eine massive Abschreckung dar, von A nach B zu fahren, insbesondere auf Grund des tatsächlichen Risikos, das mit einem solchen Unterfangen verbunden ist (Lattimer 26.4.2017).
Auslandsreisen
Die Regierung verlangt von Bürgern, die ausreisen wollen, Ausreisgenehmigungen. Diese Bestimmung wurde jedoch nicht routinemäßig umgesetzt (USDOS 3.3.2017).
IDP-RückkehrerInnen und "quasi-staatliche" Einschränkungen der Bewegungsfreiheit
Laut der International Organization for Migration (IOM) sind es mit Stand Juli 2017 rund zwei Millionen IDPs, die in ihre Heimatgebiete zurückgekehrt sind (IOM 15.7.2017).
Laut REACH, einer Initiative der NGOs IMPACT und ACTED sowie des operativen UN-Satellitenanwendungsprogramm UNOSAT, gibt es im Irak im Allgemeinen eine Präferenz von Binnenvertriebenen, in ihre Herkunftsregionen zurückzukehren, manche würden jedoch noch nicht zurückkehren, da sie bezüglich des Schutzes ernsthaft besorgt seien, und es beim Zugang zu Basisdienstleistungen Probleme gäbe (REACH 12.2016). In den vom IS befreiten Gebieten muss eine Grundversorgung nach Räumung der Kampfmittel erst wiederhergestellt werden, da einige Städte weitgehend zerstört sind (AA 7.2.2017). Den diesbezüglich größten Bedarf gibt es in erst vor kurzem zurückeroberten Gebieten mit schweren Schäden an der Infrastruktur, beispielsweise in Fallujah und Ramadi. Hingegen sind in Gebieten wie Tikrit und Muqdadiya, in denen es bereits seit mehr als einem Jahr Rückkehrer gibt, deutliche Verbesserungen beim Zugang zu Basisdiensten und beim Wiederaufbau von grundlegender Infrastruktur zu sehen. Eine grundsätzliche Sorge betrifft jedoch den Mangel an ausreichenden Möglichkeiten, den Lebensunterhalt zu bestreiten, was wiederum den Zugang zu Basisdiensten blockiert (REACH 12.2016). Die Stadt Tikrit ist insofern nennenswert - und noch am ehesten als Erfolgsmodell zu sehen (WP 23.11.2016), als sie eine unerwartete Wendung erlebt hat. Nachdem die Popular Mobilization Forces nach der Rückeroberung in einem Racheakt zunächst ganze Stadtteile niederbrannten und andere Menschenrechtsverletzungen begingen (MOI 11.2.2016), sind inzwischen die meisten der ursprünglichen Einwohner Tikrits zurückgekehrt. Allerdings ist der Großteil der Stadt zerstört und die Infrastruktur noch nicht wieder vollständig hergestellt. Auch ist auf lange Sicht der oben erwähnte Erfolg fraglich, da keine ausreichenden finanziellen Mittel vorhanden sind, um das wiederaufzubauen, was im Zuge des Konfliktes zerstört wurde - die irakische Regierung hat im Zuge des Konfliktes innerhalb kürzester Zeit fast die Hälft ihres Einkommens verloren, und das während sie große Mengen an finanziellen Mitteln für militärische Offensiven aufbringen muss (WP 23.11.2016). Neben Tikrit sind auch Viele in die Städte Fallujah (Anm.: s. dazu auch weiter unten in diesem Abschnitt) und Ramadi zurückgekehrt, in denen ebenfalls wie in Tikrit v.a. Sunniten leben. An Orte zurückzukehren, an denen Sunniten in Nachbarschaft mit Schiiten oder Kurden gelebt hatten, ist für Sunniten besonders schwierig, und Hunderttausenden war dies nicht möglich, obwohl der IS dort bereits verdrängt wurde. Sunniten leiden unter dem Pauschalverdacht, mit dem IS zu sympathisieren. In manchen Orten, die die Popular Mobilization Forces vom IS zurückerobert hatten, werden überhaupt keine ehemaligen Ortseinwohner zurückgelassen. Auch Stammeskonflikte oder Rachefeldzüge können dabei eine Rolle spielen (WP 23.11.2016). Die Sicherheit von Rückkehrern ist also von einer Vielzahl von Faktoren abhängig - u. a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort (AA 7.2.2017). Darüber hinaus müssen sich Rückkehrer Sicherheitsüberprüfungen unterziehen und von verschiedenen lokalen Akteuren in den Rückkehrgebieten - einschließlich der Streitkräfte, die das betreffende Gebiet kontrollieren, örtlicher Behörden und Stämme - eine Rückkehrerlaubnis einholen. Dabei kommen die oben erwähnten Diskriminierungen ebenfalls zum Tragen. In der Provinz Babil beispielsweise gibt es derzeit verschiedene Versuche, die Demographie zugunsten der schiitischen Bevölkerung zu verschieben. So wird einer erheblichen Anzahl an Binnenflüchtlingen sunnitischen Glaubens auch mehrere Jahre nach der Rückeroberung vom IS die Rückkehr in die Provinz verwehrt und sunnitischer Zuzug generell unterbunden (BAMF 17.7.2017). Nicht nur die PMF, sondern auch Peschmerga-Kämpfer und andere kurdische Sicherheitskräfte verwehrten zehntausenden arabischen Bewohnern der KRI, die im Zuge des Konflikts vertrieben worden waren, eine Rückkehr in ihre Heimat (AI 22.2.2017, vgl. AA 7.2.2017), und es kam im Zuge dessen auch zur Zerstörung von Häusern vermeintlicher IS-Kollaborateure (AA 7.2.2017). Auch Turkmenen und anderen ethnoreligiösen Gruppen wurde eine Rückkehr von Seiten der Peschmerga oder der PMF verwehrt (USDOS 10.8.2016). In einigen Fällen wurden die kurdischen Sicherheitskräfte und die mit den PMF verbündeten Streitkräfte sogar beschuldigt, nicht nur einzelne Häuser, sondern ganze sunnitisch-arabische und sunnitisch-turkmenische Dörfer vorsätzlich im Rahmen von Vergeltungsmaßnahmen oder zur Verhinderung einer Rückkehr zerstört zu haben, um ihre Kontrolle über das Gebiet zu konsolidieren (UNHCR 14.11.2017). Das Bemühen bestimmter Akteure, das Rückkehren von IDPs zu verhindern, hat verschiedenste Gründe, v. a. aber auch jenen, dass es oft im Interesse dieser Gruppen liegt, das Gebiet selbst für sich in Anspruch zu nehmen, es einzunehmen, oder als Druckmittel für zukünftige Streitigkeiten bzw. Verhandlungen über territoriale "Tauschgeschäfte" benutzen zu können (Lattimer 26.4.2017).
Zum Teil entscheiden sich Binnenvertriebene dennoch für eine Rückkehr, weil sie in den Gebieten, in die sie geflüchtet sind, unter schwierigen und häufig extrem prekären Umständen leben und Unterbringung, Gesundheits-, Nahrungsmittel- und Wasserversorgung notdürftig und oft unzureichend sind. Aus Bagdad wird berichtet, dass Binnenvertriebene aus Anbar aufgrund von Sicherheitsbedenken zurückkehren, insbesondere nach Angriffen auf Al Salam, das drittgrößte Binnenvertriebenenlager in Bagdad (UNHCR 14.11.2016).
Die Lage in den rückeroberten Gebieten ist zudem vor allem durch IEDs (Improvised explosive device) und Minen stark gefährdet sowie durch logistische Schwierigkeiten, mangelnde Schulen, eine allgemeine prekäre Sicherheitslage sowie Konflikte zwischen Milizen geprägt (ÖB 12.2016). Der IS versieht Häuser, öffentliche Plätze und Straßen in den von ihm aufgegebenen Gebieten regelmäßig mit Minen und , denen Rückkehrer zum Opfer fallen (UNHCR 14.11.2016). Das Beschlagnahmen und Zerstören des Besitzes von Angehörigen ethnischer und religiöser Minderheiten und die Inbesitznahme dieses Eigentums, auch durch die vormaligen Nachbarn, machen (neben dem Problem, dass es in diesen Gebieten kaum Möglichkeiten zur Sicherung der Existenzgrundlage gibt) eine Rückkehr in befreite Gebiete für viele Angehörige von Minderheiten oft unzumutbar (ÖB 12.2016; vgl. UNHCR 14.11.2016). Fallujah beispielsweise war vor etwa einem Jahr vom IS zurückerobert worden. Die dortigen Stabilisierungsbemühungen schreiten fort - etwa 60 Prozent der Stadtbewohner haben wieder Wasserzugang. Gleichwohl sind die Wohngebiete noch nicht im selben Maße von Minen geräumt, und die Stadt ist nach wie vor regelmäßig Ziel von Terrorangriffen des IS (BAMF 26.6.2017). Die irakische Regierung hat laut Berichten Schwierigkeiten, ein umfassendes und wirksames Machtmonopol zu errichten, und die Möglichkeiten des Staates und seiner Institutionen, das Recht durchzusetzen und seine Bürger zu schützen, sind weiterhin schwach ausgeprägt (UNHCR 14.11.2016). Spannungen und Ausbrüche von Gewalt wurden auch im Zusammenhang mit den Machtkämpfen verschiedener Akteure in ehemals vom IS kontrollierten Gebieten gemeldet, insbesondere in Gebieten, die sowohl von der Zentralregierung als auch von der Regionalregierung von Kurdistan (KRG) beansprucht werden ("umstrittene Binnengrenzgebiete") und v.a. in ethnisch gemischten Provinzen (UNHCR 14.11.2106; vgl. USDOS 3.3.2017).
Einschränkungen der Bewegungsfreiheit durch den IS
Der IS beschränkte laut USDOS im Berichtszeitraum 2016 die Bewegungsfreiheit, insbesondere im Westen und Norden des Landes. Der IS verwehrte Bürgern die Ausreise aus den Städten Fallujah, Ramadi, Mossul und anderen Orten, sofern sie nicht Bestechungsgelder zahlten, Familienmitglieder als "Pfand" zurückließen, oder zustimmten, Grundbesitz oder Eigentum, das sie in der jeweiligen Stadt besaßen zu überlassen (USDOS 3.3.2017).
Sozioökonomische und Menschenrechtslage im Kurdischen Autonomiegebiet und den von kurdischen Streitkräften kontrollierten Gebieten (LIB 24.08.2017 mit Stand 27.09.2017)
In der KRI gab es bedeutend weniger Berichte von Morden oder konfessioneller Gewalt als im restlichen Land (USDOS 3.3.2017). Seit 2003 arbeitetet die KRG (Kurdish Regional Government) daran, Irakisch-Kurdistan als den besseren, d.h. demokratischeren Teil des Irak darzustellen. Tatsächlich ist der Begriff "Demokratie" jedoch irreführend: Die beiden großen Parteien KDP und PUK haben untereinander die Einflussgebiete aufgeteilt - sowohl territorial innerhalb der kurdischen Region, als auch was die jeweiligen politischen Einflussbereiche anbelangt. Während die KDP den kurdischen Präsidenten stellt, ist die PUK traditionell für die Politik in Bagdad verantwortlich. In diesem Kontext der Aufteilung von Machtsphären hat die PUK allerdings in den vergangenen Jahren erheblichen Einfluss an Goran abgeben müssen. Paradoxerweise hat die Aufteilung zwischen KDP und PUK/Goran in den vergangenen Jahren die Aufrechterhaltung gewisser demokratischer Mindeststandards bzw. eine gewisse Pluralität möglich gemacht: Was unter der KDP nicht geäußert werden kann, ist vielleicht unter Herrschaft der PUK sagbar - und umgekehrt. Die sogenannte "Präsidentenkrise" hat allerdings zu einer erheblichen Ernüchterung hinsichtlich der politischen Kultur in Irakisch-Kurdistan geführt (Savelsberg 8.2017). (Anm.: Mas'ud Barzanis zweite Amtszeit lief im Jahr 2013 aus, er blieb aber weiterhin im Amt, s. dazu Abschnitt Politische Lage). Gleichzeitig führt diese innere Fragmentierung der von kurdischen Streitkräften kontrollierten Gebieten aber auch dazu, dass die Menschen zwischen den Rivalitäten und Konflikten der beiden Seiten "gefangen" sind. Kurdistan ist auch Schauplatz regelmäßiger oppositioneller Demonstrationen und Schauplatz von politischem Aktivismus, wobei es dabei regelmäßig zu Verhaftungen von Aktivisten (insbesondere von jesidischen Aktivisten) und Journalisten kommt (Wille 26.4.2017). Auf die auf Grund der sich zuspitzenden Wirtschaftskrise lauter werdende Kritik reagiert Barzanis KDP mit Repression (TP 23.9.2016).
Folgende weiteren Eingriffe in die Menschenrechte wurden dokumentiert:
Es gab Berichte, dass die KRG-Behörden Minderheiten wie z.B. Turkmenen, Araber, Jesiden, Schabak und Christen diskriminieren, sowohl in den umstrittenen Gebieten als auch in den drei Provinzen des "offiziellen" Kurdistans (USDOS 3.3.2017). Jesiden, Christen und sunnitische Anführer gaben weiterhin an, dass sie Schikanen und Misshandlungen durch die Peschmerga der KRG und die Asayisch ausgesetzt waren (USDOS 10.8.2016). Obwohl Araber im Irak die Mehrheit stellen, sind sie in Kirkuk eine Minderheit. Arabische Einwohner Kirkuks beschuldigen die Sicherheitskräfte der KRG regelmäßig, dass diese auf arabische Gemeinden abzielen würden. Arabische Bewohner Kirkuks behaupten, dass die örtlichen Behörden Terrorangriffe als Vorwand dafür benutzen, um über sie Ausgangssperren zu verhängen, und Araber zu verhaften, die keine Aufenthaltsgenehmigungen besitzen (USDOS 3.3.2017). Die Gemeinden der religiösen Minderheiten beschweren sich, dass die Gesetze der KRG zwar nicht explizit diskriminierend sind, sie jedoch nicht auf eine Art und Weise durchgesetzt werden, die Minderheiten schützen würde. Die religiösen Minderheiten sind auch auf Grund der zunehmenden Verbreitung von Extremismus besorgt, sowohl in den schiitischen als auch den sunnitischen Gemeinden. Auch wird berichtet, dass kurdische Gerichte die kurdische Bevölkerung bevorzugen (USCIRF 26.4.2017). Anm.: Bezüglich der Inhaftierung großer Zahlen von Terrorverdächtigen und bzgl. damit in Zusammenhang stehender Foltervorwürfen s. Abschnitt "Folter und unmenschliche Behandlung".
Die Streitkräfte der Regionalregierung tragen insgesamt (ebenso wie auch die irakischen Streitkräfte) zur Unsicherheit der IDPs bei, indem sie sich zu wenig um den Schutz und die Unterstützung der vom Konflikt betroffenen IDPs kümmern, wodurch viele Vertriebene um ihr Leben kämpfen müssen, obwohl sie sich bereits in von der [kurdischen Regional-] Regierung kontrollierten Gebieten befinden (MRG 22.12.2016).
Die KDP profitiert massiv von der Zusammenarbeit mit dem US-Militär und dem militärischen Training an amerikanischen Waffen. Die KDP setzt diese Kenntnisse jedoch nicht nur ein, um den IS zu bekämpfen, sondern auch, um in Gebiete, die sie vom IS zurückerobert hat, vorzustoßen und die arabische Bevölkerung von dort zu vertreiben. Dies passiert in jenen Gebieten, die offiziell "umstrittene Gebiete" genannt werden, die die kurdischen Führer seit langem für sich reklamieren und von denen sie nun hoffen, sie annektieren zu können (ICG 31.5.2017), bzw. Anstrengungen unternehmen, um diese religiös und ethnisch diversen Gebiete zu "kurdifizieren" (USCIRF 26.4.2017). In den Gebieten, die vom IS zurückerobert wurden, haben sich kurdische Sicherheitskräfte Berichten zufolge an Massenvergeltungsmaßnahmen gegen sunnitisch-arabische und turkmenische Einwohner und Rückkehrer aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermuteten Kollaboration oder Verbindung mit dem IS beteiligt. Zu den gemeldeten Rechtsverletzungen zählen willkürliche Verhaftung, Entführung, Verschwindenlassen von Personen, außergerichtliche Hinrichtung, Zwangsvertreibung, Plünderung, Inbrandsetzung und Zerstörung von Häusern, Geschäften und Moscheen und in einigen Fällen die vorsätzliche Zerstörung ganzer Dörfer (UNHCR 14.11.2016).
Die Situation derjenigen Menschen, die in Irakisch-Kurdistan Zuflucht gefunden haben, stellt sich unterschiedlich dar, je nachdem ob es sich um Binnenvertriebene oder um Flüchtlinge aus Syrien, um Kurden oder Araber, um Geschäftsleute oder Mittellose, um Christen, Jeziden oder sunnitische Muslime handelt.
Syrische Flüchtlinge: Bei denjenigen Flüchtlingen, die aus Syrien nach Irakisch-Kurdistan gekommen sind, handelt es sich vor allem um Kurden - viele von ihnen sind vor den Repressionen der Partei der Demokratischen Union (PYD), der syrischen Schwesterpartei der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), geflohen. Eine Studie aus dem Frühjahr 2015 identifiziert die folgenden Aspekte als die größten Probleme derjenigen Flüchtlinge, die außerhalb von Flüchtlingscamps lebten: Schulden, deren Höhe das monatliche Einkommen überschreiten; hohe Erwerbstätigkeit von Kindern (16 Prozent); unsichere Trinkwasserversorgung bei mehr als 45 Prozent der Befragten; 16 Prozent der befragten Haushalte hatten keinerlei Einkommen; 12 Prozent der Haushalte verfügten nicht über ausreichend Nahrung; 54 Prozent aller Kinder im Schulalter gingen nicht zur Schule; die Impfrate gegen Polio (Kinderlähmung) lag bei nur 70 Prozent. Auch unter in den Lagern lebenden Flüchtlingen war die Rate der verschuldeten Haushalte mit insgesamt 58 Prozent hoch und die Schulbesuchsrate mit 71 Prozent vergleichsweise gering - insgesamt jedoch deutlich höher als bei den außerhalb der Camps lebenden Flüchtlinge. Ferner gehört auch in den Lagern Wasser zu den raren
Gütern: 37 Prozent der befragten Haushalte gaben an, dass ihr Trinkwasser nicht sicher sei, mehr als 20 Prozent, dass nicht ausreichend Trinkwasser erhalten hätten. Zudem gaben 60 Prozent der Haushalte in den Lagern an, aufgrund der wachsenden Konkurrenz immer schlechteren Zugang zum Arbeitsmarkt zu haben. Die Flüchtlinge aus Syrisch-Kurdistan machen die Erfahrung, dass auch in Irakisch-Kurdistan - das vielen von ihnen zuvor als demokratische Alternative erschien - ähnliche Strukturen herrschen wie in Syrien (Savelsberg 8.2017).
Binnenflüchtlinge (IDPs): Grundsätzlich erfahren irakische IDPs in den kurdischen Gebieten ähnliche Schwierigkeiten, wie sie weiter oben bereits für syrisch-kurdische Flüchtlinge beschrieben wurden. Zusätzlich sind arabisch-sunnitische IDPs jedoch mit Problemen konfrontiert, die kurdische - etwa jesidische - IDPs aus dem Irak nicht gegenwärtigen müssen: Es herrscht die Angst der Bewohner Kurdistans vor dauerhaften demographischen Veränderungen in der kurdischen Region. Darüber hinaus besteht ein weiteres Problem arabischer IDPs darin, dass ihnen oftmals unterstellt wird, islamistischen Gruppen nahe zu stehen. Abgesehen von Festnahmen können Restriktionen gegenüber sunnitisch-arabischen IDPs auch in Beschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit bestehen (s. dazu auch die Abschnitte zu Menschenrechtslage und zu IDPs und Flüchtlingen/Bewegungsfreiheit). Arabische Sunniten sind somit aufgrund ihrer ethno-religiösen Herkunft verstärkt der Gefahr politischer Verfolgung ausgesetzt - arabische Christen trifft dieses Vorurteil hingegen in der Regel nicht. Sie werden von der irakisch-kurdischen Bevölkerung eher als Angehörige der (christlichen) Minderheit denn als Araber gesehen und daher weniger als Gefahr wahrgenommen. Ähnliches gilt für jesidische IDPs, die vor allem im Anschluss an die Einnahme des Sinjar durch den IS im Sommer 2015 in die kurdische Region geflohen sind - jedenfalls dann, wenn sie sich weder als Araber definieren noch mit der PKK kooperieren, die seit eben jenem Sommer 2015 im Sinjar militärisch vertreten ist (Savelsberg 8.2017). Jesidische IDPs leben in Sheikhan und der KRI in prekären Verhältnissen. Sie finden keine Arbeit, weil sie dort von ihren traditionellen Lebensgrundlagen abgeschnitten sind (Lattimer 26.4.2017). Das Auswärtige Amt berichtet, dass christliche IDPs, die in der KRI und den von Kurden kontrollierten Gebieten Zuflucht gefunden haben, derzeit unter schwierigen materiellen und sozialen Bedingungen als Binnenvertriebe (zumeist in der kurdischen Provinz Dohuk) leben würden, es jedoch keine Anzeichen für staatliche Diskriminierung gäbe (AA 7.2.2017). Die US Commission on International Religious Freedom berichtet über die Situation der christlichen und jesidischen IDPs Folgendes: Christliche Gemeinden erkennen das Bemühen der KRG an, sie vor dem IS zu beschützen und sie zu unterstützen. Die KRG hat christlichen Gemeinden sogar finanzielle Mittel zur Errichtung von Kirchen zur Verfügung gestellt. Allerdings, jenseits der bevölkerungsreichen Zentren und im Besonderen in Dohuk haben sich assyrische Gemeinden darüber beklagt, dass Kurden ihnen ihr Land enteignet hätten, manchmal mit stillschweigendem Einverständnis der kurdischen Behörden. Außerdem sei ihnen bei dem Versuch zu demonstrieren, das Passieren von Checkpoints verweigert worden. Die Jesiden im Kurdengebiet Iraks berichten von Diskriminierung durch die KRG-Behörden. Viele geben an, dass sie unter Druck gesetzt werden, sich als Kurden zu betrachten. Es gab auch Berichte, dass die Peschmerga jesidische Dörfer niedergebrannt, jesidische Aktivisten und politische Führer verhaftet und den Zugang von humanitären Hilfsorganisationen auf jene Personen beschränkt haben, die der KRG nahestehen (USCIRF 26.4.2017). Viele der seit 2014 in die Region Kurdistan strömenden IDPs, (Mitglieder religiöser Minderheiten darunter insbesondere Christen aus der Provinz Ninewah und Jesiden aus dem Sinjar), wurden anfänglich in der KRI willkommen geheißen. Doch in der Zwischenzeit ist der Widerstand aufgrund von tiefsitzenden geschichtlichen Konflikten zwischen kurdischen und arabischen Irakern gewachsen. Die Besorgnis steigt, dass die Ankunft von arabischen Binnenflüchtlingen in Kurdistan die unterschwelligen Spannungen verschärfen könnte. Laut Angaben von IOM haben 36 Prozent der Binnenflüchtlinge seit ihrer Vertreibung einen Sicherheitsvorfall erlebt. IDPs haben Bedenken hinsichtlich der Akzeptanz vonseiten der aufnehmenden Gesellschaft, darunter auch der kurdischen Polizei, vorgebracht. Diesbezüglich spielen auch wirtschaftliche Aspekte eine Rolle. In den letzten drei Jahren haben sich aufgrund der erhöhten Nachfrage und des aufgrund der wirtschaftlichen Lage gesunkenen Angebotes an neuem Wohnraum die durchschnittlichen Mieten um 19 Prozent verteuert. Bis zu 80 Prozent der Binnenflüchtlinge haben von Schwierigkeiten berichtet, ihre Mieten zu bezahlen (ACAPS 24.8.2016).
Sozioökonomische Lage in Kurdistan
Angesichts der Schwierigkeiten, die Flüchtlinge und IDPs in Irakisch-Kurdistan zu gegenwärtigen haben, gerät oftmals aus dem Blick, dass die Aufnahme von Hunderttausenden auch für die irakisch-kurdische Bevölkerung - hier insbesondere für die ökonomische Unter- und Mittelschicht, erhebliche Härten mit sich bringt. Die Tatsache etwa, dass zahlreiche Flüchtlinge und IDPs ohne bzw. mit geringen Qualifikationen auf den Arbeitsmarkt drängen, bedeutet auch einen schlechteren Zugang geringqualifizierter irakisch-kurdischer Bürger zu vielen Jobs. Angaben der Weltbank zufolge hat sich die allgemeine Armutsrate bereits zwischen 2012 und 2014 - als die Mehrheit der syrischen Flüchtlinge ins Land kam - von 3,5 Prozent auf 8,1 Prozent mehr als verdoppelt. Wasser und Elektrizität waren bereits im irakischen Kurdistan vor 2014 rare Güter - mit der Ankunft zahlreicher Flüchtlinge und IDPs sind sie für alle knapper geworden. Dasselbe gilt für die Gesundheitsversorgung: Das Anwachsen der Bevölkerung ohne einen entsprechenden Ausbau des Gesundheitssystems hat zu geringeren pro-Kopf-Leistungen geführt. Auch der Bildungssektor leidet unter den Herausforderungen, die rund 360.000 zusätzlich zu beschulende Kinder bedeuten - davon etwa 60.000 Kinder aus Syrien und 300.000 Kinder arabischer Binnenvertriebener. Es fehlt an geeigneten Schulgebäuden, die Klassen sind überfüllt, das Bildungsniveau der einzelnen Kinder ist extrem unterschiedlich. Zudem sind viele Schüler durch Krieg und Vertreibung traumatisiert. Unterrichtet werden sie von Lehrerinnen, die weder für diese Herausforderungen ausgebildet wurden, noch aufgrund der aktuellen Wirtschaftskrise bzw. dem angespannten Verhältnis zwischen Bagdad und Erbil auch nur regelmäßig bezahlt werden (Savelsberg 8.2017). Auch laut der Österreichischen Botschaft Amman hat die Aufnahme der großen Zahlen an IDPs und Flüchtlingen tiefgreifende wirtschaftliche und soziale Auswirkungen auf die kurdische Region. Die Bevölkerung der semi-autonomen Region ist 2014 etwa um ein Viertel gewachsen, und nach Angaben der Weltbank hat sich die Armutsrate in der KRI 2014 mehr als verdoppelt. Generell stellt die Situation eine enorme Belastung für die KRI hinsichtlich begrenzter Wasserressourcen, eines überstrapazierten Gesundheits- und Schulwesens, der angespannten Situation am Arbeits- und Wohnungsmarkt, des sozialen Friedens, zunehmend prekärer sanitärer und Gesundheitssituation sowie der Umwelt dar. Die Österreichische Botschaft Amman befand bereits im Dezember 2016, dass die Kapazitäten der KRI ausgereizt seien (ÖB 12.2017), [bevor im Zuge der danach fortgesetzten Mossul-Offensive weitere IDPs in die Region kamen.] Laut UNHCR befänden sich sowohl die Gemeinden als auch die Behörden und die Infrastruktur an der Belastungsgrenze (UNHCR 27.4.2017). Auch das Auswärtige Amt schreibt in seinem Jahresbericht, dass "die Region Kurdistan-Irak an der Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit angelangt" ist, und sich die KRG insbesondere auch auf Grund der in der KRI herrschenden Wirtschaftskrise nicht mehr in der Lage sieht, weiter Flüchtlinge aufzunehmen (AA 7.2.2017).
Die Kurdenregion wird zum Teil noch immer als das gesehen, was sie vor fünf Jahren war: Eine wirtschaftlich prosperierende, aufstrebende pro-westliche Demokratie. Kurdistan ist heute tief verschuldet, politisch wie wirtschaftlich gebrochen und kaum in der Lage seine Staatsangestellten zu bezahlen (drei Viertel der arbeitenden Bevölkerung sind Staatsangestellte), was zu andauernden Protesten führt (WP 23.7.2017; vgl. Savelsberg 8.2017; ad. Proteste:
Natali 3.1.2017). Hatte das irakische Gesamtbudget 2015 bereits von 151 Billionen auf 105 Billionen gekürzt werden müssen, betrug das vorläufige Budget für 2016 nur noch 86 Billionen US-Dollar. Kriegsbedingte Kürzungen von Seiten Bagdads, der fallende Ölpreis und die Tatsache, dass mehr als zwei Millionen Flüchtlinge im Land zu versorgen waren, haben zu erheblichen ökonomischen Einbußen in der kurdischen Region geführt. Diese konnten weder durch humanitäre Hilfe im Bereich der Flüchtlingsversorgung noch durch die US-amerikanische Finanzierung der Peschmerga seit Juli 2016 kompensiert werden. Im Februar 2015 sprach die Weltbank von insgesamt 1,4 Billionen US-Dollar, die im laufenden Jahr benötigt würden, um Irakisch-Kurdistan ökonomisch zu stabilisieren, und im Januar 2016 hatte das monatliche Defizit in der kurdischen Region 406 Millionen Dollar erreicht. Staatliche Gehälter wurden und werden erheblich gekürzt und oft Monate zu spät ausgezahlt (Savelsberg 8.2017).
Behandlung zurückgeführter Iraker (AA 07.02.2017)
Die Sicherheit von Rückkehrern ist von einer Vielzahl von Faktoren abhängig - u. a. von ihrer ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, ihrer politischen Orientierung und den Verhältnissen vor Ort. Darauf stellen auch die "Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Asylsuchenden aus Irak" des UNHCR vom Mai 2012 ab.
Während Rückführungen in die Region Kurdistan-Irak auch von Deutschland aus regelmäßig stattfinden, werden Abschiebungen nach Zentralirak aus Deutschland gar nicht und von anderen Staaten sehr verhalten durchgeführt. Schweden, Großbritannien und Australien führen vereinzelt Abschiebungen durch und planen dies auch für die Zukunft. Im September 2016 begann ein informeller Migrationsdialog zwischen EU-Mitgliedstaaten und dem irakischen Innenministerium, der auch das Thema Rückführungen umfassen soll.
2. Beweiswürdigung:
Zur Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltes wurde im Rahmen des Ermittlungsverfahrens Beweis erhoben durch:
* Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegten Verwaltungsakt des BFA, beinhaltend unter anderem die Niederschriften der Erstbefragung und der Einvernahmen des Beschwerdeführers sowie den Beschwerdeschriftsätzen.
* Einsicht in die vom Bundesverwaltungsgericht in das Verfahren eingebrachten Erkenntnisquellen betreffend die allgemeine Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers.
* AA: Bericht des deutschen Auswertigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak vom 07.02.2017
* LIB: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak vom 24.08.2017 (letzte Einfügung am 27.09.2017)
* UNHCR Anfrage: UNHCR Vermerk zur Situation von Jesiden in der Region Kurdistan im Irak (KR-I) vom 04.03.2016
* Einsicht in die vom Beschwerdeführer in Vorlage gebrachten Unterlagen.
* Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung am 05.10.2017.
2.1. Zum Verfahrensgang:
Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unbestrittenen Akteninhalt des vorgelegten Verwaltungsaktes des BFA und des vorliegenden Gerichtsaktes des Bundesverwaltungsgerichtes.
2.2. Zur Person der beschwerdeführenden Partei:
Die Feststellungen hinsichtlich der Staatsangehörigkeit, der Identität des Beschwerdeführers sowie hinsichtlich seiner Einreise in das österreichische Bundesgebiet und des Datums seiner Asylantragstellung in Österreich ergeben sich aus dem Akteninhalt.
Die Feststellungen zur Religionszugehörigkeit sowie zu den familiären und privaten Verhältnissen des Beschwerdeführers gründen sich auf dessen in diesen Punkten glaubwürdigen Angaben im Asylverfahren und die diesbezüglichen Unterlagen.
Die Sprachkenntnisse des Beschwerdeführers beruhen zum einen auf den Wahrnehmungen in der Beschwerdeverhandlung und zum anderen auf den in Vorlage gebrachten Unterlagen.
Die beantragte Feststellung der individuellen Befähigung gemäß § 19 GewO beruht auf einem Ansuchen vom XXXX2017.
2.3. Zum Vorbringen der beschwerdeführenden Partei:
2.3.1. Die aktuelle Situation im Irak ist entsprechend der herangezogenen Länderberichte derart gestaltet, dass davon auszugehen ist, dass der IS aus dem XXXX Gebiet vertrieben wurde. Viele Jesiden leben derzeit in Flüchtlingslagern, besonders in der Region Kurdistan-Irak, ein großer Teil trägt sich mit Auswanderungsplänen. Außerdem gibt es in der Stadt Dohuk, nahe des jesidischen Heiligtums Lalesh, sehr viele Jesiden, die dort weitgehend ohne Unterdrückung oder Verfolgung leben. Eine Rückkehr nach Sindschar war bis Ende 2016 kaum möglich, da sich nach der Befreiung aus den Händen des IS im Stadtgebiet verschiedene Milizen bekämpfen.
Es wurde weiters festgestellt, dass jesidische Binnenflüchtlinge (IDPs) im Allgemeinen mit weniger Beschränkungen in der KR-I konfrontiert sind, als Binnenflüchtlinge mit arabischer oder turkmenischer Volkszugehörigkeit. Beispielsweise wird es jesidischen Binnenvertriebenen und Zugehörigen anderer Minderheiten erlaubt, ihre Identitätspapiere zu behalten, während die Identitätspapiere von arabischen IDPs häufig konfisziert werden und dadurch ihre Bewegungsfreiheit weitgehend eingeschränkt wird. Des Weiteren ist es für jedsidische Binnenflüchtlinge nicht erforderlich, Aufenthaltserlaubnisse in der KR-I zu besitzen. Jedoch wird von ihnen gefordert, ein Wohnungs-Schreiben von ihrem lokalen Asayish (kurdisch für Sicherheit) einzuholen, wenn sie eine Unterkunft in einer urbanen Gegend mieten wollen. Diese Wohnungserlaubnis wird ebenfalls benötigt, um sich beim Ministerium für Vertreibung und Migration (MoMD) registrieren zu können.
Die Sicherheitssituation in der Region Kurdistan bleibt relativ stabil. Die Sicherheitskräfte befinden sich in Alarmbereitschaft und ergreifen verschärfte Sicherheitsmaßnahmen, damit Angriffe seitens der ISIS und der ihr assoziierten Gruppierungen verhindert werden können. An den Grenzen der Region Kurdistan kommt es weiterhin zu bewaffneten Übergriffen zwischen den kurdischen Kräften und der ISIS, die es bewältigt, ihre Angriffe hauptsächlich gegen Regierungs- und Sicherheitseinrichtungen in Gebieten unter de facto, und in einem viel geringerem Ausmaß in Gebieten unter de jure Kontrolle der KRG (Regionalregierung Kurdistan) durchzuführen.
Daraus ergibt sich für das Bundesverwaltungsgericht, dass der Beschwerdeführer im von der kurdischen Regionalregierung kontrollierten autonomen Teil des Nordiraks, der die Provinzen Erbil, Dohuk und Sulaimaniya umfasst, nicht der Gefahr einer individuellen Verfolgung aus religiösen Gründen, sei es ausgehend von staatlichen Organen oder von Dritten, oder allenfalls aus anderen Gründen ausgesetzt wäre. Auch der Beschwerdeführer selbst hat diesbezüglich über den gesamten Verfahrensverlauf hinweg nichts Substantiiertes vorgebracht, das dem entgegenstehen würde.
2.3.2. Der Vollständigkeit halber ist weiters festzuhalten, dass die für eine taugliche innerstaatliche Fluchtalternative nötigen Voraussetzungen jedenfalls weiterhin gegeben sind. Die geforderte Beständigkeit der im fraglichen Gebiet herrschenden Umstände, insbesondere auch hinsichtlich einer Verfolgungsfreiheit, ist im Lichte der seit August 2014 im Wesentlichen unverändert gebliebenen Lage innerhalb des autonomen Teils des Nordiraks ebenso feststellbar, wobei ergänzend anzumerken ist, dass entgegen der ursprünglich aufgrund der ehemaligen Bedrohung durch Milizen des IS herrschenden Unsicherheit in der Region mittlerweile den Sicherheitskräften der kurdischen Regionalregierung nicht nur die Sicherung der Grenzen ihrer Provinzen, sondern auch die (Rück)Eroberung von zusätzlichen Teilen der Provinzen gelang. Was die zu erwartenden generellen Lebensumstände im Falle einer Einreise in dieses Gebiet angeht, ist aus den länderkundlichen Informationen des Bundesverwaltungsgerichtes zu gewinnen, dass die große Zahl an Flüchtlingen und Binnenvertriebenen, die sich dort seit dem Sommer 2014 angesammelt haben, sowohl die Kapazitäten der regionalen Behörden als auch der regionalen wie internationalen Hilfsorganisationen, was die Unterbringung und Versorgung des nicht bzw. nicht zur Gänze selbsterhaltungsfähigen Anteils der Betroffenen angeht, in größtem Maße beanspruchen. Dennoch gelingt es den Behörden und Organisationen über einen nun schon maßgeblichen Zeitraum von drei Jahren hinweg diese Aufgaben jedenfalls in der Form zu bewältigen, dass die existentiellen Lebensbedürfnisse auch der hilfsbedürftigen Flüchtlinge befriedigt werden können. Im Lichte dieser Erwägungen ist zur Einschätzung zu gelangen, dass der Beschwerdeführer zwar bei einer Rückkehr in die betreffende Region allenfalls mit Einschränkungen des Lebensstandards konfrontiert sein könnte. Aus der Versorgung von Flüchtlingen und Binnenvertriebenen durch die regionalen Behörden sowie die dort aktiven Hilfsorganisationen in einem so großen Umfang naturgemäß resultierende Einschränkungen des Lebensstandards von Betroffenen erreichen jedoch aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichtes nicht jenes Ausmaß, bei dem davon auszugehen wäre, dass diese Personen Gefahr laufen würden in eine ausweglose Lage zu geraten. Zudem verfügt der Beschwerdeführer über verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte, woraus ebenso zu schließen ist, dass er bei einer Rückkehr dorthin nicht mit einer ausweglosen Lage im Hinblick auf die Befriedigung seiner existentiellen Lebensbedürfnisse zu rechnen hätte. Alleine ein solches Risiko würde eine Inanspruchnahme der im von der kurdischen Regionalregierung kontrollierten autonomen Teil des Nordiraks bestehenden innerstaatlichen Fluchtalternative für den Beschwerdeführer unzumutbar machen, was jedoch nach Abwägung aller relevanten Umstände zu verneinen ist.
Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang, dass der Beschwerdeführer bzw dessen rechtsfreundlicher Vertreter unter Berücksichtigung der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes vom 31.08.2017, Ra 2016/21/0367-7, dazu befragt wurde, ob ein neuer Antrag auf internationalen Schutz gestellt werde. Diesbezüglich wurde vom rechtsfreundlichen Vertreter des Beschwerdeführers festgehalten, dass abhängig von dessen weiteren Integrationsentwicklung, vorerst von einer neuerlichen Antragstellung abgesehen werde.
2.3.3. Vor dem Hintergrund obiger Ausführungen der fehlenden Gefahr einer individuellen Verfolgung des Beschwerdeführers bei einer Rückkehr in seine Herkunftsregion ist sohin zur Feststellung zu gelangen, dass nicht davon ausgegangen werden könne, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in den Irak eine asylrelevante - oder sonstige - Verfolgung oder Strafe maßgeblicher Intensität oder die Todesstrafe droht. Weiters steht dem Beschwerdeführer auch eine taugliche und zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.
2.4. Zur Lage im Herkunftsstaat:
Die vom Bundesverwaltungsgericht getroffenen Feststellungen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat ergeben sich aus in das Verfahren eingebrachten herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen.
Angesichts der Seriosität und Plausibilität der angeführten Erkenntnisquellen sowie dem Umstand, dass diese Berichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche darbieten, besteht kein Grund, an der Richtigkeit der Angaben zu zweifeln.
Dem Beschwerdeführer bzw seinem rechtsfreundlichen Vertreter wurde die Möglichkeit eingeräumt, zu den getroffenen Feststellungen eine Stellungnahme abzugeben, wovon kein Gebrauch gemacht wurde. Somit wurden keinerlei Gründe dargelegt, die an der Richtigkeit der Informationen zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat Zweifel aufkommen ließen.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchteil A):
3.1. Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:
3.1.1. Es liegen keine Umstände vor, dass dem Beschwerdeführer allenfalls von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 (Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz) zu erteilen gewesen wäre, und wurde diesbezüglich in der Beschwerdeverhandlung auch nichts dargetan.
3.1.2. Bei der Setzung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme kann ein ungerechtfertigter Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Fremden iSd. Art. 8 Abs. 1 EMRK vorliegen. Daher muss überprüft werden, ob sie einen Eingriff und in weiterer Folge eine Verletzung des Privat- und/oder Familienlebens des Fremden darstellt.
Zu den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 8 EMRK entwickelten Grundsätzen zählt unter anderem, dass das durch Art. 8 EMRK gewährleistete Recht auf Achtung des Familienlebens, das Vorhandensein einer "Familie" voraussetzt. Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kernfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern bzw. von verheirateten Ehegatten, sondern auch andere nahe verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine hinreichende Intensität für die Annahme einer familiären Beziehung iSd. Art. 8 EMRK erreichen. Der EGMR unterscheidet in seiner Rechtsprechung nicht zwischen einer ehelichen Familie (sog. "legitimate family" bzw. "famille légitime") oder einer unehelichen Familie ("illegitimate family" bzw. "famille naturelle"), sondern stellt auf das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens ab (siehe EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 454; 18.12.1986, Johnston u.a., EuGRZ 1987, 313; 26.05.1994, Keegan, EuGRZ 1995, 113; 12.07.2001 [GK], K. u. T., Zl. 25702/94; 20.01.2009, Serife Yigit, Zl. 03976/05). Als Kriterien für die Beurteilung, ob eine Beziehung im Einzelfall einem Familienleben iSd. Art. 8 EMRK entspricht, kommen tatsächliche Anhaltspunkte in Frage, wie etwa das Vorliegen eines gemeinsamen Haushaltes, die Art und die Dauer der Beziehung sowie das Interesse und die Bindung der Partner aneinander, etwa durch gemeinsame Kinder, oder andere Umstände, wie etwa die Gewährung von Unterhaltsleistungen (EGMR 22.04.1997, X., Y. und Z., Zl. 21830/93; 22.12.2004, Merger u. Cros, Zl. 68864/01). So verlangt der EGMR auch das Vorliegen besonderer Elemente der Abhängigkeit, die über die übliche emotionale Bindung hinausgeht (siehe Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention3 [2008] 197 ff.). In der bisherigen Spruchpraxis des EGMR wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Europäischen Kommission für Menschenrechte auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).
Wie der Verfassungsgerichtshof bereits in zwei Erkenntnissen vom 29.09.2007, Zl. B 328/07 und Zl. B 1150/07, dargelegt hat, sind die Behörden stets dazu verpflichtet, das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung gegen die persönlichen Interessen des Fremden an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art. 8 EMRK abzuwägen, wenn sie eine Ausweisung verfügt. In den zitierten Entscheidungen wurden vom VfGH auch unterschiedliche - in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) fallbezogen entwickelte - Kriterien aufgezeigt, die in jedem Einzelfall bei Vornahme einer solchen Interessenabwägung zu beachten sind und als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung dazu führen können, dass Art. 8 EMRK einer Ausweisung entgegensteht:
* die Aufenthaltsdauer, die vom EGMR an keine fixen zeitlichen Vorgaben geknüpft wird (EGMR 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Zl. 50435/99, ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562; 16.09.2004, Ghiban, Zl. 11103/03, NVwZ 2005, 1046),
* das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens (EGMR 28.05.1985, Abdulaziz ua., Zl. 9214/80, 9473/81, 9474/81, EuGRZ 1985, 567; 20.06.2002, Al-Nashif, Zl. 50963/99, ÖJZ 2003, 344; 22.04.1997, X, Y und Z, Zl. 21830/93, ÖJZ 1998, 271) und dessen Intensität (EGMR 02.08.2001, Boultif, Zl. 54273/00),
* die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
* den Grad der Integration des Fremden, der sich in intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen manifestiert (vgl. EGMR 04.10.2001, Adam, Zl. 43359/98, EuGRZ 2002, 582; 09.10.2003, Slivenko, Zl. 48321/99, EuGRZ 2006, 560; 16.06.2005, Sisojeva, Zl. 60654/00, EuGRZ 2006, 554; vgl. auch VwGH 05.07.2005, Zl. 2004/21/0124; 11.10.2005, Zl. 2002/21/0124),
* die Bindungen zum Heimatstaat,
* die strafgerichtliche Unbescholtenheit, aber auch Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung (vgl. zB EGMR 24.11.1998, Mitchell, Zl. 40447/98; 11.04.2006, Useinov, Zl. 61292/00), sowie
* auch die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren (EGMR 24.11.1998, Mitchell, Zl. 40447/98; 05.09.2000, Solomon, Zl. 44328/98; 31.01.2006, Rodrigues da Silva und Hoogkamer, Zl. 50435/99, ÖJZ 2006, 738 = EuGRZ 2006, 562; 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07).
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sind die Staaten im Hinblick auf das internationale Recht und ihre vertraglichen Verpflichtungen befugt, die Einreise, den Aufenthalt und die Ausweisung von Fremden zu überwachen (EGMR 28.05.1985, Abdulaziz ua., Zl. 9214/80 ua, EuGRZ 1985, 567;
21.10.1997, Boujlifa, Zl. 25404/94; 18.10.2006, Üner, Zl. 46410/99;
23.06.2008 [GK], Maslov, 1638/03; 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07). Die EMRK garantiert Ausländern kein Recht auf Einreise, Aufenthalt und Einbürgerung in einem bestimmten Staat (EGMR 02.08.2001, Boultif, Zl. 54273/00).
In Ergänzung dazu verleiht weder die EMRK noch ihre Protokolle das Recht auf politisches Asyl (EGMR 30.10.1991, Vilvarajah ua., Zl. 13163/87 ua.; 17.12.1996, Ahmed, Zl. 25964/94; 28.02.2008 [GK] Saadi, Zl. 37201/06).
Hinsichtlich der Rechtfertigung eines Eingriffs in die nach Art. 8 EMRK garantierten Rechte muss der Staat ein Gleichgewicht zwischen den Interessen des Einzelnen und jenen der Gesellschaft schaffen, wobei er in beiden Fällen einen gewissen Ermessensspielraum hat. Art. 8 EMRK begründet keine generelle Verpflichtung für den Staat, Einwanderer in seinem Territorium zu akzeptieren und Familienzusammenführungen zuzulassen. Jedoch hängt in Fällen, die sowohl Familienleben als auch Einwanderung betreffen, die staatliche Verpflichtung, Familienangehörigen von ihm Staat Ansässigen Aufenthalt zu gewähren, von der jeweiligen Situation der Betroffenen und dem Allgemeininteresse ab. Von Bedeutung sind dabei das Ausmaß des Eingriffs in das Familienleben, der Umfang der Beziehungen zum Konventionsstaat, weiters ob im Ursprungsstaat unüberwindbare Hindernisse für das Familienleben bestehen, sowie ob Gründe der Einwanderungskontrolle oder Erwägungen zum Schutz der öffentlichen Ordnung für eine Ausweisung sprechen. War ein Fortbestehen des Familienlebens im Gastland bereits bei dessen Begründung wegen des fremdenrechtlichen Status einer der betroffenen Personen ungewiss und dies den Familienmitgliedern bewusst, kann eine Ausweisung nur in Ausnahmefällen eine Verletzung von Art. 8 EMRK bedeuten (EGMR 31.07.2008, Omoregie ua., Zl. 265/07, mwN; 28.06.2011, Nunez, Zl. 55597/09; 03.11.2011, Arvelo Aponte, Zl. 28770/05; 14.02.2012, Antwi u. a., Zl. 26940/10).
Die Ausweisung eines Fremden, dessen Aufenthalt lediglich auf Grund der Stellung von einem oder mehreren Asylanträgen oder Anträgen aus humanitären Gründen besteht, und der weder ein niedergelassener Migrant noch sonst zum Aufenthalt im Aufenthaltsstaat berechtigt ist, stellt in Abwägung zum berechtigten öffentlichen Interesse einer wirksamen Einwanderungskontrolle keinen unverhältnismäßigen Eingriff in das Privatleben dieses Fremden dar, wenn dessen diesbezüglichen Anträge abgelehnt werden, zumal der Aufenthaltsstatus eines solchen Fremden während der ganzen Zeit des Verfahrens als unsicher gilt (EGMR 08.04.2008, Nnyanzi, Zl. 21878/06).
Aufenthaltsbeendende Maßnahmen beeinträchtigt das Recht auf Privatsphäre eines Asylantragstellers dann in einem Maße, der sie als Eingriff erscheinen lässt, wenn über jemanden eine Ausweisung verhängt werden soll, der lange in einem Land lebt, eine Berufsausbildung absolviert, arbeitet und soziale Bindungen eingeht, ein Privatleben begründet, welches das Recht umfasst, Beziehungen zu anderen Menschen einschließlich solcher beruflicher und geschäftlicher Art zu begründen (Wiederin in Korinek/Holoubek, Bundesverfassungsrecht, 5. Lfg., 2002, Rz 52 zu Art 8 EMRK).
Nach der jüngsten Rechtsprechung des EGMR (EGMR 08.04.2008, Nnyanzi
v. the United Kingdom, 21878/06 bzgl. einer ugandischen Staatsangehörigen die 1998 einen Asylantrag im Vereinigten Königreich stellte) ist im Hinblick auf die Frage eines Eingriffes in das Privatleben maßgeblich zwischen niedergelassenen Zuwanderern, denen zumindest einmal ein Aufenthaltstitel erteilt wurde und Personen, die lediglich einen Asylantrag gestellt haben und deren Aufenthalt somit bis zur Entscheidung im Asylverfahren unsicher ist, zu unterscheiden (im Falle der Beschwerdeführerin Nnyanzi wurde die Abschiebung nicht als ein unverhältnismäßiger Eingriff in ihr Privatleben angesehen, da von einem grundsätzlichen Überwiegen des öffentlichen Interesses an einer effektiven Zuwanderungskontrolle ausgegangen wurde).
Nach der Rechtsprechung des EGMR (vgl. aktuell SISOJEVA u.a. gg. Lettland, 16.06.2005, Bsw. Nr. 60.654/00) garantiert die Konvention Ausländern kein Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem Staat, unter gewissen Umständen können von den Staaten getroffene Entscheidungen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts (zB. eine Ausweisungsentscheidung) auch in das Privatleben eines Fremden eingreifen. Dies beispielsweise dann, wenn ein Fremder den größten Teil seines Lebens in einem Gastland zugebracht (wie im Fall SISOJEVA u.a. gg. Lettland) oder besonders ausgeprägte soziale oder wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat vorliegen, die sogar jene zum eigentlichen Herkunftsstaat an Intensität deutlich übersteigen (vgl. dazu BAGHLI gg. Frankreich, 30.11.1999, Bsw. Nr. 34374/97; ebenso die Rsp. des Verfassungsgerichtshofes; vgl. dazu VfSlg 10.737/1985; VfSlg 13.660/1993).
Bei der vorzunehmenden Interessensabwägung ist zwar nicht ausschlaggebend, ob der Aufenthalt des Fremden zumindest vorübergehend rechtmäßig war (EGMR 16.09.2004, Ghiban / BRD; 07.10.2004, Dragan / BRD; 16.06.2005, Sisojeva u.a. / LV), bei der Abwägung jedoch in Betracht zu ziehen (vgl. VfGH 17.03.2005, G 78/04; EGMR 08.04.2008, Nnyazi / GB). Eine langjährige Integration ist zu relativieren, wenn der Aufenthalt auf rechtsmissbräuchlichem Verhalten, insbesondere etwa die Vortäuschung eines Asylgrundes (vgl VwGH 2.10.1996, 95/21/0169), zurückzuführen ist (VwGH 20.12.2007, 2006/21/0168). Darüber hinaus sind auch noch Faktoren wie etwa Aufenthaltsdauer, das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens und dessen Intensität, sowie der Grad der Integration welcher sich durch Intensität der Bindungen zu Verwandten und Freunden, Selbsterhaltungsfähigkeit, Schulausbildung bzw. Berufsausbildung, Teilnahme am sozialen Leben, Beschäftigung manifestiert, aber auch die Bindungen zum Herkunftsstaat, die strafgerichtliche Unbescholtenheit, Verstöße gegen das Einwanderungsrecht und Erfordernisse der öffentlichen Ordnung sowie die Frage, ob das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren, bei der Abwägung in Betracht zu ziehen (VfGH 29.09.2007, B1150/07 unter Hinweis und Zitierung der EGMR-Judikatur).
Gemäß der Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom 07.10.2010, B 950/10 sind betreffend der Frage der Integration einer Familie in Österreich insbesondere die Aufenthaltsdauer der Familie in Österreich, ein mehrjähriger Schulbesuch von minderjährigen Kindern, gute Deutschkenntnisse und eine sehr gute gesellschaftliche Integration der gesamten Familie zu berücksichtigen.
Es ist weiters als wesentliches Merkmal zu berücksichtigen, wenn - anders als in Fällen, in denen die Integration auf einem nur durch Folgeanträge begründeten unsicheren Aufenthaltsstatus basierte (vgl. zB VfGH 12.6.2010, U614/10) - die Integration der Beschwerdeführer während eines einzigen Asylverfahrens (dessen Dauer im durch den Verfassungsgerichtshof entschiedenen Fall sieben Jahre betrug), welches nicht durch eine schuldhafte Verzögerung durch den Beschwerdeführer und seine Familie geprägt war, erfolgte.
Bei der Abwägung der betroffenen Rechtsgüter zur Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes ist immer auf die besonderen Umstände des Einzelfalls im Detail abzustellen. Eine Ausweisung hat daher immer dann zu unterbleiben, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.
3.1.3. In Österreich hat der Beschwerdeführer laut eigener Angaben zwar zwei Cousins und deren Familien, jedoch besteht zu diesen kein wie auch immer geartetes Abhängigkeitsverhältnis. Als Kriterien für die Beurteilung, ob eine Beziehung im Einzelfall einem Familienleben iSd. Art. 8 EMRK entspricht, müssen neben der Verwandtschaft noch weitere Umstände hinzutreten. So verlangt der EGMR auch das Vorliegen besonderer Elemente der Abhängigkeit, die über die übliche emotionale Bindung hinausgehen (siehe Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention3 [2008] 197 ff). In Anbetracht des diesbezüglichen Vorbringens des Beschwerdeführers kann von dieser besonderen Beziehungsintensität nicht ausgegangen werden. Es wurde somit kein spezielles Nahe- bzw. Abhängigkeitsverhältnis des Beschwerdeführers zu seinen Cousins vorgebracht, welches eine - im Lichte der Rechtsprechung des EGMR - ausreichende Beziehungsintensität begründen würde und im konkreten Einzelfall auch höher zu bewerten wäre, als die entgegenstehenden öffentlichen Interessen.
Da somit im gegenständlichen Fall keine Verletzung des Familienlebens des Beschwerdeführers vorliegt, bleibt zu prüfen, ob mit der Ausweisung ein Eingriff in dessen Privatleben einhergeht.
Hinweise auf eine zum Entscheidungszeitpunkt vorliegende berücksichtigungswürdige Integration des Beschwerdeführers sind nicht erkennbar. Der Beschwerdeführer hält sich seit XXXX 2012 in Österreich auf. Eine (besondere) Integration des Beschwerdeführers in sprachlicher, beruflicher oder gesellschaftlicher Hinsicht konnte nicht festgestellt werden. So ist im Verfahren lediglich hervorgekommen, dass der Beschwerdeführer auf gutem Niveau die deutsche Sprache spricht, jedoch hat er bis zum Entscheidungszeitpunkt die A2 Prüfung nicht abgelegt. Seinen Lebensunterhalt bestreitet der Beschwerdeführer nach wie vor durch die Grundversorgung und hat er erst im XXXX 2017 um Feststellung der individuellen Befähigung gemäß § 19 GewO angesucht. Das Ergebnis des Ansuchens bzw eine etwaige Arbeitsaufnahme wurde dem Bundesverwaltungsgericht bis zum Entscheidungszeitpunkt nicht bekanntgegeben. Andere integrative Schritte wurden hingegen seitens des Beschwerdeführers nicht gesetzt. Er vermochte sich wohl einen kleinen Freundeskreis aufzubauen, eine umfassende soziale und gesellschaftliche Integration, wie man sie nach sechs Jahren Aufenthalt erwarten könnte, wurden jedoch nicht vorgenommen. Der Beschwerdeführer vermag lediglich auf seine knapp sechsjährige Aufenthaltsdauer zu verweisen, darüber hinaus ist jedoch im Sinne des Beschwerdeführers - abgesehen von seiner bisherigen Unbescholtenheit - kaum etwas ins Treffen zu führen.
Nach Maßgabe einer Interessensabwägung im Sinne des § 9 BFA-VG geht das Bundesverwaltungsgericht daher davon aus, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des unrechtmäßigen Aufenthalts des Beschwerdeführers im Bundesgebiet das persönliche Interesse des Beschwerdeführers am Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und daher durch die angeordnete Rückkehrentscheidung eine Verletzung des Art. 8 EMRK nicht vorliegt. Auch sonst sind keine Anhaltspunkte hervorgekommen und auch in der Beschwerde nicht vorgebracht worden, dass im gegenständlichen Fall eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig wäre.
3.1.4. Schließlich sind im Hinblick auf die von der belangten Behörde im angefochtenen Bescheid gemäß § 52 Abs. 9 iVm. § 46 FPG getroffene Feststellung keine konkreten Anhaltspunkte dahingehend hervorgekommen, dass die Abschiebung in den Irak unzulässig wäre. Diesbezüglich ist auf die beweiswürdigenden Ausführungen zu verweisen.
3.2. Die in Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides festgelegte Frist von 14 Tagen für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung entspricht § 55 Abs. 2 erster Satz FPG. Dass besondere Umstände, die der Drittstaatsangehörige bei der Regelung seiner persönlichen Verhältnisse zu berücksichtigen hätte, die Gründe, die zur Erlassung der Rückkehrentscheidung geführt haben, überwiegen würden, wurde nicht vorgebracht. Diesbezüglich finden sich auch keinerlei Ausführungen in der Beschwerdeschrift.
3.3. Da alle gesetzlichen Voraussetzungen für die Anordnung einer Rückkehrentscheidung und die gesetzte Frist für die freiwillige Ausreise vorliegen, ist die Beschwerde gegen den angefochtenen Bescheid als unbegründet abzuweisen.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Aus den dem gegenständlichen Erkenntnis entnehmbaren Ausführungen geht weiters hervor, dass das erkennende Gericht in seiner Rechtsprechung im gegenständlichen Fall nicht von der bereits zitierten einheitlichen Rechtsprechung des VwGH, insbesondere zur Glaubwürdigkeit, zum Refoulementschutz bzw. zum durch Art. 8 EMRK geschützten Recht auf ein Privat- und Familienleben, abgeht. Darüber hinaus wird zu diesem Thema keine Rechtssache, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, erörtert.
Es ist somit spruchgemäß zu entscheiden.
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