EGMR Bsw17265/05

EGMRBsw17265/056.5.2010

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Brunet Lecomte und Lyon Mag gegen Frankreich, Urteil vom 6.5.2010, Bsw. 17265/05.

 

Spruch:

Art. 10 EMRK - Verurteilung wegen Diffamierung eines Islamisten.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzungen von Art. 6 und Art. 7 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK (5:2 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Da die Bf. keinen Antrag auf gerechte Entschädigung gestellt haben, unterbleibt ein Zuspruch von Schadenersatz nach Art. 41 EMRK (einstimmig).

Begründung

Sachverhalt:

Bei den Bf. handelt es sich um den Herausgeber sowie um die Verlagsgesellschaft der monatlich erscheinenden Zeitschrift Lyon Mag', die über aktuelle Themen im öffentlichen Interesse der Bevölkerung von Lyon informiert. In der Ausgabe von Oktober 2001 wurde eine Umfrage mit dem Titel »[...] Ortsansässige Muslime im Angesicht des Terrorismus. Umfrage: Muss man vor den islamistischen Netzwerken in Lyon Angst haben?« veröffentlicht. Auf der Titelseite war neben der Ankündigung der Umfrage ein Foto von T. mit der Bildunterschrift »[T.], einer der einflussreichsten muslimischen Führer in Lyon« abgebildet. Das Magazin enthielt weiters zwei Artikel mit den Titeln »Muss man vor den islamistischen Netzwerken in Lyon Angst haben?« und »[T.] der Zweideutige«. Letzterer Beitrag beinhaltete eine Darstellung von T., in der seine Herkunft, die Niederlassung seiner Familie in der Schweiz, seine Ausbildung und seine Ideen geschildert wurden. Er informierte zudem, dass T. und seinem Bruder, dem Leiter des islamistischen Zentrums in Genf – laut französischen Informationen Treffpunkt europäischer Islamisten – 1995 die Einreise nach Frankreich verweigert worden war.

Wegen dieser Veröffentlichungen wandte sich T. an das Strafgericht Lyon und beschuldigte die Bf. der öffentlichen Diffamierung. Am 19.12.2002 sprach das Strafgericht die Bf. jedoch frei und wies die von T. eingebrachte zivilrechtliche Klage wegen Gutgläubigkeit der Bf. ab. Es ging davon aus, dass die Artikel eine wohl überlegte Kritik wiedergaben.

Der Cour d'appel Lyon hob das Urteil infolge einer von T. eingebrachten Berufung auf. Er hielt den Tatbestand der öffentlichen Diffamierung für erfüllt, verurteilte den ErstBf. zur Leistung von € 2.500,– Schadenersatz an T. und erklärte die ZweitBf. für zivilrechtlich verantwortlich. Nach Ansicht des Gerichts ziele die Gesamtheit mehrerer Elemente der strittigen Artikel darauf ab, T. so darzustellen, als wäre er einer der »charismatischen [islamistischen] Anführer«, die »frustrierte und verletzliche Jugendliche rekrutieren« und um die sich »kleine, völlig unkontrollierbare Gruppen« bilden würden. (Anm.: Im Hintergrundartikel wurde mit diesen Worten ohne direkten Bezug auf T. allgemein auf die Problematik hingewiesen, dass die Anfälligkeit von Jugendlichen für radikale, wohlwollende Diskurse in Hinblick auf Terroristen zunehme.) Eine solche Behauptung würde die Ehre verletzen und in Bezug auf T. einen diffamierenden Charakter aufweisen. Die vom ErstBf. vorgebrachten Beweise zur Belegung seiner Behauptungen hielt das Gericht nicht für ausreichend, um ihm den Einwand der Gutgläubigkeit zugute kommen zu lassen.

Die von den Bf. gegen dieses Urteil erhobene Berufung wurde am 9.11.2004 vom Cour de cassation abgewiesen.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügen eine Verletzung von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit), Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 7 EMRK (Nulla poena sine lege).

I. Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

Durch ihre Verurteilung wegen öffentlicher Diffamierung sehen sich die Bf. in ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt.

1. Zulässigkeit

Dieser Beschwerdepunkt ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Er muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

2. In der Sache

Die Verurteilung der Bf. stellt unbestritten einen Eingriff in ihr Recht auf freie Meinungsäußerung dar. Dieser hatte mit Art. 29 des Gesetzes über die Pressefreiheit von 1881 eine Grundlage im innerstaatlichen Recht. Als Sachkundige waren die Bf. auch in der Lage, die möglichen rechtlichen Konsequenzen der strittigen Veröffentlichungen vorherzusehen.

Der Eingriff verfolgte zudem das legitime Ziel, den guten Ruf und die Rechte anderer zu schützen. Zu klären bleibt, ob er in einer demokratischen Gesellschaft notwendig war.

Die Bf. wurden verurteilt, weil sie eine Reihe von Artikeln über das islamistische Netzwerk in Lyon veröffentlicht hatten, die den nationalen Richtern zufolge diffamierende Unterstellungen in Bezug auf T. enthielten. Die Artikel erschienen im Oktober 2001, unmittelbar nach den Attentaten vom 11.9.2001 in New York. In Anbetracht dieser weltweit bedeutenden Ereignisse und wegen ihres Inhalts waren sie Teil einer Debatte im öffentlichen Interesse. Deshalb bestand nur ein enger staatlicher Ermessensspielraum, was die Verurteilung der Bf. betrifft.

Die Journalisten aus Art. 10 EMRK erwachsende Garantie hängt davon ab, ob die Betroffenen in gutem Glauben gehandelt und exakte und zuverlässige Informationen unter Wahrung der journalistischen Berufsethik verbreitet haben. Die journalistische Freiheit lässt dabei aber auch ein gewisses Maß an Übertreibung oder sogar Provokation zu.

Die nationalen Gerichte haben die Bf. auf Grundlage einer Summe von Elementen der strittigen Artikel verurteilt, die ihrer Ansicht nach darauf abzielten, »T. so darzustellen, als wäre er möglicherweise ein charismatischer islamistischer Anführer, der auch vor Rekrutierungen nicht zurückschrecke«. Sie stützen sich dabei auf die in den Artikeln verwendete Terminologie sowie auf wiederholte Andeutungen und die über T. und seine Aktivitäten angestellten Vermutungen.

Der GH kann dieser Analyse nicht folgen. Die Textelemente und die Unterstellungen müssen seiner Ansicht nach in ihrem Kontext betrachtet werden, das heißt im Zusammenhang mit ihrer Veröffentlichung im Rahmen einer Serie von Artikeln, die aus einer Umfrage betreffend das islamistische Netzwerk in Lyon hervorgingen. Im Artikel mit dem Titel »Muss man vor den islamistischen Netzwerken in Lyon Angst haben?« wurde nur wenige Male direkt auf T. Bezug genommen. In erster Linie wurden die muslimischen Bewegungen in der Region beschrieben. T. wurde dabei als Redner bei Vorträgen einer dieser Bewegungen genannt. Was den Artikel betrifft, der T. porträtierte, so war dieser unter Vorbehalten verfasst. Er endete mit einem moderaten Satz. (Anm.: Der Text endete mit dem Satz »Es ist schwierig, ohne Beweis zu bestätigen, dass [T.] heute im Zentrum eines islamistischen Netzwerks steht und bereit ist, als Mittler für terroristische Aktionen zu dienen. Aber seine Rolle bleibt zweideutig.«)

Die Bf. haben zudem besondere Sorge dafür getragen, eine »Vermischung« der Begriffe Islam und Islamismus zu vermeiden. Sie taten dies, indem sie neben dem strittigen Artikel eine Fachmeinung zur unterschiedlichen Bedeutung dieser Begriffe abdruckten. Die Bf. haben damit eine gewisse Sorgfalt bei ihrer Ausdrucksform bewiesen.

Sicherlich tendierte die Abbildung eines Fotos von T. auf der Titelseite und die Abfassung eines ganzen Beitrags zu seiner Person dazu, ihm eine wichtige Rolle in der Veröffentlichung zuzuschreiben. Jedoch hatten die Bf. T. keine persönliche Feindseligkeit entgegengebracht. Der GH kann daher nur feststellen, dass die verwendete Terminologie differenziert ist und die Bf. das zulässige Maß an Übertreibung oder Provokation nicht überschritten haben.

Was die Eigenschaft als in der Öffentlichkeit stehende Persönlichkeit betrifft, so war T. als Vortragender, insbesondere in der Umgebung von Lyon, sehr aktiv. Dies geht aus den strittigen Artikeln und den dem GH vorgelegten Dokumenten hervor. Sollte T. nicht allein wegen seiner Aktivität als Professor eine in der Öffentlichkeit stehende Persönlichkeit sein, dann hat er sich dennoch selbst der journalistischen Kritik ausgesetzt, indem er sich entschied, seine Ideen und Überzeugungen öffentlich zu machen. Er kann deshalb eine genaue Prüfung seiner Äußerungen erwarten. Es bleibt somit zu klären, ob die umstrittenen Artikel auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage beruhten.

Das Appellationsgericht hielt die von den Bf. vorgebrachten Beweise nicht für ausreichend, um die Wahrheit der Anschuldigungen zu belegen, T. würde Jugendliche rekrutieren, die sich zu »unkontrollierbaren Gruppen« formieren würden, und er würde – »bereit, als Mittler für terroristische Akte zu dienen« – »im Zentrum eines islamistischen Netzwerks stehen«. Der GH stellt in diesem Zusammenhang fest, dass insbesondere das erstere, vom Appellationsgericht den strittigen Artikeln entnommene Zitat T. zum Teil nur indirekt betraf, da es sich um einen Auszug aus dem Hintergrundartikel handelte und der zweite Teil des Textes im Urteil einfach weggelassen wurde. Er ist der Ansicht, dass die zahlreichen, als Beweise vorgelegten Dokumente – auch wenn sie nicht direkt belegten, dass T. Personen angeworben hatte – klar die Gefahren aufzeigten, die dessen Reden bewirkten. Den umstrittenen Aussagen war demnach nicht jegliche Tatsachenbasis entzogen. Darüber hinaus lässt die Vielzahl und Seriosität der konsultierten Quellen sowie der Umfrage zusammen mit der moderaten und sorgfältigen Wortwahl auf den guten Glauben der Bf. schließen. Die Veröffentlichungen hielten sich damit im Rahmen der zulässigen Kritik.

Wie der GH zudem erinnert, ist der staatliche Ermessensspielraum in jenen Fällen besonders eng, die schwerwiegende Fragen zu einer im öffentlichen Interesse gelegenen Debatte betreffen. Die vorliegenden Artikel wurden kurze Zeit nach den Attentaten vom 11.9.2001, die ein weltweites Chaos hervorriefen, publiziert und enthielten diesbezügliche Informationen in einem lokalen Kontext. Das Interesse der Bf., solche Informationen zu einem Thema von weltweiter Bedeutung und dessen direkte Auswirkungen auf die Region zu verbreiten, sowie jenes der Öffentlichkeit, diese zu erhalten, überwiegt nach Ansicht des GH das Recht von T. auf Schutz seines guten Rufs.

Unter diesen Umständen kommt der GH zu dem Schluss, dass die französischen Gerichte keine stichhaltigen und ausreichenden Motive zur Rechtfertigung des Eingriffs in Art. 10 EMRK vorgebracht haben. Auch die auferlegte Strafe ist unverhältnismäßig. Der Eingriff war nicht notwendig in einer demokratischen Gesellschaft, weshalb eine Verletzung von Art. 10 EMRK festzustellen ist (5:2 Stimmen; gemeinsames Sondervotum von Richter Lorenzen und Richterin Berro-Lefèvre).

II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 und Art. 7 EMRK

Die Bf. beschweren sich über eine Verletzung ihrer Verteidigungsrechte sowie ihres Rechts auf Waffengleichheit, da T. erlaubt wurde, seine Berufung trotz Verjährung seiner zivilrechtlichen Klage aufrecht zu erhalten, nachdem der Generalprokurator eine Ladung der Bf. vor das Appellationsgericht beantragt hatte.

Der GH kann hier keinen Anschein einer Verletzung von Art. 6 oder Art. 7 EMRK erkennen und weist diesen Beschwerdepunkt wegen offensichtlicher Unbegründetheit zurück (einstimmig).

Die Bf. sind außerdem der Ansicht, dass ihre verfahrenseinleitende Ladung die der gerichtlichen Verfolgung zugrunde liegenden Tatsachen nicht ausreichend präzisiert habe. Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK legt jedoch keine besondere Form fest, in der Betroffene über den Grund und die rechtliche Qualifikation der Anschuldigung informiert werden sollen. Des Weiteren bringen die Bf. vor, das Urteil des Cour de cassation sei nicht ausreichend begründet gewesen. Hierzu ist zu sagen, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht erfordert, auf alle Argumente eine detaillierte Antwort zu geben. Vorliegend deutet nichts darauf hin, dass der Cour de cassation seine Verpflichtung zur Urteilsbegründung außer Acht gelassen hätte. Auch dieser Beschwerdeteil ist somit offensichtlich unbegründet und nach Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK zurückzuweisen (einstimmig).

III. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

Da die Bf. keinen Antrag auf gerechte Entschädigung gestellt haben, unterbleibt ein Zuspruch von Schadenersatz nach Art. 41 EMRK (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Bladet Tromsø und Stensaas/N v. 20.5.1999 (GK), NL 1999, 96; EuGRZ 1999, 453; ÖJZ 2000, 232.

Nilsen und Johnsen/N v. 25.11.1999 (GK), NL 1999, 197.

Jerusalem/A v. 27.2.2001, NL 2001, 52; ÖJZ 2001, 693.

Chalabi/F v. 18.9.2008.

Leroy/F v. 2.10.2008, NL 2008, 273.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 6.5.2010, Bsw. 17265/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 147) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_3/Lecomte u. Lyon Mag.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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