EGMR Bsw20928/05

EGMRBsw20928/0530.3.2010

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer IV, Beschwerdesache Petrenco gg. Moldawien, Urteil vom 30.3.2010, Bsw. 20928/05.

 

Spruch:

Art. 8, 10 EMRK - Schutz des Ansehens vor falscher Tatsachenbehauptung.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 8 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK (6:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 1.200,– für immateriellen Schaden, € 300,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen).

Begründung

Sachverhalt:

Der Bf. war zur Zeit der umstrittenen Ereignisse Universitätsprofessor für Geschichte und Vorsitzender der Vereinigung der Moldawischen Historiker. Er ist Autor des Lehrplans für »Weltgeschichte« von 1996.

Am 2.4.2002 erschien in der amtlichen Regierungszeitung Moldova Suverana ein vom Historiker und früheren stellvertretenden Bildungsminister S. N. verfasster Artikel, der abwertende Bemerkungen über die fachliche Kompetenz des Bf. enthielt. Es wurde angedeutet, dass er seine postgraduale Ausbildung und anschließende Karriere als Historiker der Zusammenarbeit mit dem sowjetischen Geheimdienst KGB verdanken würde.

Der Bf. erhob daraufhin eine Klage wegen Rufschädigung gegen S. N. und die Zeitung. Das Bezirksgericht Centru gab der Klage am 30.4.2003 statt. Nach Ansicht des Gerichts konnten die Behauptungen in dem Artikel nur dahingehend verstanden werden, dass der Bf. mit dem KGB kollaboriert hätte. Dieser sei in der Sowjetzeit eine repressive Organisation gewesen und jede derartige Zusammenarbeit werde in der Zivilgesellschaft als höchst verwerflich angesehen. Da der Vorwurf Ehre und Ansehen des Bf. schwer beeinträchtige und nicht bewiesen worden sei, ordnete das Gericht die Veröffentlichung eines Widerrufs und eine Entschädigung an.

Am 23.12.2003 wurde dieses Urteil durch das Berufungsgericht Chisinau wegen eines Verfahrensmangels behoben und die Sache zur neuerlichen Entscheidung zurückverwiesen.

Während das Verfahren wieder vor dem Bezirksgericht Centru anhängig war, veröffentlichte Moldova Suverana einen Artikel, in dem die »abfälligen Bemerkungen« und die »unangebrachte Sprache« in dem Artikel über den Bf. bedauert wurden und sich die Herausgeber davon distanzierten.

Das Bezirksgericht Centru wies die Klage des Bf. am 12.5.2004 ab, da der Autor des Artikels in gutem Glauben gehandelt und keine Absicht gehabt hätte, den Bf. herabzuwürdigen oder seinen Ruf zu schädigen.

Die Berufung des Bf. wurde am 28.9.2004 vom Berufungsgericht Chisinau mit der Begründung abgewiesen, es handle sich bei den umstrittenen Äußerungen um ein Werturteil, dessen Wahrheitsgehalt einem Beweis nicht zugänglich sei.

Der Oberste Gerichtshof erklärte die vom Bf. erhobene Nichtigkeitsbeschwerde für unzulässig. Trotzdem äußerte sich der Gerichtshof auch in der Sache und stellte fest, dass es sich bei den Äußerungen des Beklagten um Werturteile handle, weshalb eine Haftung ausgeschlossen sei.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Privatlebens).

I. Zur Zulässigkeit der Beschwerde

Der GH sieht keinen Grund zu der Annahme, dass das innerstaatliche Verfahren nicht fair gewesen ist. Die Beschwerde nach Art. 6 Abs. 1 EMRK ist offensichtlich unbegründet und muss daher für unzulässig erklärt werden (einstimmig).

Die Anwendbarkeit von Art. 8 EMRK auf den vorliegenden Fall ist unumstritten. Die Behauptung des Bf., sein Recht auf Schutz des guten Rufs wäre durch den Artikel vom 4.4.2002 verletzt worden, wirft schwierige Sach- und Rechtsfragen auf, die eine Entscheidung in der Sache erfordern. Da die Beschwerde unter Art. 8 EMRK weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Der Bf. bringt vor, der umstrittene Artikel habe seine Ehre und Würde sowie sein berufliches Ansehen geschädigt. Obwohl er sich ursprünglich auf Art. 10 EMRK berief, behauptet er damit der Sache nach eine Verletzung seines Rechts auf Schutz des Ansehens. Dieses fällt als Element des »Privatlebens« unter Art. 8 EMRK.

1. Allgemeine Grundsätze

Der vorliegende Fall betrifft die positiven Verpflichtungen des Staates nach Art. 8 EMRK, das Recht des Bf. auf Achtung seines Ansehens sicherzustellen.

Die Wahl der Mittel zur Gewährleistung der Beachtung von Art. 8 EMRK im Bereich der Beziehungen zwischen Privatpersonen fällt grundsätzlich in den Ermessensspielraum der Vertragsstaaten.

In Fällen, in denen der Schutz des Privatlebens gegen die Meinungsäußerungsfreiheit abzuwägen war, hat der GH stets auf den Beitrag abgestellt, den ein Artikel in der Presse zu einer Debatte von allgemeinem Interesse leistete. Bei Debatten über Fragen von allgemeinem öffentlichen Interesse sind die Grenzen der zulässigen Kritik in Bezug auf Politiker und andere Personen des öffentlichen Lebens weiter als bei Privatpersonen.

2. Anwendung der Grundsätze im vorliegenden Fall

Angesichts der Formulierungen des Artikels und der Feststellungen des Bezirksgerichts Centru, das sich als einziges innerstaatliches Gericht zu dieser Frage äußerte, ist der GH überzeugt, dass sein Autor anzudeuten beabsichtigte, dass der Bf. mit dem KGB kollaboriert hatte. Es stellt sich daher die Frage, ob diese Behauptungen innerhalb der Grenzen akzeptabler Kritik blieben.

Der Artikel wurde im Zuge einer Diskussion über Inhalt und Qualität von Schulbüchern für den Geschichtsunterricht und über die Beurteilung bestimmter historischer Ereignisse veröffentlicht. Er war damit Teil einer Debatte, die von erheblichem Interesse für die allgemeine Öffentlichkeit war. Wie der GH zudem betont, war die Kollaboration moldawischer Bürger mit dem sowjetischen Geheimdienst, insbesondere wenn es sich um Personen in Machtpositionen oder von hohem Ansehen handelte, eine besonders sensible gesellschaftliche und moralische Frage im spezifischen Kontext Moldawiens.

Als Vorsitzender der Vereinigung Moldawischer Historiker war der Bf. eine Figur des öffentlichen Lebens. Als Autor eines Lehrplans für »Weltgeschichte« konnten seine Ansichten im Zuge der Debatte über den Inhalt von Textbüchern für den Geschichtsunterricht als besonders bedeutsam angesehen werden. Das Maß an zulässiger Kritik am Bf. im Zuge dieser Debatte war daher vergleichsweise hoch.

Der Autor des umstrittenen Artikels war ebenfalls Historiker und früherer stellvertretender Bildungsminister. Eine lebhafte Debatte zwischen ihm und dem Bf. war geeignet, zur Wirksamkeit der allgemeinen Diskussion beizutragen und die Öffentlichkeit über die relevanten Fragen zu informieren.

Der GH hält es auch für bedeutsam, dass die Zeitung Moldova Suverana am 4.4.2002 einen Widerruf veröffentlichte, in dem sie sich von dem umstrittenen Artikel distanzierte.

Unter diesen Umständen ist der GH der Ansicht, dass der allgemeine Ton und die beleidigende Sprache des Artikels im Kontext der lebhaften Debatte über den Inhalt von Schulbüchern und angesichts der später in Moldova Suverana veröffentlichten Stellungnahme für sich keine Verletzung des Rechts des Bf. auf Achtung seines Ansehens begründete.

Andere Überlegungen gelten allerdings hinsichtlich der speziellen Behauptungen, der Bf. habe mit dem sowjetischen Geheimdienst kollaboriert.

Im Gegensatz zu den innerstaatlichen Gerichten ist der GH nicht davon überzeugt, dass die umstrittenen Äußerungen als reine Werturteile angesehen werden können. Ob eine Person mit dem sowjetischen Geheimdienst kollaboriert hat, ist nicht bloß eine Frage für Spekulationen, sondern eine historische Tatsache, die einem Beweis zugänglich ist. Die innerstaatlichen Gerichte haben keine überzeugenden Gründe für ihre Schlussfolgerung dargelegt. Trotz des Ermessensspielraums, der den Staaten bei der Qualifikation einer Äußerung als Werturteil oder Tatsachenbehauptung zukommt, gelangt der GH zu dem Schluss, dass der Vorwurf der Kollaboration mit dem KGB eindeutig eine Tatsachenbehauptung darstellt.

Diese Behauptung war geeignet, den Bf. und seine Ansichten zur diskutierten Angelegenheit schwer in Misskredit zu bringen. Anstatt zu dieser Debatte beizutragen, drohten sie daher eher, ihre Integrität und Nützlichkeit zu untergraben. Die Stellung einer Person als Politiker oder sonstige Person des öffentlichen Lebens ändert nichts an der Notwendigkeit einer ausreichenden Tatsachengrundlage für Behauptungen, die ihr Ansehen schädigen, selbst wenn es sich um Werturteile handelt und nicht um Tatsachenbehauptungen wie im vorliegenden Fall. Wie das Bezirksgericht Centru feststellte, gab es keinen Beweis dafür, dass der Bf. ein Agent des KGB gewesen ist. Die späteren Urteile kamen zu keinem anderen Ergebnis. Auch die von den Parteien vorgelegten Dokumente enthalten keinen Hinweis auf eine Kollaboration des Bf. mit dem sowjetischen Geheimdienst. In einem solchen Fall ist es nicht angemessen, auf das Maß der zulässigen Provokation zu verweisen, das Zeitungen im Allgemeinen zusteht, wenn ein Artikel eine Person des öffentlichen Lebens betrifft. Der vorliegende Fall betrifft eine verzerrte Darstellung der Wirklichkeit, für die vom Autor keine wie auch immer geartete Tatsachengrundlage dargelegt wurde. Indem der Artikel die Kollaboration des Bf. mit dem KGB als erwiesene Tatsache hinstellte, obwohl dies reine Spekulation des Autors war, überschritt er die Grenzen des zulässigen Kommentars.

Angesichts der besonderen Schwere des Vorwurfs waren die von den innerstaatlichen Gerichten vorgebrachten Gründe hinsichtlich des Schutzes der Meinungsäußerungsfreiheit nicht ausreichend, um das Recht des Bf. auf Achtung seines Ansehens aufzuwiegen. Daher hat eine Verletzung von Art. 8 EMRK stattgefunden (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richter Thór Björgvinsson, gemeinsames im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum der Richter Garlicki, Sikuta und Poalelungi).

III. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 1.200,– für immateriellen Schaden, € 300,– für Kosten und Auslagen (6:1 Stimmen; Sondervotum von Richter Thór Björgvinsson).

Vom GH zitierte Judikatur:

Scharsach und News Verlagsgesellschaft/A v. 13.11.2003, NL 2003, 307; ÖJZ 2004, 512.

Von Hannover/D v. 24.6.2004, NL 2004, 144; EuGRZ 2004, 404; ÖJZ 2005, 588.

Pfeifer/A v. 15.11.2007, NL 2007, 307; ÖJZ 2008, 161.

Petrina/RO v. 14.10.2008, NL 2008, 287.

Standard Verlags GmbH/A (Nr. 2) v. 4.6.2009, NL 2009, 151; ÖJZ 2009, 926.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 30.3.2010, Bsw. 20928/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 109) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_2/Petrenco.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc ) abrufbar.

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