Normen
BFA-VG 2014 §18 Abs2 Z1
BFA-VG 2014 §21 Abs7
BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §52 Abs4
FrPolG 2005 §52 Abs9
FrPolG 2005 §53 Abs1
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z1
MRK Art8
MRK Art8 Abs2
VwGG §42 Abs2 Z1
VwGVG 2014 §27
VwGVG 2014 §28
VwGVG 2014 §42
VwGVG 2014 §9
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022210094.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1 Der im Juni 1986 geborene Revisionswerber, ein Staatsangehöriger des Kosovo, hält sich seit 1999 in Österreich auf. Ihm waren wiederholt Aufenthaltstitel, zuletzt der bis zum 18. April 2023 gültige Aufenthaltstitel „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“, erteilt worden. Der Revisionswerber ist verheiratet. In Österreich leben seine Ehefrau und seine drei minderjährigen Kinder, denen im Bundesgebiet jeweils ein Aufenthaltsrecht zukommt.
2 Im Hinblick auf vom Revisionswerber verübte Straftaten und deshalb erfolgte strafgerichtliche Verurteilungen erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 15. Juli 2021 gegen ihn gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA‑VG eine Rückkehrentscheidung und verband damit gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein mit einem Jahr befristetes Einreiseverbot. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG stellte das BFA fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in den Kosovo zulässig sei. Gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA‑VG erkannte es einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung ab und gewährte demzufolge gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 15. September 2021 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) eine gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde ‑ ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung ‑ als unbegründet ab und erhöhte die Dauer des erlassenen Einreiseverbotes auf zwei Jahre. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
4 Über die ‑ nach Ablehnung ihrer Behandlung und Abtretung der an den Verfassungsgerichtshof erhobenen Beschwerde (mit dem Beschluss VfGH 28.2.2022, E 3967/2021) ‑ fristgerecht ausgeführte außerordentliche Revision gegen dieses Erkenntnis hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen:
5 Die Revision ist ‑ entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch im angefochtenen Erkenntnis ‑ aus nachstehenden Gründen unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B‑VG zulässig und auch berechtigt.
6 Das BVwG ging davon aus, dass der seit Juni 1999, somit seit Vollendung seines dreizehnten Lebensjahres, (nahezu) durchgehend in Österreich aufhältige Revisionswerber erstmals mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Graz vom 3. November 2010 wegen eines (im Februar 2010 begangenen) Einbruchsdiebstahls zu einer bedingt nachgesehenen sechsmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde.
7 Vor diesem Hintergrund hätte das BVwG auf die Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 9 Abs. 4 Z 1 BFA‑VG idF vor dem FrÄG 2018 Bedacht nehmen müssen, was es jedoch unterließ.
8 § 9 Abs. 4 Z 1 BFA‑VG normierte bis zu seiner Aufhebung durch das FrÄG 2018, dass gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich aufgrund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, von hier nicht vorliegenden, eng gefassten Ausnahmefällen abgesehen, eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden darf, wenn ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhalts die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 StbG verliehen hätte werden können. Das setzt insbesondere voraus, dass sich der Fremde seit mindestens zehn Jahren rechtmäßig und ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten hat, davon zumindest fünf Jahre niedergelassen war (§ 10 Abs. 1 Z 1 StbG) und dass er nicht durch ein inländisches oder ausländisches Gericht wegen einer oder mehrerer Vorsatztaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist (§ 10 Abs. 1 Z 2 StbG).
9 Der Revisionswerber weist innerhalb des erwähnten maßgeblichen Zeitraums der ersten zehn Jahre seines (soweit nach den bisher getroffenen Feststellungen beurteilbar:) rechtmäßigen Aufenthalts in Österreich keine strafgerichtliche Verurteilung auf. Das BVwG hätte somit ‑ wie erwähnt ‑ darauf Bedacht nehmen müssen, dass beim Revisionswerber der frühere Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 1 BFA‑VG idF vor dem FrÄG 2018 erfüllt sein dürfte, wobei es keiner ins Detail gehenden Beurteilung einer Anwendbarkeit dieser Norm bedarf. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass die in dieser Bestimmung zum Ausdruck kommenden Wertungen im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG weiter beachtlich sind. Durch die Aufhebung dieser Bestimmung wollte der Gesetzgeber erkennbar nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen (vgl. dazu die RV 189 BlgNR 26. GP 27, wo diesbezüglich von „gravierender Straffälligkeit“ bzw. „schwerer Straffälligkeit“ gesprochen wird) einen fallbezogenen Spielraum einräumen. Um vor diesem Hintergrund unter Berücksichtigung der mit dem langjährigen Aufenthalt in Österreich bereits als Kind verbundenen Integration des Revisionswerbers eine Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot rechtfertigen zu können, bedürfte es also einer spezifischen, aufgrund besonders gravierender Straftaten vom Revisionswerber ausgehenden Gefahr (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 11.11.2021, Ra 2021/21/0267, Rn. 7 bis 11, mwN).
10 Mit der Frage des Vorliegens einer derart massiven Gefährdung aufgrund besonders gravierender Straftaten, die in der vorliegenden Konstellation eine Durchbrechung des in solchen Fällen typischerweise anzunehmenden Überwiegens der privaten und familiären Interessen eines Drittstaatsangehörigen erlauben könnte, hat sich das BVwG infolge Verkennung der Rechtslage nicht auseinandergesetzt. Diese Voraussetzungen sind aber nicht schon angesichts der zuletzt erfolgten Verurteilungen (im Jahr 2020 zweimal zu bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafen von zehn Monaten (zuzüglich einer Geldstrafe) bzw. zwölf Monaten wegen im Wesentlichen jeweils länger zurückliegender Straftaten und im Jahr 2021 zu einer Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten, davon zwölf Monate bedingt nachgesehen, wegen versuchter schwerer Nötigung und versuchter Nötigung) zu bejahen, zumal das BFA mit einem nur einjährigen Einreiseverbot das Auslangen fand. Diese Prüfung wird daher im fortzusetzenden Verfahren nachzuholen sein.
11 Im Übrigen ist dem BVwG zwar zuzugestehen, dass die Verlängerung der Dauer eines Einreiseverbotes nicht von vornherein unzulässig war, weil im Beschwerdeverfahren nach dem VwGVG ‑ mit Ausnahme von Verwaltungsstrafsachen (vgl. § 42 VwGVG) ‑ nicht das Verbot der „reformatio in peius“ gilt (vgl. dazu des Näheren VwGH 19.11.2020, Ra 2020/21/0371, Rn. 15, mwN).
12 Allerdings hat der Verwaltungsgerichtshof schon wiederholt betont, dass es auch in Bezug auf die Frage der Dauer des Einreiseverbotes im Allgemeinen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks vom Revisionswerber in einer mündlichen Verhandlung bedarf. Das gilt, worauf der Verwaltungsgerichtshof in dem zuletzt genannten Erkenntnis Ra 2020/21/0371 in Rn. 16 hinwies, gerade dann, wenn das BVwG ‑ für den Revisionswerber mangels Einräumung von Parteiengehör überraschend, gleichsam die Rolle des BFA als Fremdenpolizeibehörde, somit seiner Gegenpartei, übernehmend ‑ eine maßgebliche Verlängerung der Dauer des Einreiseverbotes (hier eine Verdoppelung) beabsichtigt. Die dafür erforderliche Annahme einer über die Beurteilung des BFA deutlich hinausgehenden Gefährdungsprognose bzw. einer relativierenden Beurteilung der privaten und familiären Interessen des Revisionswerbers hätte somit nicht ohne vorhergehende mündliche Verhandlung und ohne Verschaffung eines persönlichen Eindrucks von ihm erfolgen dürfen.
13 Die ‑ im fortzusetzenden Verfahren nachzuholende ‑ mündliche Verhandlung wird im Übrigen auch Gelegenheit für das BVwG bieten, die konkrete familiäre Situation des Revisionswerbers und die Auswirkungen einer Trennung für seine Angehörigen, insbesondere für die drei minderjährigen Kinder, näher abzuklären. Außerdem wird zu berücksichtigen sein, ob und in welchem Umfang der Revisionswerber dem gegen ihn erlassenen Einreiseverbot bereits entsprochen und sich aufgrund dessen (insbesondere) im Herkunftsstaat aufgehalten hat.
14 Schließlich ist auch noch zu bemängeln, dass die Entscheidung des BVwG in Bezug auf die Aberkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde nach § 18 Abs. 2 Z 1 BFA‑VG verfehlt ist.
15 Das BVwG berücksichtigte dabei nämlich nicht die zu dieser Bestimmung ergangene ständige Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs, wonach es für die Begründung der Annahme, die sofortige Ausreise des Drittstaatsangehörigen sei im Interesse der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich, nicht genügt, auf eine ‑ die Aufenthaltsbeendigung als solche rechtfertigende ‑ Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch den Fremden zu verweisen, sondern dass darüber hinaus darzutun ist, warum die Aufenthaltsbeendigung sofort ‑ ohne Aufschub und unabhängig vom Ergebnis des Beschwerdeverfahrens ‑ zu erfolgen hat. Dafür ist es nicht ausreichend, jene Überlegungen ins Treffen zu führen, die schon bei der Entscheidung über die Verhängung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme selbst maßgeblich waren (vgl. zum Ganzen und des Näheren etwa VwGH 27.8.2020, Ra 2020/21/0172, Rn. 14, mwN).
16 Nur darauf nahm das BVwG aber bei der diesbezüglichen Begründung Bezug, wobei sich fallbezogen schon von vornherein die Frage stellt, weshalb es nach einem Aufenthalt des Revisionswerbers von mehr als 20 Jahren der sofortigen Effektuierung eines vom BFA mit nur einem Jahr befristeten Einreiseverbotes bedürfen soll.
17 Das angefochtene Erkenntnis war daher zur Gänze (vorrangig) gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
18 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014. Die Abweisung des Mehrbegehrens betrifft die in der Revision zusätzlich verzeichnete Umsatzsteuer, die in den Pauschalbeträgen nach der genannten Verordnung bereits enthalten ist.
Wien, am 10. November 2022
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