VwGH Ra 2021/21/0267

VwGHRa 2021/21/026711.11.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel, die Hofrätinnen Dr. Julcher und Dr. Wiesinger sowie den Hofrat Dr. Chvosta als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des F S, vertreten durch Dr. Emelle Eglenceoglu, Rechtsanwältin in 6800 Feldkirch, Gilmstraße 2, gegen das am 23. April 2021 mündlich verkündete und mit 1. Juli 2021 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, L510 2228495‑1/22E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs4 idF idF 2015/I/070
BFA-VG 2014 §9 Abs4 Z1 idF 2015/I/070
FrÄG 2018
FrPolG 2005 §52 Abs4
FrPolG 2005 §53 Abs1
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z1
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z6
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z7
FrPolG 2005 §53 Abs3 Z8
MRK Art8
StbG 1985 §10 Abs1
StbG 1985 §10 Abs1 Z1
StbG 1985 §10 Abs1 Z2
VwGG §42 Abs2 Z1
VwRallg

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021210267.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein 1999 geborener türkischer Staatsangehöriger, reiste spätestens im Mai 2006 im Weg des Familiennachzuges nach Österreich ein. Ihm wurden wiederholt Aufenthaltstitel, zuletzt jährlich verlängerte Aufenthaltstitel „Rot‑weiß‑Rot ‑ Karte plus“ mit letztmaliger Gültigkeit bis zum 28. Juli 2020, erteilt. Ein entsprechender Verlängerungsantrag wurde gestellt.

2 Mit Bescheid vom 17. Jänner 2020 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen ihn gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA‑VG eine Rückkehrentscheidung, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei, und erließ gegen ihn gemäß § 53 Abs. 1 und 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Einreiseverbot.

3 Mit dem angefochtenen, in der Verhandlung am 23. April 2021 mündlich verkündeten und mit 1. Juli 2021 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) eine gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.

4 In seiner Begründung bezog sich das BVwG vor allem auf verschiedene, im Einzelnen näher dargestellte, zwischen 30. September 2014 und 13. Oktober 2020 ergangene rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilungen des Revisionswerbers, vor allem wegen Delikten gegen fremdes Vermögen, versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt und Körperverletzung. Dazu kämen, so das BVwG, im Erkenntnis aufgezählte Übertretungen von Verwaltungsvorschriften.

Der Revisionswerber befinde sich nach dem Pflichtschulbesuch, so stellte das BVwG zusammengefasst fest, seit dem 14. Mai 2018 in einem Lehrverhältnis als Stuckateur und Trockenbauer, die Lehrabschlussprüfung sei für den Herbst 2021 vorgesehen. Er sei ledig und habe keine Sorgepflichten. Seine Muttersprache sei Türkisch, er spreche jedoch auch sehr gut Deutsch sowie Englisch auf Schulniveau. In Österreich hielten sich seine Eltern, in deren Haushalt er lebe, überdies Geschwister und Cousins auf. Auch in der Türkei, wo er die ersten sechs Lebensjahre verbracht sowie den Kindergarten und die Volksschule besucht habe, lebten insbesondere seine Großeltern, Onkel und Tanten, zu denen er jedoch keine Kontakte unterhalte.

Im Rahmen seiner Interessenabwägung berücksichtigte das BVwG diese Gesichtspunkte, vor allem die familiären und die durch den langen Aufenthalt entwickelten privaten Bindungen des Revisionswerbers in Österreich, den Erwerb guter Deutschkenntnisse und seine Erwerbstätigkeit. Infolge seiner wiederholten, durch zahlreiche Rückfälle gekennzeichneten Straffälligkeit führe die Abwägung nach § 9 BFA‑VG iVm Art. 8 Abs. 2 EMRK jedoch zum Ergebnis, dass die gewichtigen öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung die familiären und privaten Interessen des Revisionswerbers am Verbleib im Bundesgebiet überwiegen. Mögliche Schwierigkeiten bei der Wiedereingliederung im Heimatland seien im öffentlichen Interesse in Kauf zu nehmen.

Unter Berücksichtigung der wiederholten Straffälligkeit des Revisionswerbers erachtete das BVwG, ebenso wie bereits das BFA, somit die Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG und eines auf § 53 Abs. 1 und 3 Z 1 FPG gestützten Einreiseverbotes für erforderlich und „unbedingt“ geboten. Ausreichend lange Zeit eines Wohlverhaltens, das auf einen Gesinnungswandel schließen lassen könnte, liege nicht vor.

5 Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens ‑ eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet ‑ erwogen:

6 Die Revision erweist sich als zulässig und berechtigt, weil das BVwG ‑ wie in der Revision im Ergebnis zutreffend aufgezeigt wird ‑ von der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu § 9 Abs. 4 Z 1 BFA‑VG idF vor dem FrÄG 2018 und zur Rechtstellung türkischer Staatsangehöriger, denen Rechte nach dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 1/80 zukommen, abgewichen ist.

7 § 9 Abs. 4 Z 1 BFA‑VG normierte bis zu seiner Aufhebung durch das FrÄG 2018, dass gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich auf Grund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, von hier nicht vorliegenden, eng gefassten Ausnahmefällen abgesehen, eine Rückkehrentscheidung nicht erlassen werden darf, wenn ihm vor Verwirklichung des maßgeblichen Sachverhalts die Staatsbürgerschaft gemäß § 10 Abs. 1 StbG verliehen hätte werden können.

8 Das setzt voraus, dass sich der Fremde seit mindestens zehn Jahren rechtmäßig und ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten hat, davon zumindest fünf Jahre niedergelassen war (§ 10 Abs. 1 Z 1 StbG) und dass er nicht durch ein inländisches oder ausländisches Gericht wegen einer oder mehrerer Vorsatztaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist (§ 10 Abs. 1 Z 2 StbG).

9 Der Revisionswerber weist innerhalb des erwähnten maßgeblichen Zeitraums der ersten zehn Jahre seines offenbar ab Mai 2006 rechtmäßigen Aufenthalts in Österreich zunächst zwei Verurteilungen zu Geldstrafen auf. Die erste Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe durch das Landesgericht Feldkirch vom 28. Oktober 2016 bezog sich auf erst ab dem 12. Juni 2016 begangene Straftaten.

10 Das BVwG hätte somit darauf Bedacht nehmen müssen, dass beim Revisionswerber der frühere Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 1 BFA‑VG idF vor dem FrÄG 2018 erfüllt sein dürfte, wobei es keiner ins Detail gehenden Beurteilung einer Anwendbarkeit dieser Norm bedarf. Der Verwaltungsgerichtshof hat aber bereits wiederholt darauf hingewiesen, dass die in dieser Bestimmung zum Ausdruck kommenden Wertungen im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG weiter beachtlich sind (vgl. dazu etwa VwGH 16.7.2020, Ra 2019/21/0335, Rn. 13, mwN, und darauf Bezug nehmend VwGH 18.1.2021, Ra 2020/21/0306, Rn. 19). Durch die Aufhebung dieser Bestimmung wollte der Gesetzgeber erkennbar nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen (vgl. dazu die RV 189 BlgNR 26. GP  27, wo diesbezüglich von „gravierender Straffälligkeit“ bzw. „schwerer Straffälligkeit“ gesprochen wird) einen fallbezogenen Spielraum einräumen (vgl. dazu aus der letzten Zeit etwa VwGH 27.5.2021, Ra 2021/21/0011, Rn. 9, mwN).

11 Um vor diesem Hintergrund unter Berücksichtigung der mit dem langjährigen Aufenthalt in Österreich seit seiner Kindheit verbundenen Integration des Revisionswerbers eine Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot rechtfertigen zu können, bedürfte es also einer spezifischen, auf Grund besonders gravierender Straftaten vom Revisionswerber ausgehenden Gefahr (vgl. dazu des Näheren VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0238, Rn. 12, und die dort genannten Beispiele, nämlich Vergewaltigung und grenzüberschreitender Suchtgifthandel sowie die Fälle des § 53 Abs. 3 Z 6 bis 8 FPG; siehe zum Ganzen etwa auch VwGH 31.8.2021, Ra 2021/21/0075, Rn. 12 bis 14, mwN).

12 Mit der Frage des Vorliegens einer derart massiven Gefährdung aufgrund besonders gravierender Straftaten, die in der vorliegenden Konstellation eine Durchbrechung des in solchen Fällen typischerweise anzunehmenden Überwiegens der privaten und familiären Interessen eines Drittstaatsangehörigen erlauben könnte, hat sich das BVwG infolge Verkennung der Rechtslage nicht auseinandergesetzt.

13 Im Übrigen ist auch noch darauf hinzuweisen, dass sich der Revisionswerber im Zeitraum bis zur Erlassung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme unbestritten seit mehr als zehn Jahren ununterbrochen und rechtmäßig in Österreich aufgehalten hatte. Auf der Grundlage der Feststellungen des BVwG zum Familiennachzug und der eigenen Berufstätigkeit des Revisionswerbers verfügt er (nach wie vor) über eine Berechtigung nach den Art. 6 und 7 des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/80. Die Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen gegen ihn wäre daher am Gefährdungsmaßstab des § 52 Abs. 5 FPG zu prüfen gewesen (vgl. dazu etwa VwGH 18.1.2021, Ra 2020/21/0306, Rn. 15, und des Näheren zuletzt VwGH 7.10.2021, Ra 2020/21/0363, Rn. 14/15, jeweils mwN).

14 Nach dem Gesagten war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

15 Der Kostenausspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 11. November 2021

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