VwGH Ra 2021/02/0258

VwGHRa 2021/02/025829.11.2022

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Dr. Köller, den Hofrat Mag. Straßegger sowie die Hofrätin Dr. Koprivnikar als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Schörner, über die Revision des P K in W, vertreten durch Mag. Petra Trauntschnig, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Hegelgasse 13/21, gegen das am 4. November 2021 verkündete und am 5. Dezember 2021 gekürzt ausgefertigte Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien, VGW‑001/042/11088/2021‑2 und 7, betreffend Wiedereinsetzung iA Übertretungen des Wiener Tierhaltegesetzes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Magistrat der Stadt Wien), zu Recht erkannt:

Normen

MRK Art6
VwGG §42 Abs2 Z3
VwGVG 2014 §29 Abs2a idF 2017/I/024
VwGVG 2014 §29 Abs4 idF 2017/I/024
VwGVG 2014 §29 Abs5 idF 2017/I/024
VwGVG 2014 §44 Abs1
VwGVG 2014 §44 Abs6
VwRallg
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021020258.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Das Land Wien hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Magistrat der Stadt Wien lastete dem Revisionswerber mit Straferkenntnis vom 2. Oktober 2020 Übertretungen des Wiener Tierhaltegesetzes an und verhängte über ihn Geld‑ und Ersatzfreiheitsstrafen.

2 Wegen Versäumung der Frist zur Erhebung einer Beschwerde gegen das Straferkenntnis stellte der Revisionswerber einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, der mit Bescheid des Magistrats vom 1. Juli 2021 abgewiesen wurde.

3 Aufgrund der dagegen erhobenen Beschwerde schrieb das Verwaltungsgericht Wien für den 4. November 2021 eine Verhandlung aus. Dem Revisionswerber wurde die Ladung für diese Verhandlung am 28. Oktober 2021 zugestellt. Zur Verhandlung ist keine der geladenen Parteien erschienen. Nach Verlesung des Aktes verkündete der Richter das die Beschwerde abweisende Erkenntnis samt Entscheidungsgründen. Diese enthalten ‑ neben der wörtlichen Wiedergabe des Wiedereinsetzungsantrages, des bekämpften Bescheides und der Beschwerde ‑ Feststellungen über die Abfertigung des Straferkenntnisses, den darüber ausgestellten Rückschein und umfangreiche Wiedergaben aus dem in der Folge geführten Vollstreckungsverfahren. Es folgt eine Beweiswürdigung und eine rechtliche Beurteilung, sowie eine Rechtsmittelbelehrung und eine Belehrung gemäß § 29 Abs. 2a VwGVG.

4 Nach der am 16. November 2021 erfolgten Zustellung des Verhandlungsprotokolls an den Revisionswerber schrieb dieser am 25. November 2021 wörtlich an das Verwaltungsgericht:

„[...]

Ich verlange hiermit bitte eine vollständige bzw die lange Version des Verhandlungsprotokolls, um gegen ihr Urteil vom 04.11.2021, fristgerecht, Revision einlegen zu können.

[...]“

5 Das Verwaltungsgericht verständigte daraufhin mit Schreiben vom 30. November 2021 den Revisionswerber davon, dass ihm das Verhandlungsprotokoll rechtsgültig am 16. November 2021 zugestellt worden sei und stellte eine mit 6. Dezember 2021 datierte und als „gekürzte Ausfertigung gemäß § 29 Abs. 5 VwGVG“ bezeichnete Ausfertigung des Erkenntnisses her. Diese enthält neben dem laut Verhandlungsprotokoll schon verkündeten Text die Darstellung der Verhandlung, der Zustellung des Protokolls und des Fehlens von Ausfertigungsanträgen. Zusätzlich ist auch eine Begründung für den Ausspruch der Unzulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG sowie die Belehrung enthalten, dass eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof und eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof nicht zulässig seien, weil kein (fristgerechter) Antrag auf Ausfertigung der Entscheidung gestellt worden sei.

6 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, zu der nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens die belangte Behörde keine Revisionsbeantwortung erstattete.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

7 Der Revisionswerber bringt zur Zulässigkeit der Revision unter anderem vor, das Verwaltungsgericht sei von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Vorbereitungsfrist gemäß § 44 Abs. 6 VwGVG sowie zur Zulässigkeit gekürzter Ausfertigungen des Erkenntnisses gemäß § 29 Abs. 5 VwGVG abgewichen, indem es trotz rechtzeitigen Antrags gemäß § 29 Abs. 2a VwGVG das Erkenntnis in gekürzter Form ausgefertigt habe.

8 Die Revision ist im Hinblick auf dieses Vorbringen zulässig und begründet.

9 Zur Zulässigkeit der Revision gemäß § 25a Abs. 4a letzter Satz VwGG:

10 Der im gegebenen Zusammenhang maßgebliche § 29 VwGVG, BGBl. I Nr. 33/2013 in der Fassung BGBl. I Nr. 24/2017, lautet auszugsweise:

Verkündung und Ausfertigung der Erkenntnisse

§ 29. [...]

(2a) Das Verwaltungsgericht hat im Fall einer mündlichen Verkündung die Niederschrift den zur Erhebung einer Revision beim Verwaltungsgerichtshof oder einer Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof legitimierten Parteien und Organen auszufolgen oder zuzustellen. Der Niederschrift ist eine Belehrung anzuschließen:

1. über das Recht, binnen zwei Wochen nach Ausfolgung bzw. Zustellung der Niederschrift eine Ausfertigung gemäß Abs. 4 zu verlangen;

2. darüber, dass ein Antrag auf Ausfertigung des Erkenntnisses gemäß Abs. 4 eine Voraussetzung für die Zulässigkeit der Revision beim Verwaltungsgerichtshof und der Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof darstellt.

[...]

(4) Den Parteien ist eine schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses zuzustellen. Eine schriftliche Ausfertigung des Erkenntnisses ist in den in Art. 132 Abs. 1 Z 2 B‑VG genannten Rechtssachen auch dem zuständigen Bundesminister zuzustellen.

(5) Wird auf die Revision beim Verwaltungsgerichtshof und die Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof von den Parteien verzichtet oder nicht binnen zwei Wochen nach Ausfolgung bzw. Zustellung der Niederschrift gemäß Abs. 2a eine Ausfertigung des Erkenntnisses gemäß Abs. 4 von mindestens einem der hiezu Berechtigten beantragt, so kann das Erkenntnis in gekürzter Form ausgefertigt werden. Die gekürzte Ausfertigung hat den Spruch sowie einen Hinweis auf den Verzicht oder darauf, dass eine Ausfertigung des Erkenntnisses gemäß Art. 4 nicht beantragt wurde, zu enthalten.“

11 Gemäß § 25a Abs. 4a letzter Satz VwGG in der Fassung BGBl. I Nr. 24/2017 ist eine Revision, wenn das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes mündlich verkündet wurde (§ 29 Abs. 2 VwGVG), nur nach einem Antrag auf Ausfertigung des Erkenntnisses gemäß § 29 Abs. 4 VwGVG durch mindestens einen der hierzu Berechtigten zulässig. Gemäß § 28 Abs. 4 VwGG ist der Revision eine Ausfertigung, Abschrift oder Kopie des angefochtenen Erkenntnisses anzuschließen, wenn es dem Revisionswerber zugestellt worden ist, bzw. andernfalls das Vorliegen der Voraussetzungen des § 25a Abs. 4a letzter Satz oder des § 26 Abs. 2 VwGG nachzuweisen.

12 Der Revisionswerber bringt in der Revision vor, er habe mit E-Mail vom 25. November 2021 eine „vollständige bzw die lange Version des Verhandlungsprotokolls, um gegen ihr Urteil vom 4. November 2021, fristgerecht Revision einbringen zu können“ beantragt und somit einen Antrag gemäß § 29 Abs. 2a VwGVG gestellt.

13 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes kommt es bei der Auslegung von Parteianbringen auf das aus diesen erkenn- und erschließbare Ziel des Einschreiters an; Parteierklärungen und damit auch Anbringen sind ausschließlich nach ihrem objektiven Erklärungswert auszulegen (vgl. VwGH 16.4.2020, Ra 2019/22/0035, mwN).

14 Gemäß der ständigen hg. Rechtsprechung zum Schutz rechtsunkundiger Parteien im Verwaltungsverfahren schadet die falsche Bezeichnung eines Schriftsatzes nicht und ist für die Beurteilung des Charakters einer Eingabe ihr wesentlicher Inhalt, der sich aus dem gestellten Antrag erkennen lässt, und die Art des in diesem gestellten Begehrens maßgebend (vgl. VwGH 27.5.2014, Ro 2014/16/0061, mwN).

15 Die Eingabe des Revisionswerbers vom 25. November 2021 zielt schon nach der darin enthaltenen Begründung eindeutig auf Vorbereitungsmaßnahmen zur Erhebung einer Revision gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes ab und wurde binnen offener Frist des § 29 Abs. 2a Z 1 VwGVG eingebracht. Nun mag zwar die Kenntnis vom Inhalt des Verhandlungsprotokolls dem Verfassen einer Revision dienen, doch war dieses nach dem Akteninhalt ‑ und dem Kenntnisstand des Richters des Verwaltungsgerichts (vgl. dessen Antwort vom 30. November 2021 auf die hier in Rede stehende Eingabe des Revisionswerbers) ‑ bereits dem Revisionswerber zugestellt, sodass ihm mit Blick auf die in der Verhandlungsschrift enthaltene Belehrung gemäß § 29 Abs. 2a VwGVG evident eine Verwechslung des Ausdrucks unterlief und er statt des Verhandlungsprotokolls die Entscheidung meinte. Daher hätte das Verwaltungsgericht das Verlangen des Revisionswerbers nicht als nutzlosen Antrag auf nochmalige Übermittlung des Verhandlungsprotokolls verstehen dürfen. Ausgehend davon ist die Eingabe des Revisionswerbers vom 25. November 2021 als Antrag nach § 29 Abs. 2a VwGVG zu werten.

16 Somit ist die Zulässigkeitsvoraussetzung des § 25a Abs. 4a letzter Satz VwGG vorliegend erfüllt.

17 Wurde eine Ausfertigung des Erkenntnisses nach § 29 Abs. 4 VwGVG beantragt, ist eine gekürzte Ausfertigung, die nach § 29 Abs. 5 VwGVG keine Begründung enthalten muss, unzulässig (vgl. diesbezüglich VwGH 22.10.2018, Ra 2018/16/0103, Rn. 15). Im Hinblick darauf, dass aufgrund des rechtzeitig gestellten Antrags einer Partei das Revisionsrecht nicht untergegangen ist, ist die tatsächlich zugestellte Ausfertigung mit Revision bekämpfbar.

18 Im vorliegenden Fall enthält die dennoch ergangene „gekürzte“ Ausfertigung ‑ ebenso wie das mündlich verkündete Erkenntnis laut dessen niederschriftlicher Beurkundung ‑ Entscheidungsgründe und ist insofern auch überprüfbar.

19 Zur Zulässigkeit und Begründetheit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG:

20 Gemäß § 44 Abs. 6 VwGVG sind die Parteien so rechtzeitig zur Verhandlung zu laden, dass ihnen von der Zustellung der Ladung an mindestens zwei Wochen zur Vorbereitung zur Verfügung stehen.

21 Wenn die vorgesehene Mindestfrist von zwei Wochen zwischen Zustellung der Ladung und der Verhandlung nicht gewahrt wurde, belastet nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Behörde den bekämpften Bescheid mit Rechtswidrigkeit, weil nicht gesagt werden kann, dass die Behörde bei Wahrung dieser Mindestfrist nicht zu einem anderen, für den Beschwerdeführer günstigen Ergebnis gelangt wäre, weshalb sich dieser Verfahrensmangel als wesentlich erweist. Die zweiwöchige Vorbereitungszeit gilt jedenfalls für die erste Verhandlung (vgl. VwGH 11.5.2018, Ra 2017/02/0169, mwN).

22 Da im vorliegenden Fall die Ladung zur mündlichen Verhandlung dem Revisionswerber am 28. Oktober 2021 zugestellt wurde, endete die nach § 44 Abs. 6 VwGVG vorgeschriebene zweiwöchige Vorbereitungsfrist mit Ablauf des 11. November 2021 und hätte die Verhandlung bis dahin nicht durchgeführt werden dürfen. Die schon am 4. November 2021 abgehaltene Verhandlung erweist sich somit als rechtswidrig. Dies ist dem Unterbleiben einer Verhandlung gleichzuhalten. Bei einem rechtswidrigen Unterlassen der nach Art. 6 EMRK oder Art. 47 GRC erforderlichen mündlichen Verhandlung ist keine Relevanzprüfung hinsichtlich des Verfahrensmangels vorzunehmen (vgl. erneut VwGH 11.5.2018, Ra 2017/02/0169, mwN).

23 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen einzugehen war.

24 Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 29. November 2022

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