VwGH Ra 2021/02/0208

VwGHRa 2021/02/02086.10.2021

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und den Hofrat Mag. Straßegger sowie die Hofrätin Dr. Koprivnikar als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Schörner, über die Revision des K in S, vertreten durch Mag. Karin Luxbacher und Mag. Julia Tesch‑Kohlbeck, LL.M., Rechtsanwältinnen in 2100 Korneuburg, Hauptplatz 20, gegen den Beschluss des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich vom 5. August 2021, LVwG‑S‑1323/002‑2021, betreffend Abweisung des Antrages auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand i.A. zweier Übertretungen der StVO sowie einer Übertretung des KFG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Korneuburg), den Beschluss gefasst:

Normen

VwGVG 2014 §33 Abs1

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021020208.L00

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Mit Straferkenntnis der belangten Behörde vom 20. April 2021 wurden über den Revisionswerber wegen näher konkretisierter Verwaltungsübertretungen 1. des § 20 Abs. 2 StVO, § 99 Abs. 2e StVO iVm. § 7 Abs. 3 Z 3 FSG, 2. des § 20 Abs. 2 StVO sowie 3. des § 50 Abs. 1, § 102 Abs. 1 KFG Geld- sowie Ersatzfreiheitsstrafen zu 1. und 2. jeweils gemäß § 99 Abs. 2e StVO sowie zu 3. gemäß § 134 Abs. 1 KFG verhängt, und ein Kostenbeitrag gemäß § 64 Abs. 2 VStG vorgeschrieben. Das Straferkenntnis wurde dem Revisionswerber zu Handen seiner Rechtsvertreter zugestellt.

2 Der anwaltlich vertretene Revisionswerber erhob dagegen Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich (LVwG). Dieses forderte den Revisionswerber in der Folge mit Schreiben vom 11. Juni 2021 unter Vorhalt des Zustelldatums zur Stellungnahme auf, weil der im Behördenakt erliegende Zustellnachweis des Straferkenntnisses das Datum 27. April 2021 aufweise und die Beschwerde verspätet erscheine.

3 Der Revisionswerber erstattete eine Stellungnahme und beantragte die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Begründend führte er aus, der Bescheid sei postalisch zugestellt worden und von einer näher genannten sehr verlässlichen Mitarbeiterin entgegengenommen worden. Diese halte sich strikt an die Weisung, alle persönlich übernommenen Poststücke unverzüglich zu öffnen, mit dem Posteingangsstempel des Zustelltages zu versehen und in die Postmappe zu legen. So sei sie auch mit diesem Bescheid verfahren. Der Eingangsstempel sei mit dem Datum 28. April 2021 angebracht worden und sei sich die Mitarbeiterin sicher, dass es sich dabei um den Tag der Übernahme handle. Die Diskrepanz lasse sich nur dadurch erklären, dass entweder dem Postzusteller ein Versehen beim Datumsvermerk unterlaufen sei oder dass die Mitarbeiterin möglicherweise unbeabsichtigt und unbemerkt den Datumsstempel um einen Tag „überdreht“ habe. Sollte dieser Fehler tatsächlich passiert sein, so handle es sich um eine entschuldbare Fehlleistung, die auch einer sehr sorgfältigen Mitarbeiterin unterlaufen könne und einen minderen Grad des Versehens darstelle. Es würde sich um das erste Versehen der Mitarbeiterin handeln, die seit Februar 2019 in der Kanzlei beschäftigt sei; den Anwältinnen sei keine Verletzung von Organisations- und Kontrollpflichten vorzuwerfen.

4 Mit Beschluss des LVwG vom 5. August 2021 wurde dieser Antrag auf Wiedereinsetzung gemäß § 31 iVm. § 33 Abs. 1 VwGVG abgewiesen. Eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG erklärte das LVwG für unzulässig.

5 Begründend führte das LVwG aus, auf Wiedereinsetzungsanträge nach dem VwGVG seien nach näherer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die in der Rechtsprechung zu § 71 AVG entwickelten Grundsätze übertragbar. Das LVwG hege keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Zustellung des Straferkenntnisses. Das Vorliegen von Wiedereinsetzungsgründen sei nur in jenem Rahmen zu untersuchen, der durch die Behauptungen des Wiedereinsetzungswerbers gesteckt sei. Im Antrag werde zunächst geltend gemacht, dass die Zustellung erst am 28. April 2021 erfolgt sei; diesfalls wäre die Beschwerde als rechtzeitig anzusehen und kein Fristversäumnis eingetreten, weshalb das Vorbringen keinen Wiedereinsetzungsgrund darstelle. Zum weiteren Wiedereinsetzungsgrund, wonach es möglich sei, dass die Kanzleimitarbeiterin möglicherweise den Datumsstempel überdreht habe, werde ausgeführt, dass die falsche Einstellung des Stempels kein minderes Versehen sei. Bei der Einstellung sei besondere Sorgfalt walten zu lassen und müsse ein derartiges „Überdrehen“ jedenfalls bei gehöriger Sorgfalt (nach Einstellung sei jedenfalls das Datum des „Einlaufstempels“ auf die datumsmäßige Richtigkeit zu überprüfen) auffallen. Im Übrigen sei eine Kontrolle der Mitarbeiterin nicht dargelegt worden.

6 Eine (gleichzeitige) Zurückweisung der Beschwerde als verspätet ist den vorgelegten Akten nicht zu entnehmen.

7 Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die mit einem Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung verbunden wurde.

8 Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird. Auf Beschlüsse der Verwaltungsgerichte ist Art. 133 Abs. 4 B‑VG sinngemäß anzuwenden (Art. 133 Abs. 9 B‑VG).

9 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.

10 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision ‑ gesondert ‑ vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

11 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, „das Erkenntnis der belangten Behörde“ weiche von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Wiedereinsetzung im Zusammenhang mit Fehlern von Kanzleikräften bzw. mit Sorgfalts‑, Kontroll- und Organisationsverpflichtungen eines Rechtsanwalts ab bzw. fehle Rechtsprechung zum Verschuldensgrad beim Setzen eines falschen Posteingangsvermerks. Das LVwG stütze seine Entscheidung auf VwGH 23.11.2009, 2009/03/0089. Rein technische Vorgänge beim Abfertigen von Schriftstücken könne ein Rechtsanwalt ohne nähere Beaufsichtigung einer ansonsten verlässlichen Kanzleikraft überlassen; dazu zählten die Kuvertierung, die Beschriftung eines Kuverts oder die Postaufgabe, also manipulative Tätigkeiten. Eine regelmäßige Kontrolle, ob eine erfahrene und zuverlässige Kanzleikraft rein manipulative Tätigkeiten auch tatsächlich ausführe, sei dem Parteienvertreter nicht zuzumuten, wolle man seine Sorgfaltspflicht nicht überspannen. Das Setzen eines Posteingangsstempels sei wohl der Beschriftung eines Kuverts oder der Postaufgabe gleichzuhalten. Es könne dem Parteienvertreter nicht zugemutet werden, laufend zu kontrollieren, ob der Posteingangsstempel mit dem richtigen Zustelldatum gesetzt werde. Dies sei auch in der Stellungnahme ausgeführt worden. Das LVwG sei von der Rechtsprechung abgewichen, indem es von einem groben Sorgfaltsverstoß der Kanzleikraft ausgegangen sei. Eine konkrete Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum „Überdrehen des Poststempels“ liege nicht vor. Es liege nach der Rechtsprechung ein minderer Grad des Versehens vor, das Ereignis hätte von einem Durchschnittsmenschen objektiv nicht verhindert werden können. Auch ausgehend von einem nicht bloß leichten Verschulden der Kanzleikraft beruhe die Fristversäumnis der Rechtsvertreterin alleine auf dem von dieser unrichtig gesetzten Posteingangsvermerk. Eine Kontrolle des Eingangsstempels jeden Poststückes sei einem Rechtsvertreter nicht zumutbar. Der Verfassungsgerichtshof habe in einer näher bezeichneten Entscheidung die Unterlassung der Termineintragung durch eine Kanzleimitarbeiterin als unvorhergesehenes Ereignis sowie als einen minderen Grad des Versehens angesehen. Auch einem sorgfältigen Menschen könne ein Überdrehen des Poststempels passieren; der Rechtsanwältin könne kein Verschulden angelastet werden, weil ihr nicht zugemutet werden könne, die Richtigkeit eines Poststempels zu kontrollieren.

12 Dazu ist Folgendes auszuführen:

13 Die Frage, ob das LVwG fallbezogen zu Recht das Vorliegen eines minderen Grades des Versehens verneint hat, ist grundsätzlich keine Rechtsfrage, der über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG zukommt. Eine solche Rechtsfrage läge nur dann vor, wenn die Beurteilung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen worden wäre (vgl. etwa VwGH je 29.5.2020, Ra 2020/05/0052 bis 0055, und Ra 2020/05/0058).

14 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt ein dem Vertreter widerfahrenes Ereignis einen Wiedereinsetzungsgrund für die Partei nur dann dar, wenn dieses Ereignis für den Vertreter selbst unvorhergesehen oder unabwendbar war und es sich hiebei höchstens um einen minderen Grad des Versehens handelt. Das Verschulden von Kanzleikräften stellt für den Vertreter dann ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis in diesem Sinn dar, wenn der Vertreter der ihm zumutbaren und nach der Sachlage gebotenen Überwachungspflicht gegenüber seinen Kanzleikräften nachgekommen ist. Dabei wird durch entsprechende Kontrollen dafür vorzusorgen sein, dass Unzulänglichkeiten durch menschliches Versagen aller Voraussicht nach hintangehalten werden. Zu den Aufgaben des Rechtsanwaltes im Zusammenhang mit der Wahrung einer Frist gehört es, die Frist festzusetzen, ihre Vormerkung anzuordnen und die richtige Eintragung im Kalender im Rahmen der ihm gegenüber seinen Angestellten gegebenen Aufsichtspflicht zu überwachen (vgl. z.B. VwGH 30.10.2003, 2003/15/0042 und 0071; VwGH 29.9.2004, 99/13/0248). Er hat Maßnahmen vorzukehren, die Fehleintragungen verhindern oder sie rechtzeitig als solche erkennen lassen, indem er z.B. eine andere geschulte und verlässliche Mitarbeiterin mit der laufenden Kontrolle der Eintragungen betraut oder selbst regelmäßig in kurzen Intervallen geeignete Überprüfungen durchführt. Macht ein Wiedereinsetzungswerber als Wiedereinsetzungsgrund ein Versehen eines Kanzleimitarbeiters seines bevollmächtigten Rechtsanwaltes geltend, so hat er durch konkrete Behauptungen im Wiedereinsetzungsantrag nicht nur darzutun, worin das Versehen bestanden hat, sondern auch darzulegen, dass es zur Fehlleistung des Kanzleiangestellten gekommen ist, obwohl die dem Rechtsanwalt obliegenden Aufsichts- und Kontrollpflichten eingehalten wurden (vgl. etwa VwGH 30.3.2000, 2000/16/0057). Den Rechtsanwalt trifft daher eine besondere Überwachungspflicht hinsichtlich der Führung des Fristenvormerkes.

15 Ein Vertreter verstößt auch dann gegen die ihm obliegende Sorgfaltspflicht, wenn er weder im Allgemeinen noch im Besonderen (wirksame) Kontrollsysteme vorgesehen hat, die geeignet sind, im Fall des Versagens einer Kanzleikraft Fristversäumungen auszuschließen (vgl. VwGH 3.2.2021, Ra 2020/05/0056, mwN).

16 Rein technische Vorgänge beim Abfertigen von Schriftstücken kann ein Rechtsanwalt ohne nähere Beaufsichtigung einer ansonsten verlässlichen Kanzleikraft überlassen. Solche Vorgänge sind etwa die Kuvertierung, die Beschriftung eines Kuverts oder die Postaufgabe, also manipulative Tätigkeiten (vgl. zu all dem VwGH 4.5.2020, Ra 2020/05/0035, mwN). Um einen solchen rein manipulativen Vorgang handelt es sich jedoch etwa bei der kanzleimäßigen Bestimmung einer Rechtsmittelfrist nicht. Wenn der Rechtsvertreter etwa eine solche Frist daher nicht selbst kalendermäßig konkret bestimmte, sondern diese Bestimmung etwa seiner Kanzleileiterin überließ, so wäre es ihm im Rahmen der gebotenen Überwachungspflicht jedenfalls oblegen, diesen Vorgang bzw. die richtige Eintragung im Kalender zu kontrollieren (vgl. VwGH 16.12.2004, 2004/16/0198, mwN).

17 Wird allerdings in keiner Weise dargelegt, ob jemals eine Kontrolle (auch) der manipulativen Vorgänge im Kanzleibetrieb oder der Kanzleiangestellten erfolgte bzw. wie das diesbezügliche Kontrollsystem eingerichtet ist, kann von einer Organisation des Kanzleibetriebes, die eine fristgerechte Setzung von Vertretungshandlungen mit größtmöglicher Zuverlässigkeit sicherstellt, und von einer wirksamen Überwachung keine Rede sein (vgl. diesbezüglich zum fehlerhaften Anbringen eines Posteingangsstempels: VwGH 5.7.2000, 2000/03/0191). Fehlt es an einem diesbezüglichen Vorbringen, liegt jedenfalls kein bloß minderer Grad des Versehens vor. Daher sind bereits mangels einer Darlegung eines wirksamen Kontrollsystems die Voraussetzungen für die Bewilligung des Wiedereinsetzungsantrages nicht erfüllt (vgl. erneut VwGH 3.2.2021, Ra 2020/05/0056, mwN).

18 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stecken nämlich die Behauptungen des Wiedereinsetzungswerbers innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist den Rahmen für die Prüfung der Frage ab, ob ein Wiedereinsetzungsgrund gegeben ist (vgl. VwGH 29.5.2013, 2013/16/0068, 0069, mwN).

19 Ein Abweichen von dieser Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes durch das LVwG wird im Zulässigkeitsvorbringen daher nicht aufgezeigt.

20 In der Revision werden somit keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher ohne weiteres Verfahren gemäß § 34 Abs. 1 VwGG zurückzuweisen.

Wien, am 6. Oktober 2021

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