Normen
ABGB §138
BFA-VG 2014 §9
BFA-VG 2014 §9 Abs1
BFA-VG 2014 §9 Abs2
BFA-VG 2014 §9 Abs3
FrPolG 2005 §52
FrPolG 2005 §61
MRK Art8 Abs2
VwGG §42 Abs2 Z1
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2020:RA2019210362.L00
Spruch:
1. den Beschluss gefasst:
Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln nach § 57 AsylG 2005 richtet, zurückgewiesen.
2. zu Recht erkannt:
Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Erstrevisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die vier Revisionswerber sind Geschwister; die Erstrevisionswerberin ist achtzehn, der Zweitrevisionswerber fünfzehn, die Drittrevisionswerberin vierzehn und die Viertrevisionswerberin ist elf Jahre alt. Alle sind syrische Staatsangehörige. Ihnen wurde in Italien, wo sie sich mit ihren Eltern aufgehalten hatten, der Status von Asylberechtigten gewährt; sie verfügen dort über Aufenthaltsberechtigungen, die bis 22. Juni 2021 gültig sind.
2 Die damals alle minderjährigen Revisionswerber reisten unbegleitet von Liechtenstein kommend, wo sie sich zuletzt gemeinsam mit ihrer Mutter aufgehalten hatten, nach Österreich und stellten am 16. Dezember 2016 Anträge auf internationalen Schutz. Die Mutter hatte sich dann zwar zwischenzeitig auch in Österreich aufgehalten, reiste aber im Mai 2017 wieder aus und befand sich zuletzt in der Schweiz. Zu ihr stehen die Kinder nur telefonisch in Verbindung. Der Vater der Revisionswerber hielt sich jedenfalls bis Dezember 2016 in Italien auf, sein aktueller Aufenthaltsort ist nicht bekannt; zu ihm besteht kein Kontakt.
3 Mit Bescheiden vom 19. September 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die von den Revisionswerbern gestellten Anträge auf internationalen Schutz gemäß § 4a AsylG 2005 als unzulässig zurück und sprach aus, dass sie sich nach Italien zurück zu begeben hätten (Spruchpunkt I.). Unter einem wurde ihnen ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 (von Amts wegen) nicht erteilt, gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG ihre Außerlandesbringung [nach Italien] angeordnet und „demzufolge“ festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Italien gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.).
4 Die gegen diese Bescheide erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 28. Juni 2018 als unbegründet ab. Die dagegen eingebrachte außerordentliche Revision wies der Verwaltungsgerichtshof, soweit sie sich auf die Abweisung der Beschwerde gegen Spruchpunkt I. der BFA‑Bescheide bezog, mit der Entscheidung vom 26. Juni 2019, Ra 2018/20/0534 bis 0537, mangels Vorliegens der Voraussetzungen nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG beschlussmäßig als unzulässig zurück, im Umfang der Bekämpfung der Beschwerdeabweisung in Bezug auf Spruchpunkt II. der BFA‑Bescheide erfolgte eine Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.
5 Mit dem im zweiten Rechtsgang erlassenen, vorliegend angefochtenen Erkenntnis vom 25. Oktober 2019 wies das BVwG die Beschwerde im verbliebenen Umfang (Nichterteilung von Aufenthaltstiteln gemäß § 57 AsylG 2005, Anordnungen zur Außerlandesbringung und Feststellungen der Zulässigkeit der Abschiebung nach Italien) wiederum als unbegründet ab.
6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens ‑ Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet ‑ erwogen hat:
7 Hat das Verwaltungsgericht ‑ wie hier ‑ in seinem Erkenntnis ausgesprochen, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig ist, hat die Revision zufolge § 28 Abs. 3 VwGG auch gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen sie entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes für zulässig erachtet wird (außerordentliche Revision). Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B‑VG hat der Verwaltungsgerichtshof dann im Rahmen dieser vorgebrachten Gründe zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
8 Diese Prüfung ergibt, dass die Revision ‑ wie im Folgenden gezeigt wird ‑ in Bezug auf die Nichterteilung von Aufenthaltstiteln nach § 57 AsylG 2005 unzulässig, in Bezug auf die Erlassung von Anordnungen zur Außerlandesbringung jedoch zulässig und auch berechtigt ist.
9 Die Anträge der Revisionswerber auf Gewährung von internationalem Schutz in Österreich wurden im ersten Rechtsgang rechtskräftig gemäß § 4a AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen, weil den Revisionswerbern in einem anderen EWR‑Staat der Status von Asylberechtigten zuerkannt worden war und sie dort Schutz vor (einer im Herkunftsstaat drohenden) Verfolgung gefunden hatten. Gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 FPG hat das BFA gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Außerlandesbringung anzuordnen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 4a AsylG 2005 zurückgewiesen wird. Vor Erlassung einer Anordnung zur Außerlandesbringung ist allerdings gemäß § 58 Abs. 1 Z 1 iVm § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 vom BFA die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 von Amts wegen zu prüfen und gemäß § 58 Abs. 3 AsylG 2005 über das Ergebnis dieser Prüfung im verfahrensabschließenden Bescheid abzusprechen.
10 Es ist daher zunächst auf die Frage einzugehen, ob den Revisionswerbern die Erteilung dieser Aufenthaltstitel zu Recht versagt wurde. Nach dem im vorliegenden Fall in Betracht kommenden § 57 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ zu erteilen, wenn sie Opfer von Gewalt wurden, eine einstweilige Verfügung nach § 382b EO oder § 382e EO erlassen wurde oder hätte erlassen werden können und der Drittstaatsangehörige glaubhaft macht, dass die Erteilung des Aufenthaltstitels zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich ist.
11 Vor diesem rechtlichen Hintergrund bemängelte der Verwaltungsgerichtshof im aufhebenden Erkenntnis vom 26. Juni 2019, das BVwG hätte ‑ unabhängig davon, ob es auch die vorgebrachten sexuellen Übergriffe für glaubwürdig erachtet ‑ Feststellungen zu den Behauptungen der Revisionswerber, gewalttätigen Angriffen seitens ihres Vaters ausgesetzt gewesen zu sein, treffen müssen. Nur auf Basis solcher, auf einer schlüssigen und nachvollziehbaren Beweiswürdigung beruhenden Feststellungen wäre eine Beurteilung dahingehend möglich gewesen, ob die Revisionswerber Opfer von Gewalt geworden seien, wobei es nicht darauf ankomme, ob es sich bei einer derartigen Handlung um sexuelle Gewalt handle. Bejahendenfalls hätte sich das BVwG in weiterer Folge damit auseinandersetzen müssen, ob eine einstweilige Verfügung nach § 382b EO oder § 382e EO erlassen worden sei oder hätte erlassen werden können und ob die Erteilung von Aufenthaltsberechtigungen zum Schutz vor weiterer Gewalt erforderlich sei.
12 Dem entsprach das BVwG im zweiten Rechtsgang insofern, als es im angefochtenen Erkenntnis feststellte, der Vater der Revisionswerber sei in der Vergangenheit in Italien ihnen gegenüber gewalttätig geworden bzw. es sei zu häuslicher Gewalt gekommen, die vom Vater der Revisionswerber ausgegangen sei. Die Revisionswerber seien daher Opfer von Gewalt geworden. Im Hinblick darauf sei dem Vater vom Jugendgericht Bari die Obsorge entzogen und er sei angewiesen worden, von schädlichem Verhalten den Revisionswerbern gegenüber Abstand zu nehmen. Des Weiteren sei er von diesem Gericht aus der zuvor gemeinsamen Unterkunft weggewiesen worden. Angesichts dessen ging das BVwG davon aus, das Jugendgericht Bari habe eine mit § 382b EO bzw. § 382e EO vergleichbare Verfügung erlassen. Allerdings erachtete das BVwG die Erteilung von Aufenthaltsberechtigungen zum Schutz vor weiterer Gewalt im Hinblick auf diese gerichtlichen Maßnahmen nicht für erforderlich, zumal damals überdies eine Familienberatungsstelle mit der näheren Erhebung der familiären Verhältnisse gerichtlich beauftragt und gegen den Vater der Revisionswerber wegen seiner Übergriffe offenbar auch ein Strafverfahren geführt worden sei. Es sei daher davon auszugehen, dass die italienischen Behörden den Revisionswerbern effektiven Schutz vor weiterer Gewalt gewährten. Es könne nämlich überdies in Italien als Mitgliedstaat der Europäischen Union die generelle Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit der Behörden vor häuslicher Gewalt angenommen werden, was auch durch ein im Juli 2019 verabschiedetes Gesetz zur effizienten Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen untermauert werde.
13 Dieser Annahme tritt die Revision damit entgegen, dass die Argumentation mit der erwähnten Gesetzesinitiative und der Eigenschaft als Mitgliedstaat der Europäischen Union keine ‑ von der Rechtsprechung geforderte (Hinweis auf VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0023, 0024) ‑ unter Berücksichtigung von entsprechenden Länderberichten vorzunehmende ernsthafte Auseinandersetzung mit der Situation im Zielstaat in Bezug auf den Schutz vor Gewalt darstelle.
14 Abgesehen davon, dass in der Revision nicht dargelegt wird, Länderberichten über Italien wäre zu entnehmen, es werde kein ausreichender Schutz vor häuslicher Gewalt gewährt, sprechen die im konkreten Fall gerichtlich verfügten Maßnahmen gegen diese Annahme, wobei zu den diesbezüglichen Schriftstücken ‑ entgegen der Meinung in der Revision ‑ kein Parteiengehör hätte eingeräumt werden müssen, weil sie vom Vertreter der Revisionswerber (wenn auch im Wege des BFA) dem BVwG vorgelegt worden waren. Im Übrigen wird in der Revision auch nicht aufgezeigt, welches entscheidungswesentliche Vorbringen dazu erstattet worden wäre. Außerdem hat das BVwG noch zu Recht darauf verwiesen, dass die Revisionswerber seit mindestens fünf Jahren keine Verbindung mehr zu ihrem Vater hätten, nur eine (einmalige) Kontaktaufnahme des Vaters in Form einer an den Zweitrevisionswerber und an die Drittrevisionswerberin gerichteten (nicht beantworteten, sondern sofort gelöschten) „Freundschaftsanfrage“ via „Facebook“ im Februar 2019 erfolgt sei und seither keine Versuche zur Kontaktaufnahme von Seiten des Vaters der Revisionswerber, dessen aktueller Aufenthalt im Übrigen nicht bekannt sei, mehr unternommen worden seien. Demzufolge durfte das BVwG auch das Risiko für die Revisionswerber, im Falle einer Rückkehr nach Italien neuerlich gewaltsamen Übergriffen von Seiten ihres Vaters ausgesetzt zu sein, als relativiert ansehen.
15 Insgesamt kann daher die Beurteilung der Umstände dieses Einzelfalls durch das BVwG mit dem Ergebnis, dass die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung gemäß § 57 AsylG 2005 für die Revisionswerber zur Ermöglichung eines Verbleibs in Österreich und zum Schutz vor weiterer Gewalt durch ihren Vater in Italien nicht erforderlich sei, zumindest als vertretbar angesehen werden. Wie auch bei anderen einzelfallbezogenen Beurteilungen läge eine grundsätzliche Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B‑VG aber nur dann vor, wenn diese Einschätzung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden unvertretbaren Weise, also krass fehlerhaft, vorgenommen worden wäre (vgl. VwGH 11.5.2017, Ro 2017/21/0006, Rn. 10, mwN, und darauf verweisend zuletzt VwGH 27.4.2020, Ra 2020/21/0121, Rn. 7, mwN). Da diese Voraussetzung im gegenständlichen Fall nicht gegeben ist, war die Revision in Bezug auf die Entscheidung nach § 57 AsylG 2005 gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG als unzulässig zurückzuweisen.
16 Wird durch eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG in das Privat‑ oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist deren Erlassung gemäß § 9 Abs. 1 BFA‑VG (nur) zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei der somit auch im vorliegenden Fall vorzunehmenden Beurteilung der Frage, ob die Erlassung von Anordnungen zur Außerlandesbringung der Revisionswerber nach Italien einen unverhältnismäßigen Eingriff in ihr nach Art. 8 EMRK geschütztes Recht darstellt, ist nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA‑VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA‑VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (siehe etwa VwGH 26.2.2020, Ra 2019/18/0456, Rn. 13, und VwGH 25.4.2019, Ra 2019/19/0114, Rn. 13). In diesem Zusammenhang haben die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts bereits wiederholt die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl bei der nach § 9 BFA‑VG vorzunehmenden Interessenabwägung zum Ausdruck gebracht (siehe dazu die Rechtsprechungsnachweise in VwGH 26.2.2020, Ra 2019/18/0456, Rn. 19; vgl. auch VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0128, Rn. 11, mit dem Hinweis auf die in VwGH 7.3.2019, Ra 2018/21/0141, Rn. 16, zitierte Judikatur; siehe etwa auch noch VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0282, Rn. 20).
17 Davon ging auch das BVwG aus, weil es sich im vorliegenden Fall um eine „volljährige junge Erwachsene und drei minderjährige Jugendliche bzw. Kinder“ handle, deren Mutter sich gegenwärtig in der Schweiz aufhalte. Es sei allerdings für das BVwG ‑ so führte es im angefochtenen Erkenntnis dazu aus ‑ nicht erkennbar, dass die Überstellung der Revisionswerber nach Italien dem Kindeswohl widerspreche. Im Hinblick auf die gemeinsame Überstellung der Minderjährigen zusammen mit ihrer mittlerweile volljährigen Schwester, der Erstrevisionswerberin, werde ohnehin die Familieneinheit gewahrt. Auch in Bezug auf die Abwesenheit der Mutter mache es keinen Unterschied, ob sie sich in Italien oder in Österreich aufhielten. Wesentlich sei aber, dass den Revisionswerbern in Italien der Status von Asylberechtigten mit einer verlängerbaren Aufenthaltsberechtigung zuerkannt worden sei, während sie sich in Österreich im Asylverfahren befänden und die Zuerkennung des Status von Asylberechtigten „keinesfalls gesichert, sondern eher äußerst fraglich“ sei. Nach Auffassung des BVwG entspreche daher ein Aufenthalt der Revisionswerber in einem Staat, der ihnen Asyl gewährt habe, mehr dem Kindeswohl als der Aufenthalt in einem Staat, in dem das Ergebnis „eines allfälligen Asylverfahrens keinesfalls abzusehen“ sei.
18 Diesen Überlegungen wird in der Revision zutreffend entgegen gehalten, es werde außer Acht gelassen, dass es zufolge der im ersten Rechtsgang rechtskräftig gewordenen Zurückweisungen der Anträge auf internationalen Schutz nur mehr um die am Maßstab des Art. 8 EMRK zu beurteilende Zulässigkeit von Anordnungen zur Außerlandesbringung gehe, deren Verneinung in einem weiteren Schritt die Erteilung von Aufenthaltstiteln nach § 55 AsylG 2005 zur Folge hätte. Zu Recht wird dann in der Revision des Weiteren darauf verwiesen, dass dieser Aufenthaltstitel insofern ein langfristiges Aufenthaltsrecht vermittle, als er in der Folge in ein Niederlassungsrecht nach dem NAG münde. Nur wegen des in Italien zuerkannten Asylstatus und des deshalb zukommenden Aufenthaltsrechts allein lässt sich daher nicht sagen, die Überstellung der Revisionswerber nach Italien entspreche dem Kindeswohl besser als ein Verbleib in Österreich.
19 Bei der gegenständlichen besonderen Konstellation, in der unbegleitete minderjährige Kinder und deren gerade erst volljährig gewordene Schwester unmittelbar von der Außerlandesbringung nach Italien betroffen wären, lässt sich aber auch nicht mit den sonst bei einem etwa dreijährigen Inlandsaufenthalt im Vordergrund stehenden Aspekten argumentieren (vgl. dazu etwa VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0149, Rn. 8, mwN). Dass das BVwG daher auch noch ins Treffen führte, die Revisionswerber hätten keine außergewöhnliche Integration aufzuweisen, sodass die während unsicheren Aufenthalts entwickelten privaten Interessen an einem Verbleib in Österreich nur sehr geringes Gewicht hätten und gegenüber dem großen öffentlichen Interesse an einem geordneten Fremdenwesen in den Hintergrund zu treten hätten, wird der spezifischen Situation, in der sich die Revisionswerber befinden, nicht gerecht. Diese Überlegungen des BVwG sind daher nicht geeignet, die Anordnungen zur Außerlandesbringung als verhältnismäßig anzusehen.
20 Vorrangig wäre vielmehr ‑ wie bereits erwähnt ‑ in diesem Fall eingehender auf Aspekte des Kindeswohls Bedacht zu nehmen gewesen. In diesem Zusammenhang hat der Verwaltungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung bereits festgehalten, auch im Bereich verwaltungsrechtlicher Entscheidungen, in denen auf das Kindeswohl Rücksicht zu nehmen ist, dienten die in § 138 ABGB genannten Kriterien als Orientierungsmaßstab (vgl. VwGH 24.9.2019, Ra 2019/20/0274, Rn. 30, und darauf Bezug nehmend VwGH 19.12.2019, Ra 2019/21/0282, Rn. 20). Fallbezogen wäre es daher insbesondere um die Frage der angemessenen Versorgung und sorgfältigen Erziehung der Kinder (Z 1), der Förderung ihrer Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Entwicklungsmöglichkeiten (Z 4) sowie allgemein um die Frage ihrer Lebensverhältnisse (Z 12) gegangen. Aus der genannten Bestimmung ergibt sich überdies, dass auch die Meinung der Kinder zu berücksichtigen sei (Z 5) und dass Beeinträchtigungen zu vermeiden seien, die Kinder durch die Um‑ und Durchsetzung einer Maßnahme gegen ihren Willen erleiden könnten (Z 6). Ein weiteres Kriterium ist die Aufrechterhaltung von verlässlichen Kontakten zu wichtigen Bezugspersonen und von sicheren Bindungen zu diesen Personen (Z 9).
21 Das BVwG stellte zu den persönlichen Verhältnissen der Revisionswerber fest, sie seien weder in physischer noch in psychischer Hinsicht behandlungsbedürftig, sodass gesundheitliche Gründe einer Überstellung nach Italien nicht entgegenstünden. Sie hätten keine verwandtschaftlichen Beziehungen zu österreichischen Staatsbürgern oder zu dauerhaft aufenthaltsberechtigten Fremden. Die Drittrevisionswerberin besuche eine Neue Mittelschule und die Viertrevisionswerberin die vierte Klasse einer Volksschule. Beide beherrschten ausreichend Deutsch; sie hätten sich gut in die jeweilige Klassengemeinschaft eingefügt und Freundschaften geknüpft. Zur Ausbildung oder Berufstätigkeit der Erstrevisionswerberin und des Zweitrevisionswerbers könnten ‑ mangels Vorlage von Bestätigungen oder sonstigen Unterlagen ‑ keine Feststellungen getroffen werden.
22 Das greift vor dem in Rn. 20 dargestellten rechtlichen Hintergrund zu kurz, weil sich das BVwG mit den wesentlichen Fragen der Versorgung der Revisionswerber, insbesondere mit Nahrung und Wohnraum, also ihren aktuellen Unterbringungsverhältnissen sowie mit mittlerweile aufgebauten Bindungen zu wichtigen Bezugspersonen, nicht befasste. Es wurde auch nicht ‑ wie die Revision zutreffend bemängelt ‑ auf den wiederholt und nachdrücklich geäußerten Wunsch der Revisionswerber, in Österreich verbleiben zu wollen, Bedacht genommen. In diesem Zusammenhang rügt die Revision des Weiteren zu Recht, es wäre überdies der einen weiteren Verbleib in Österreich befürwortende Standpunkt der gesetzlichen Vertretung zu berücksichtigen gewesen. Das BVwG hätte sich auch nicht mit negativen Feststellungen zu den Lebensverhältnissen der Erstrevisionswerberin und des Zweitrevisionswerbers begnügen dürfen, sondern dazu nähere Ermittlungen, naheliegend im Rahmen einer mündlichen Verhandlung, vornehmen müssen. Die in Österreich für die Revisionswerber gegebenen Lebensverhältnisse wären sodann für die Beurteilung des Kindeswohls der für die Revisionswerber in ihrem Alter als unbegleitete Fremde mit Asylstatus bei einer Überstellung nach Italien konkret erwartbaren Situation gegenüber zu stellen gewesen. Dazu hatten die Revisionswerber in der Beschwerde und in der Beschwerdeergänzung ein näheres Vorbringen erstattet, auf das im angefochtenen Erkenntnis jedoch nicht eingegangen wurde. Bei dieser Beurteilung wäre überdies einzubeziehen gewesen, ob ‑ wie in der Revision vorgebracht wird ‑ für die Revisionswerber, die in den letzten sechs Jahren immer wieder den Aufenthaltsstaat und den Wohnsitz hätten wechseln müssen, in Österreich in einem gesicherten Umfeld eine Stabilisierung und soziale Einbettung eingetreten ist.
23 Demnach sind dem BVwG in Bezug auf die Interessenabwägung nach § 9 BFA‑VG ‑ offenbar in Verkennung der rechtlichen Relevanz der aufgezeigten Gesichtspunkte ‑ Feststellungs‑ und Begründungsmängel anzulasten. Die oben angestellten Erwägungen zeigen aber auch, dass das BVwG ‑ entgegen seiner im angefochtenen Erkenntnis vertretenen Meinung ‑ nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA‑VG hätte ausgehen und aus diesem Grund von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung hätte absehen dürfen. Ein geklärter Sachverhalt lag im Übrigen auch in Bezug auf das vom BVwG mit näheren ‑ in der Revision bekämpften ‑ beweiswürdigenden Überlegungen für unglaubwürdig gehaltene Vorbringen zu sexuellen Übergriffen des Vaters auf die Erst‑ und die Viertrevisionswerberin nicht vor. Außerdem hätten es die Umstände dieses besonderen Falles jedenfalls erfordert, dass sich das BVwG von den Revisionswerbern einen persönlichen Eindruck verschafft. All das macht die Revision im Ergebnis zutreffend geltend.
24 Das BVwG begründete die Abstandnahme von der Verhandlung zwar auch noch damit, dass es sich um „eine Beschwerde gegen zurückweisende Entscheidungen im Zulassungsverfahren“ handle, und es dürfte dabei § 21 Abs. 6a BFA‑VG vor Augen gehabt haben. Das reicht für sich allein jedoch nicht, um die Übung des nach dieser Bestimmung eingeräumten Ermessens (siehe dazu etwa VwGH 18.10.2018, Ra 2018/19/0356, Rn. 26) im Sinne eines gerechtfertigten Absehens von einer Beschwerdeverhandlung im vorliegenden Fall nachvollziehbar zu begründen.
25 Zusammenfassend ist somit festzuhalten, dass das angefochtene Erkenntnis, soweit damit die Beschwerde gegen die Anordnungen zur Außerlandesbringung der Revisionswerber und gegen die (darauf aufbauenden) Feststellungen der Zulässigkeit ihrer Abschiebung nach Italien abgewiesen wurden, (vorrangig) mit Rechtswidrigkeit seines Inhaltes belastet ist. Es war daher in diesem Umfang gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
26 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG, insbesondere auf § 50 und § 53 Abs. 1 VwGG, in Verbindung mit der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 30. April 2020
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