Normen
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §8
VwGG §42 Abs2 Z3
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019190387.L00
Spruch:
I. den Beschluss gefasst:
Die Revisionen werden, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten wenden, zurückgewiesen.
II. zu Recht erkannt:
Im Übrigen werden die angefochtenen Erkenntnisse wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat den Revisionswerbern Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionswerber sind Staatsangehörige Afghanistans und Angehörige der Religionsgemeinschaft der Sikh. Die Erstrevisionswerberin und der Zweitrevisionswerber sind verheiratet und Eltern des minderjährigen Drittrevisionswerbers. Die Revisionswerber stellten am 21. Mai 2014 beziehungsweise am 12. Juli 2017 Anträge auf internationalen Schutz in Österreich. Begründend brachten sie auf das Wesentliche zusammengefasst vor, in der Stadt Kandahar aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Sikh bedroht worden zu sein. Bei einer Rückkehr würden sie um ihr Leben fürchten.
2 Mit Bescheiden des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) jeweils vom 3. März 2015 (betreffend die Erstrevisionswerberin und den Zweitrevisionswerber) und vom 10. August 2017 (betreffend den Drittrevisionswerber) wies das BFA die Anträge der Revisionswerber auf internationalen Schutz ab, erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ Rückkehrentscheidungen und stellte fest, dass die Abschiebung der Revisionswerber nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise betrage zwei Wochen beziehungsweise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung. 3 Die dagegen erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit den Erkenntnissen vom 31. Juli 2018 - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revisionen gemäß Art. 133 Abs. 4 nicht zulässig seien. Begründend führte es - auf das hier Wesentliche zusammengefasst - aus, dass die von den Revisionswerbern ins Treffen geführten Vorfälle nicht glaubhaft seien. Da die Großfamilie der Revisionswerber ihren Lebensmittelpunkt in der Stadt Kandahar habe und besonders die Familie des Zweitrevisionswerbers aufgrund des Betriebes einer Apotheke in Kandahar wirtschaftlich verankert sei und zudem keine Anhaltspunkte dafür hervorgekommen seien, dass sich die Familienmitglieder woanders aufhalten könnten, sei festzustellen gewesen, dass sowohl die Eltern als auch die Geschwister des Zweitrevisionswerbers - mit Ausnahme einer in Österreich lebenden Schwester - nach wie vor in Kandahar leben würden. Auch unter dem Gesichtspunkt, dass die Familie des Zweitrevisionswerbers in Kandahar Stadt schon seit langem eine Apotheke betreibe und vermögend sei, sei es nicht angezeigt, dass die Familie in ihrer Eigenschaft als Sikh einer als Verfolgung zu qualifizierenden Gefährdung und Drangsalierung oder einer erniedrigenden oder menschenunwürdigen Behandlung ausgesetzt gewesen sei. Dass sie seit Jahrzehnten in Kandahar Stadt leben und sich dort mit einem offenbar gut gehenden Geschäft erhalten hätten können, spreche gegen die Annahme einer Verfolgung der Revisionswerber aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu den Sikh. Die Revisionswerber könnten nach Kandahar Stadt zurückkehren. Alternativ wäre den Revisionswerbern auch eine Ansiedelung in der Stadt Kabul zumutbar. Wenngleich die Revisionswerber keine direkten Anknüpfungspunkte in der Stadt Kabul hätten, ergebe sich mit Blick auf den konkreten Einzelfall, dass sie auch ohne gleichzeitige physische Anwesenheit in Kabul von ihren in der Stadt Kandahar lebenden Familienangehörigen unterstützt werden könnten.
4 Gegen diese Erkenntnisse erhoben die Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der sie ablehnte und mit Beschluss vom 24. Oktober 2018, E 3583-3585/2018- 8, über nachträglichen Antrag im Sinn des § 87 Abs. 3 VfGG gemäß Art. 144 Abs. 3 B-VG dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
5 Die vorliegenden außerordentlichen Revisionen bringen zu ihrer Zulässigkeit zusammengefasst vor, das BVwG habe seinen Entscheidungen nicht die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde gelegt. Das zum Entscheidungszeitpunkt aktuelle Länderinformationsblatt führe an, dass die Gemeinschaft der Sikh und Hindu in Afghanistan auf ca. 900 Mitglieder geschätzt werde, während in dem im Erkenntnis wiedergegebenen Länderinformationsblatt noch von einer Zahl von ca. 5000 Mitgliedern die Rede sei. Auch habe das BVwG nicht berücksichtigt, dass bei einem Selbstmordanschlag Anfang Juli 2018 der Führer der Sikh-Gemeinde getötet worden sei und der Verlust von Führungspersönlichkeiten den Vertreibungsdruck auf die bereits sehr kleine Sikh-Gemeinde weiter erhöhen würde. Nach einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters vom 2. Juli 2018 würden nur mehr zwei "Gurdwaras" (Gebetsstätten für Sikh) existieren, und zwar in Kabul und in Jalalabad. Aus einem Artikel von Tolo-News vom 21. Juni 2016 gehe hervor, dass 99% der Sikh und Hindu Afghanistan in den letzten drei Jahrzehnten verlassen hätten und dass es zwischenzeitlich keine Sikh oder Hindu mehr in den Provinzen Kandahar oder Helmand geben würde. Die Annahme des BVwG, wonach die Angehörigen der Revisionswerber noch in Kandahar leben würden, erscheine aufgrund der aktuellen Länderberichte unwahrscheinlich und unplausibel. Vielmehr sei aufgrund der Länderberichte davon auszugehen, dass die wenigen noch verbliebenen Sikh sich in Kabul oder Jalalabad aufhalten würden, da sich dort die einzigen noch aktiven zwei "Gurdwaras" befinden würden.
6 Zudem würden die Revisionswerber als Angehörige einer religiösen Minderheit ausdrücklich unter die in den UNHCR-Richtlinien angeführten Risikoprofile fallen. Es sei nicht ersichtlich, dass das BVwG die Richtlinien des UNHCR in seine Entscheidung miteinbezogen habe. Die Revisionswerber könnten weder nach Kandahar zurückkehren noch sei ihnen eine innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul zumutbar. Die Beweiswürdigung des BVwG sei vor dem Hintergrund aktueller Länderinformationen zur Situation der Sikh, insbesondere auch im Hinblick auf die Situation der Erstrevisionswerberin und des minderjährigen Drittrevisionswerbers, unschlüssig. Das BVwG habe es verabsäumt, im Sinn der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes die Asylrelevanz einer Kumulation von mehreren Gefährdungsmomenten zu prüfen und eine globale Bewertung vorzunehmen. Das BVwG habe sich zudem nicht mit der Frage auseinandergesetzt, ob nicht - gerade unter Berücksichtigung der weiteren Verschlechterung der Lage der Sikh in Afghanistan - von einer Gruppenverfolgung dieser religiösen Minderheit in Afghanistan ausgegangen werden müsse.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattete wurde, erwogen:
8 Die Revisionen sind teilweise zulässig. Sie sind auch
teilweise begründet.
Zu I.:
9 Soweit sich die Revision gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten richtet, ist sie nicht zulässig. Wenn sich die Revision gegen die Beweiswürdigung des BVwG wendet, wonach den Revisionswerbern mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit - auch nicht als Angehörige der Gruppe der Sikhs - keine asylrelevante Verfolgung in Afghanistan drohe, gelingt es ihr nicht, aufzuzeigen, dass diese Beweiswürdigung in einer vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden unvertretbaren Weise erfolgt wäre (vgl. VwGH 7.12.2018, Ra 2018/18/0510, mwN). 10 Der Revision gelingt es insoweit nicht, eine Rechtsfrage darzulegen, der - entgegen dem Ausspruch des BVwG - im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme, weshalb sie in Bezug auf diese Spruchpunkte zurückzuweisen war. Zu II.:
11 Berechtigung kommt der Revision jedoch insoweit zu, als sie zutreffend darauf verweist, dass das BVwG veraltete Länderberichte verwendet hat. Es entspricht der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass das BVwG seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen hat. Eine Verletzung dieser Vorgabe stellt einen Verfahrensmangel dar (vgl. etwa VwGH 28.2.2019, Ra 2019/14/0050, mwN). 12 Angesichts der von den Revisionswerbern zitierten Länderberichte lässt sich nicht ausschließen, dass bei Berücksichtigung der aktuellen Berichtslage ein anderes Ergebnis zwar nicht in Bezug auf die Zuerkennung von Asyl, wohl aber in Bezug auf die Frage der Zuerkennung von subsidiärem Schutz, möglich wäre. Von den Revisionswerbern wurde damit insoweit auch die Relevanz dieses Verfahrensmangels aufgezeigt.
13 Das BVwG wird sich im fortgesetzten Verfahren damit auseinandersetzen müssen, ob den Revisionswerbern - angesichts der von ihnen zitierten Berichte, wonach es keine Sikh mehr in Kandahar gebe und dort keine Gebetsstätte mehr existiere -, tatsächlich eine Rückkehr nach Kandahar möglich ist. In diesem Zusammenhang zeigen die Revisionswerber richtigerweise auch auf, dass die beweiswürdigenden Erwägungen des BVwG zum Verbleib der Familienangehörigen der Revisionswerber in Kandahar angesichts der vorgelegten Länderberichte unplausibel erscheinen. Die Asylbehörden haben nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes in der Beweiswürdigung den realen Hintergrund der vom Asylwerber vorgetragenen Fluchtgeschichte in ihre Überlegungen einzubeziehen und die Glaubwürdigkeit seiner Behauptungen auch im Vergleich zur einschlägigen Berichtslage zu messen (vgl. etwa VwGH 11.4.2018, Ra 2018/20/0040, mwN). 14 Im Hinblick auf die vom BVwG alternativ angenommene Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul ist anzumerken, dass diese - selbst unter Berücksichtigung der zum Entscheidungszeitpunkt maßgebenden Berichtslage (die UNHCR-Richtlinien vom 30. August 2018 datieren erst nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG und können daher bei der Entscheidung über die Revisionen keine Berücksichtigung finden; vgl. etwa VwGH 31.1.2019, Ra 2018/14/0300 mit Verweis auf VwGH 4.10.2018, Ra 2018/18/0475) - das Erkenntnis nicht trägt.
15 Der VwGH hat bereits erkannt, dass eine schwierige Lebenssituation (bei der Arbeitsplatz- und Wohnraumsuche sowie in wirtschaftlicher Hinsicht), die ein Asylwerber bei Rückführung in das als innerstaatliche Fluchtalternative geprüfte Gebiet vorfinden würde, für sich betrachtet nicht ausreicht, um eine innerstaatliche Fluchtalternative zu verneinen. Mit Bezug auf die Verhältnisse in Afghanistan wurde ausgeführt, es könne zutreffen, dass ein alleinstehender Rückkehrer ohne familiären Rückhalt und ohne finanzielle Unterstützung in der afghanischen Hauptstadt Kabul (anfangs) mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten konfrontiert sei. Soweit es sich aber um einen jungen und gesunden Mann, der über Schulbildung und Berufserfahrung verfüge, handle, sei - auf der Grundlage der allgemeinen Länderfeststellungen zur Lage im Herkunftsstaat - nicht zu erkennen, dass eine Neuansiedlung in Kabul nicht zugemutet werden könne. Dies stehe auch im Einklang mit der Einschätzung der UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19. April 2016, denen zufolge es alleinstehenden, leistungsfähigen Männern im berufsfähigen Alter ohne spezifische Vulnerabilität möglich sei, auch ohne Unterstützung durch die Familie in urbaner Umgebung zu leben (vgl. etwa VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001, mwN).
16 Die Erstrevisionswerberin ist Ehepartnerin des Zweitrevisionswerbers. Sie sind Eltern des minderjährigen Drittrevisionswerbers. Das BVwG ging erkennbar von einer Unterstützungsmöglichkeit der in Kandahar lebenden und vermögenden Familienangehörigen der Revisionswerber aus. Das BVwG legte aber angesichts der Länderberichte nicht schlüssig dar, ob die Angehörigen der Revisionswerber tatsächlich noch in Kandahar aufhältig sind, dort eine Apotheke betreiben und somit die Revisionswerber in Kabul unterstützen könnten. Diesbezügliche tragfähige Feststellungen wären aber notwendig, um die Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul überprüfen zu können.
17 Nach dem Gesagten waren die angefochtenen Erkenntnisse gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG aufzuheben, ohne dass auf das übrige Revisionsvorbringen hätte eingegangen werden müssen. 18 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 23. Oktober 2019
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