Normen
ARB1/80 Art13
ASVG §293
B-VG Art133 Abs4
FrG 1997 §10 Abs2 Z2
MSG Wr 2010
MSG Wr 2010 §44 Abs2
MSGDV Wr 2018
NAG 2005 §11 Abs2 Z4
NAG 2005 §11 Abs5
NAG 2005 §46 Abs1 Z2
SHG Wr 1973
VwGG §34 Abs1
VwRallg
62014CJ0561 Genc VORAB
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2022:RA2018220294.L00
Spruch:
Die Revision wird zurückgewiesen.
Begründung
1.1. Die Revisionswerber sind Kinder des B I (im Folgenden: Vater), ihre leibliche Mutter ist im Mai 2014 verstorben. Die Obsorge obliegt dem Vater, der im Juli 2014 eine neue Ehe mit M I (im Folgenden: Stiefmutter) einging. Alle sind türkische Staatsangehörige.
Die Stiefmutter lebt seit dem Jahr 2009 in Österreich, der Vater seit dem Jahr 2015. Die Stiefmutter verfügt über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt ‑ EU“, der Vater über einen Aufenthaltstitel „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“. Die Revisionswerber leben seit jeher in der Türkei, wo sie bislang von den Großeltern und einer Schwester des Vaters (im Folgenden: Tante) betreut wurden.
1.2. Am 29. Dezember 2016 beantragten die Revisionswerber jeweils die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot‑Weiß‑Rot ‑ Karte plus“ gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 Niederlassungs‑ und Aufenthaltsgesetz (NAG) zum Zweck der Familienzusammenführung mit ihrem Vater.
Die vor dem Verwaltungsgericht belangte Behörde (im Folgenden: Behörde) wies die Anträge mit Bescheiden vom 18. April 2018 ab, weil die Erteilungsvoraussetzung gemäß § 11 Abs. 2 Z 2 NAG nicht erfüllt sei.
2.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 23. Oktober 2018 wies das Verwaltungsgericht Wien die dagegen erhobene Beschwerde der Revisionswerber nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit der Maßgabe, dass als Abweisungsgrund § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG herangezogen werde, als unbegründet ab.
2.2. Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung ‑ soweit hier von Bedeutung ‑ folgende Feststellungen zugrunde:
Die (nunmehrige) Mietwohnung der Stiefmutter weise eine Gesamtfläche von 59,39 m² auf und bestehe aus Vorzimmer, Bad, WC, Abstellraum, Wohnküche und zwei Zimmern. Für die Revisionswerber stünden zwei (10 bzw. 12 m² große) Zimmer zur Verfügung.
Der Vater sei ab dem Zuzug nach Österreich bei diversen Dienstgebern beschäftigt gewesen. Die Dienstverhältnisse hätten ‑ von einer etwa eineinhalb‑ und einer halbjährigen Beschäftigung abgesehen ‑ jeweils weniger als drei Monate bzw. nur wenige Tage gedauert, dazwischen habe er wiederholt Arbeitslosengeld bezogen. Seit Juli 2018 sei er als Pizzakoch und Thekenaushilfe bei B D beschäftigt und beziehe ein Einkommen von monatlich € 1.583,25 netto einschließlich Sonderzahlungen. Die Stiefmutter sei ‑ von einer etwa einjährigen Beschäftigung im Jahr 2013 abgesehen ‑ wiederholt für wenige Monate erwerbstätig gewesen und habe ansonsten Krankengeld, Arbeitslosengeld, Notstandshilfe bzw. Überbrückungshilfe bezogen. Zuletzt sei sie für etwa zwei Monate von Mai bis Juli 2018 beschäftigt gewesen.
Aufgrund des im Verlauf eines Kalenderjahres stark schwankenden Einkommens [die Schwankungen werden für die Jahre 2017 und 2018 näher dargelegt] sei für die Ermittlung des monatlichen Einkommens des Vaters und der Stiefmutter eine Durchschnittsbetrachtung für einen zwölfmonatigen Zeitraum (von September 2017 bis August 2018) vorzunehmen. Addiere man das in diesem Zeitraum bezogene Einkommen, so ergebe sich eine Summe von zirka € 12.025,‑‑ für den Vater und € 4.269,‑‑ für die Stiefmutter, sodass sich ein gemeinsames Durchschnittseinkommen von monatlich rund € 1.358,‑‑ errechne. Regelmäßige Aufwendungen seien die monatlichen Mietzinszahlungen von € 584,‑‑ inklusive Betriebskosten sowie die weiteren Ausgaben (für Wasser, Strom etc.) von € 273,‑‑. Ausgehend vom Ehegattenrichtsatz für das Jahr 2018 von € 1.363,52 zuzüglich € 140,32 für jedes Kind seien Einkünfte von € 1.784,48 erforderlich, hinzu kämen noch die (schon angeführten) Mietkosten und sonstigen Ausgaben abzüglich des Werts der freien Station von € 288,87. Insgesamt seien daher Unterhaltsmittel von € 2.353,‑‑ nachzuweisen, welchen ein tatsächliches Einkommen von lediglich € 1.358,‑‑ gegenüberstehe.
In der Türkei lebten die Großeltern und die Tante, von denen die Revisionswerber seit dem Tod der leiblichen Mutter und der Übersiedlung des Vaters nach Österreich betreut worden seien. Die Tante lebe „40 Minuten mit dem Auto“ entfernt und sei nun verheiratet. Die Großmutter habe einen Schlaganfall gehabt und leide an Rheuma; laut fachärztlicher Bestätigung vom Februar 2018 sei sie in einer neurologischen und physiotherapeutischen Ambulanz (wegen zerebrovaskulärer Erkrankung, Hypertonie, Polyneuropathie, Osteoporose und Polyarthrose) behandelt worden.
Der Vater und die Stiefmutter hätten die Revisionswerber in der Türkei in den Jahren 2015 und 2016 besucht und sich jeweils einen Monat dort aufgehalten. Der Vater habe bei der Antragstellung im Jahr 2015 gegenüber der Behörde angegeben, dass die Revisionswerber von den Großeltern und der Tante in der Türkei versorgt würden. Die Großeltern wären finanziell sehr gut gestellt, sodass die Revisionswerber von ihnen sehr gut gepflegt und betreut werden könnten. Seit dem Tod der leiblichen Mutter hätte sich auch eine starke Bindung zwischen den Revisionswerbern und der Großmutter eingestellt. Der Vater hätte daher mit der Stiefmutter entschieden, dass die Revisionswerber fortan bei den Großeltern in der Türkei leben sollten, zumal dort eine gute Erziehung und Ausbildung möglich sei. Er hätte nicht vor, die Revisionswerber nach Österreich zu holen.
Im nunmehrigen Verfahren habe sich der Vater in Bezug auf die vorgenannten Angaben hingegen auf ein Missverständnis bzw. eine Falschbeurkundung berufen. Tatsächlich hätte er seinerzeit angegeben, dass die Revisionswerber nur für kurze Zeit bei den Großeltern leben und dann - sobald er Arbeit und Wohnung gefunden habe - wieder mit ihm zusammenziehen würden. Auch wären die Großeltern alt und krank und hätte die Tante nun einen Partner, sodass sie sich nicht mehr um die Revisionswerber kümmern könnten.
Allfällige Deutschkenntnisse der Revisionswerber seien nicht feststellbar.
2.3. Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht ‑ soweit hier von Bedeutung ‑ im Wesentlichen:
Aufgrund des inzwischen erfolgten Wohnungswechsels des Vaters und der Stiefmutter fehle es nicht mehr an einer ortsüblichen Unterkunft.
Nicht ausreichend gesichert sei jedoch der erforderliche Lebensunterhalt gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG. Die genannte Bestimmung komme zur Anwendung, weil sich die Revisionswerber nicht auf die Stillhalteklausel des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrats vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) bzw. des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls (im Folgenden: ZP) zum Assoziierungsabkommen EWG‑Türkei berufen könnten. Nach der Rechtsprechung des EuGH setze die Anwendung der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 auf einen nachziehenden Familienangehörigen voraus, dass sich dieser bereits ordnungsgemäß im betreffenden Mitgliedstaat aufhalte. Die Stillhalteklausel des Art. 41 Abs. 1 ZP komme zur Anwendung, wenn der nachziehende Familienangehörige zum Zweck der Ausübung einer Erwerbstätigkeit einreisen bzw. sich im betreffenden Mitgliedstaat rechtmäßig aufhalten wolle. Vorliegend hätten die Revisionswerber das 15. Lebensjahr noch nicht vollendet, sodass sie nach dem Kinder‑ und Jugendlichen-Beschäftigungsgesetz zu Arbeiten nicht herangezogen werden dürften und folglich eine Erwerbsabsicht schon gesetzlich ausgeschlossen sei. Die Revisionswerber seien auch nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig, sondern lebten weiterhin in der Türkei, wo sie die gegenständlichen Erstanträge gestellt hätten.
Die Prüfung gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG ergebe, dass der Zuzug der Revisionswerber monatliche Einkünfte von € 1.784,48 (Ehegattenrichtsatz von € 1.363,52 zuzüglich € 140,32 für jedes Kind) erfordere, wobei dem ein Einkommen von lediglich € 1.358,‑‑ gegenüberstehe. Eine Prüfung im Sinn des Urteils des EuGH vom 4. März 2010, Chakroun, C‑578/08, führe ebenso nicht zur Erteilung des Aufenthaltstitels, wobei auch keine bloß geringfügige Unterschreitung vorliege.
Was die Abwägung nach Art. 8 EMRK betreffe, so wiesen die in der Türkei lebenden Revisionswerber keinen (wesentlichen) Bezug zum Bundesgebiet auf. Sie verfügten über keine Deutschkenntnisse, hätten die Zeit ihrer (bisherigen) Sozialisierung im Heimatstaat verbracht und dort auch ihre (bisherige) Schulausbildung absolviert. Zwar lägen familiäre Bindungen zum Vater und zur Stiefmutter in Österreich vor, davon abgesehen bestehe aber keine soziale Verankerung im Bundesgebiet. Der Vater und die Stiefmutter hielten sich auch noch nicht allzu lange (vor allem der Vater erst seit dem Jahr 2015) in Österreich auf. Den beiden habe bewusst sein müssen, dass die Revisionswerber für einen dauerhaften Aufenthalt im Bundesgebiet entsprechende Aufenthaltstitel benötigten, sie hätten auf deren Erteilung nicht berechtigt vertrauen dürfen. In der Türkei hätten die Revisionswerber Verwandte, nämlich die Großeltern und eine Tante, wobei enge familiäre Bindungen bestünden. Soweit der Vater behaupte, die Großmutter und die Tante könnten nicht mehr für die Revisionswerber sorgen, sei zu beachten, dass er in der Verhandlung auch zu anderen Punkten (etwa zum Zustandekommen seiner Erklärung im Zuge der Erstantragstellung) widersprüchliche Angaben gemacht habe. Seine Behauptung, es gebe in der Türkei niemanden mehr, der sich um die Revisionswerber kümmern könnte, sei daher zumindest zweifelhaft. Allenfalls könnte eine Betreuung der Revisionswerber im Heimatstaat teilweise auch durch dritte Personen außerhalb des Familienverbands erfolgen. Im Übrigen wäre ein gemeinsames Familienleben auch in der Türkei, wo die Revisionswerber im Elternhaus des Vaters lebten, nicht ausgeschlossen bzw. möglich und zumutbar.
2.4. Das Verwaltungsgericht sprach ferner aus, dass eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zulässig sei.
3. Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die außerordentliche Revision, in deren Zulässigkeitsbegründung ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs in den nachfolgend näher erörterten Punkten behauptet wird. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG wird damit jedoch nicht aufgezeigt.
4. Nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichts die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung nicht einheitlich beantwortet wird.
Gemäß § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B‑VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen. Gemäß § 34 Abs. 3 VwGG ist ein solcher Beschluss in jeder Lage des Verfahrens zu fassen.
Gemäß § 34 Abs. 1a VwGG ist die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision nach Art. 133 Abs. 4 B‑VG im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
5.1. Die Revisionswerber machen geltend, das Verwaltungsgericht habe die Anwendung der Stillhalteklausel (des Art. 13 ARB 1/80) verneint, obwohl der zusammenführende Vater, der als türkischer Staatsangehöriger in Österreich einer regulären Erwerbstätigkeit nachgehe und rechtmäßig aufhältig sei, dem Assoziierungsabkommen unterliege. Die Berechnung der Unterhaltsmittel hätte daher nicht gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG, sondern nach den günstigeren Bestimmungen des Fremdengesetzes 1997 (FrG 1997) erfolgen müssen; diesfalls wäre das Verwaltungsgericht zu einer positiven Entscheidung gelangt.
5.2.1. Was die Anwendung der Stillhalteklausel (des Art. 13 ARB 1/80) betrifft, so kann auf das Urteil des EuGH vom 12. April 2016, Genc, C‑561/14, verwiesen werden, wo - zu einem ganz ähnlich gelagerten Fall (ein minderjähriger türkischer Staatsangehöriger beantragte vom Heimatstaat aus die Familienzusammenführung mit seinem obsorgeberechtigten Vater, einem türkischen Staatsangehörigen, der seit Jahren in Dänemark als Arbeitnehmer rechtmäßig aufhältig war) - Folgendes ausgeführt wurde:
„36 Unter diesen Umständen ist es der Vater des Klägers des Ausgangsverfahrens, dessen Situation einen Bezug zu einer wirtschaftlichen Freiheit, hier der Arbeitnehmerfreizügigkeit, aufweist und der daher als ordnungsgemäß in den dänischen Arbeitsmarkt eingegliederter Arbeitnehmer unter Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 fällt (vgl. in diesem Sinne Urteile Savas, C‑37/98, [...] Rn. 58, sowie Abatay u.a., C‑317/01 und C‑369/01, [...] Rn. 75 bis 84).
37 Folglich ist nur auf die Situation des im betreffenden Mitgliedstaat wohnenden türkischen Arbeitnehmers, im vorliegenden Fall also die des Vaters von Herrn Genc, abzustellen, um zu klären, ob nach der Stillhalteklausel in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende unangewendet zu lassen ist, wenn diese erwiesenermaßen geeignet ist, seine Freiheit zur Ausübung einer Tätigkeit als Arbeitnehmer in diesem Mitgliedstaat zu beeinträchtigen.
[...]
39 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass eine Regelung, die eine Familienzusammenführung erschwert, indem sie die Voraussetzungen für eine erstmalige Aufnahme der Ehegatten türkischer Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats im Vergleich zu denjenigen verschärft, die galten, als das Zusatzprotokoll in Kraft trat, eine „neue Beschränkung“ der Ausübung der Niederlassungsfreiheit durch diese türkischen Staatsangehörigen im Sinne von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls darstellt (Urteil Dogan, C‑138/13, [...] Rn. 36).
40 Der Grund hierfür ist, dass es sich auf die Entscheidung eines türkischen Staatsangehörigen, sich in einem Mitgliedstaat niederzulassen, um dort dauerhaft einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, negativ auswirken kann, wenn die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats die Familienzusammenführung erschweren oder unmöglich machen und sich der türkische Staatsangehörige deshalb unter Umständen zu einer Entscheidung zwischen seiner Tätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat und seinem Familienleben in der Türkei gezwungen sehen kann (vgl. in diesem Sinne Urteil Dogan, C‑138/13, [...] Rn. 35).
41 Ferner hat der Gerichtshof entschieden, dass die Auslegung des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls ebenso in Bezug auf die Stillhalteverpflichtung gelten muss, die die Grundlage von Art. 13 im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit bildet, da die Stillhalteklausel in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 und diejenige in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls gleichartig sind und die beiden Klauseln dasselbe Ziel verfolgen (Urteil Kommission/Niederlande, C‑92/07, [...] Rn. 48).
[...]
50 Daher ist die Schlussfolgerung zu ziehen, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die eine Familienzusammenführung erschwert, indem sie die Voraussetzungen für die erstmalige Aufnahme minderjähriger Kinder von sich im betreffenden Mitgliedstaat als Arbeitnehmer aufhaltenden türkischen Staatsangehörigen im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats im Vergleich zu denjenigen verschärft, die galten, als der Beschluss Nr. 1/80 in Kraft trat, und die somit geeignet ist, die Ausübung einer Erwerbstätigkeit durch diese türkischen Staatsangehörigen in diesem Hoheitsgebiet zu beeinträchtigen, eine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 13 dieses Beschlusses der Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch diese türkischen Staatsangehörigen in dem Mitgliedstaat darstellt.“
5.2.2. Nach der soeben dargelegten Rechtsprechung erweisen sich die Überlegungen des Verwaltungsgerichts, wonach sich die Revisionswerber nicht auf die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 berufen könnten, als verfehlt.
Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts kommt es nämlich auf einen (bereits) bestehenden ordnungsgemäßen Aufenthalt der Revisionswerber im Bundesgebiet bzw. eine von ihnen selbst beabsichtigte Erwerbstätigkeit nicht an. Vielmehr ist insofern die Situation des Zusammenführenden maßgeblich, wobei vorliegend der rechtmäßige Aufenthalt und die Arbeitnehmereigenschaft des Vaters in Österreich unstrittig sind.
5.3.1. Da somit die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 grundsätzlich anwendbar ist, stellt sich in einem weiteren Schritt die Frage, ob die Bestimmung des § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG ‑ wie von den Revisionswerbern behauptet ‑ eine Verschlechterung der Rechtsposition der Revisionswerber gegenüber den Bestimmungen des FrG 1997 bewirkt.
5.3.2. Dazu ist festzuhalten, dass die zur Vermeidung einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft durch einen Fremden nachzuweisenden Einkünfte nach der Rechtsprechung zu (der Vorgängerregelung des) § 10 Abs. 2 Z 2 FrG 1997 an die jeweiligen Sozialhilferichtsätze der Länder geknüpft waren (vgl. etwa VfGH 13.10.2007, B 1462/06, VfSlg. 18.269; VwGH 25.9.2009, 2007/18/0651, Pkt. II.3.1.). Für Wien war daher zunächst das Wiener Sozialhilfegesetz (WSHG) und die dazu erlassene Verordnung betreffend die Festsetzung der Richtsätze maßgeblich.
Den Bestimmungen des WSHG wurde in weiterer Folge durch das Wiener Mindestsicherungsgesetz (WMG) dahingehend derogiert, dass die Bestimmungen nicht mehr anzuwenden sind, soweit Regelungen im WMG erfolgen (vgl. § 44 Abs. 2 WMG; vgl. VwGH 28.2.2013, 2011/10/0210 und 0211, VwSlg. 18581). Im Hinblick darauf ist nun (vorrangig) auf die Richtsätze des WMG bzw. der dazu ergangenen Verordnungen ‑ hier vor allem der Verordnung der Wiener Landesregierung zum Gesetz zur Bedarfsorientierten Mindestsicherung in Wien 2018 (WMG‑VO 2018) ‑ abzustellen.
5.3.3. Nach der WMG‑VO 2018 beträgt der Mindeststandard für volljährige Personen, die aufgrund einer Ehe in einer Bedarfsgemeinschaft leben, € 647,28 (pro Person), darin enthalten auch ein Grundbetrag zur Deckung des Wohnbedarfs von € 161,82, und für minderjährige Personen, die im gemeinsamen Haushalt unter anderem mit zumindest einem Elternteil leben, € 233,02 (pro Person).
Ausgehend davon ergibt sich fallbezogen für zwei erwachsene Eheleute in einer Bedarfsgemeinschaft und drei minderjährige Kinder ein erforderlicher Unterhaltsbetrag von € 1.993,62 (vgl. zu einer derartigen Fallkonstellation bereits VwGH 31.1.2019, Ra 2018/22/0193, Rn. 10).
5.3.4. Was die Mietkosten betrifft, die im Grunde ebenso zu berücksichtigen sind (vgl. bereits zum WSHG: VwGH 3.4.2009, 2008/22/0711, Pkt. 5.4.), so ist nach der WMG‑VO 2018 bei (wie hier) fünf Bewohnern die Mietbeihilfe der Höhe nach mit € 358,26 begrenzt, wobei darin aber auch der jeweilige Grundbetrag zur Deckung des Wohnbedarfs beinhaltet ist.
Fallbezogen wurde der Grundbetrag allerdings großteils bereits im Rahmen des Mindeststandards für zwei erwachsene Eheleute (mit je € 161,82) zugerechnet, sodass eine Mietbeihilfe von lediglich € 34,62 (€ 358,26 abzüglich zweimal € 161,82) in Anschlag zu bringen wäre.
5.3.5. Nach dem Vorgesagten belaufen sich daher die gemäß § 10 Abs. 2 Z 2 FrG 1997 iVm der WMG‑VO 2018 erforderlichen monatlichen Unterhaltsmittel auf insgesamt rund € 2.028,‑‑.
Da die gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 iVm Abs. 5 NAG erforderlichen Unterhaltsmittel - nach den vom Verwaltungsgericht getroffenen Feststellungen ‑ € 2.353,‑‑ betragen, liegt insofern eine Verschlechterung der Rechtsposition der Revisionswerber vor, weshalb ‑ ausgehend von der Rechtsansicht der Revisionswerber ‑ der nach dem FrG 1997 iVm der WMG‑VO 2018 errechnete (geringere) Unterhaltsbedarf von € 2.028,‑‑ maßgeblich wäre.
5.3.6. Diesem Unterhaltsbedarf steht freilich - nach den vom Verwaltungsgericht getroffenen Feststellungen - ein deutlich geringeres tatsächliches Einkommen von € 1.358,‑‑ gegenüber. Im Hinblick darauf erfüllen die Revisionswerber ‑ selbst bei Heranziehung der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 und Anwendung der für sie günstigeren Rechtslage des FrG 1997 ‑ nicht die Voraussetzungen für die Erteilung der beantragten Aufenthaltstitel.
Da dies das Verwaltungsgericht (zumindest) im Ergebnis richtig erkannte, liegt insoweit kein ‑ als Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG aufzugreifendes ‑ Abweichen von der Rechtsprechung vor.
6.1. Die Revisionswerber relevieren weiters, das Verwaltungsgericht habe eine unrichtige Einkommensprognose angestellt, indem es nicht das bestehende und künftige Einkommen, sondern ein Durchschnittseinkommen der letzten zwölf Monate herangezogen habe, was zu einem deutlich geringeren Betrag geführt habe. Es seien auch keine Anhaltspunkte dafür gegeben, dass sich das Einkommen in naher Zukunft wieder verschlechtern werde.
6.2. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist bei der Prüfung, ob ausreichende Unterhaltsmittel zur Verfügung stehen, eine Prognose über die Erzielbarkeit ausreichender Mittel zu treffen (vgl. VwGH 7.4.2011, 2009/22/0066). Dabei kommt grundsätzlich den Verhältnissen im Entscheidungszeitpunkt, aber auch der Frage früherer Beschäftigungsverhältnisse und der Wahrscheinlichkeit, ob die derzeitigen Einkommensverhältnisse auf absehbare Zeit andauern werden, Bedeutung zu (vgl. VwGH 21.6.2011, 2009/22/0060). Stehen Einkommensschwankungen im Raum, ist ein repräsentativer Zeitraum für die Ermittlung des durchschnittlich verfügbaren Monatseinkommens zu wählen (vgl. VwGH 23.11.2017, Ra 2017/22/0144, Rn. 17).
6.3. Vorliegend vertrat das Verwaltungsgericht die Ansicht, eine realistische Prognosebetrachtung erfordere, dass nicht nur auf das zuletzt bezogene Erwerbseinkommen, sondern ‑ aufgrund der in der Vergangenheit stark schwankenden Einkommenslage ‑ auf den Durchschnitt der letzten zwölf Monate abgestellt werde. Es hob dabei auch hervor, dass der Vater der Revisionswerber bereits im Jahr 2017 bei B D beschäftigt gewesen sei, das damalige Arbeitsverhältnis aber nach nur drei Wochen Vollzeitbeschäftigung und zwei Monaten geringfügiger Beschäftigung geendet habe. Weiters merkte es an, dass beim nunmehrigen Dienstverhältnis bei B D ab Juli 2018 zudem ein überraschender sprunghafter Lohnanstieg auf € 1.744,55 brutto (gegenüber € 1.500,‑‑ im Vorjahr) eingetreten sei, obwohl es sich um denselben Dienstgeber und dieselbe Gehaltseinstufung gehandelt habe und auch in der Nomenklatur Gastronomie Wien ein deutlich niedrigerer Lohn vorgesehen sei. Nicht zuletzt wies es darauf hin, dass auch die diesbezüglichen Zeugenaussagen (näher erörterte) Diskrepanzen aufgewiesen hätten.
Ausgehend davon hegte das Verwaltungsgericht ‑ der Sache nach nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisende ‑ Bedenken bzw. Zweifel, ob es sich bei dem nunmehrigen Arbeitsverhältnis des Vaters bei B D tatsächlich um eine auf absehbare Zeit andauernde, durchgehend in Vollzeitbeschäftigung ausgeübte, zu einem monatlichen Einkommen von € 1.744,55 brutto (€ 1.583,25 netto) führende Tätigkeit handle.
Im Hinblick darauf erscheint aber fallbezogen nicht unvertretbar, wenn das Verwaltungsgericht der von ihm erblickten Unsicherheit bzw. Unwägbarkeit dahingehend Rechnung trug, dass es für die Prognosebeurteilung nicht allein auf das zuletzt bezogene Einkommen, sondern auf das Durchschnittseinkommen in den vorangehenden zwölf Monaten abstellte, dessen Erzielung es als am ehesten wahrscheinlich erachtete.
7.1. Die Revisionswerber wenden sich ferner gegen die Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK. Sie führen dazu (unter anderem) aus, das Verwaltungsgericht habe sich mit dem Kindeswohl nicht entsprechend auseinandergesetzt. Die Revisionswerber seien Halbwaisen, die Großmutter sei gesundheitlich nicht mehr in der Lage, sie ausreichend zu versorgen. Es habe insbesondere auch nicht entsprechend gewichtet, dass dem Vater die Obsorge zukomme und er in Österreich niederlassungsberechtigt sei.
7.2. Wie der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung vertritt, ist die im Rahmen der Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen ‑ wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde ‑ nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG (vgl. VwGH 25.7.2019, Ra 2018/22/0219, Rn. 9).
Eine derartige Interessenabwägung ist vom Verwaltungsgerichtshof also nur dann aufzugreifen, wenn das Verwaltungsgericht im Einzelfall die in der Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien und Grundsätze nicht beachtet und damit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse und unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalls vorgenommen hat (vgl. VwGH 31.3.2021, Ra 2020/22/0030, Rn. 9).
7.3. Vorliegend hat das Verwaltungsgericht die maßgeblichen Umstände ‑ in verfahrensrechtlich einwandfreier Weise nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung ‑ festgestellt und in seine in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK einbezogen. Dass es dabei die in der Rechtsprechung aufgestellten Leitlinien und Grundsätze in unvertretbarer Weise außer Acht gelassen bzw. eine krasse und unvertretbare Fehlbeurteilung vorgenommen hätte, wird in der Revision nicht begründet dargelegt und ist auch nicht zu sehen.
7.4. Entgegen der Ansicht der Revisionswerber hat sich das Verwaltungsgericht mit dem Kindeswohl hinreichend auseinandergesetzt. Es ist dabei aufgrund der nahezu ausschließlichen Bindungen der Revisionswerber zum Heimatstaat und der engen Beziehungen zu den dort lebenden Verwandten (Großeltern und Tante) ‑ der Sache nach jedenfalls nicht unvertretbar ‑ zur Überzeugung gelangt, dass ein dortiger Verbleib dem Wohl und der weiteren gedeihlichen Entwicklung der Revisionswerber am besten entsprechen würde.
Dem steht auch nicht entgegen, dass die Revisionswerber seit dem Tod ihrer Mutter Halbwaisen sind, hat sich doch ‑ nach Angaben des Vaters ‑ eine enge Bindung vor allem gegenüber der Großmutter eingestellt. Die Großmutter mag zwar zuletzt gesundheitliche Probleme aufgewiesen haben, dass sie deshalb nicht mehr in der Lage wäre, gemeinsam mit dem Großvater und der (trotz Heirat weiterhin in der Nähe lebenden) Tante für die Revisionswerber hinreichend zu sorgen, wurde aber nicht festgestellt und ist auch nicht hervorgekommen. Wie das Verwaltungsgericht nicht unvertretbar festhielt, könnten die ‑ nach Angaben des Vaters ‑ finanziell sehr gut gestellten Großeltern nötigenfalls auch auf die Dienste von Hilfskräften (etwa bei der Haushaltsführung etc.) zurückgreifen.
Die Ausübung der Obsorge durch den in Österreich lebenden Vater steht einem Verbleib der Revisionswerber im Heimatstaat ebensowenig entgegen. Dass die Obsorge in einer Konstellation ‑ wie hier ‑ durch einen in Österreich lebenden Elternteil gegenüber seinen in einem Drittstaat lebenden Kindern unter Mitwirkung dortiger Verwandter über Jahre hinweg problemlos wahrgenommen werden kann (wie dies hier seit der Ausreise des Vaters im Jahr 2015 geschehen ist), wurde vom Verwaltungsgericht jedenfalls nicht unvertretbar bejaht. Dabei können die für die Ausübung der Obsorge im Besonderen wie auch für die Aufrechterhaltung der familiären Beziehungen im Allgemeinen erforderlichen regelmäßigen persönlichen Kontakte aufgrund des Alters der Revisionswerber durchaus im Wege moderner Kommunikationsmittel sowie gegenseitiger Besuche gewährleistet werden.
8. Insgesamt wird daher in der Zulässigkeitsbegründung der Revision keine Rechtsfrage aufgeworfen, der im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B‑VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war deshalb ‑ nach Durchführung des Vorverfahrens ‑ gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.
Wien, am 28. Juli 2022
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