VwGH Ra 2018/21/0097

VwGHRa 2018/21/00977.3.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des G Y in S, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15. Dezember 2017, L504 2149194- 2/2E, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

12010P/TXT Grundrechte Charta Art47 Abs2;
32004L0038 Unionsbürger-RL Art28 Abs3 lita;
62012CJ0400 M. G. VORAB;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
BFA-VG 2014 §9;
EURallg;
FrPolG 2005 §67 Abs1;
MRK Art8;
VwGG §28 Abs3;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGVG 2014 §24;
VwGVG 2014 §9;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018210097.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber ist ein im Dezember 1982 geborener türkischer Staatsangehöriger, der im Jahr 1998, damals 15-jährig, im Rahmen des Familiennachzugs zu seinen in Österreich lebenden Eltern kam und sich seither durchgehend hier aufhält. Er verfügte zuletzt über einen am 28. Mai 2015 erteilten (unbefristeten) Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EU". Neben seinen Eltern leben auch noch vier Geschwister und weitere Verwandte in Österreich. In der Türkei befindet sich lediglich noch die Großmutter des Revisionswerbers, bei der er vor seiner Ausreise gelebt hatte.

2 Einer bis 2012 dauernden Beziehung mit einer österreichischen Staatsbürgerin entstammt der gemeinsame, am 4. Juni 2003 geborene Sohn, der ebenfalls österreichischer Staatsbürger ist. Er befindet sich seit September 2013 in einem Kinder- und Jugendheim; die Obsorge kommt weiterhin der Mutter zu. Zu seinem Kind hat der Revisionswerber in unregelmäßigen Abständen persönlichen Kontakt.

3 Der Revisionswerber wurde beginnend ab 7. September 2003 kontinuierlich straffällig, was insgesamt neun rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilungen - zwei weitere Verurteilungen führten zu Zusatzstrafen - nach sich zog. Die Bestrafungen erfolgten vor allem wegen Delikten gegen die körperliche Integrität (Raufhandel, wiederholte Körperverletzungen, versuchte Nötigung und unerlaubter Umgang mit Suchtgiften) sowie wegen Vermögensdelikten (Hehlerei, versuchter schwerer Betrug), woraus jedoch nur in zwei Fällen unbedingte Haftstrafen resultierten. So wurde der damals schon einschlägig rückfällige Revisionswerber mit Urteil vom 5. August 2009 wegen Körperverletzung gemäß § 83 Abs. 1 StGB (Faustschläge und Fußtritte, die einen Rippenbruch und eine Schädelprellung des Opfers zur Folge hatten) zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten und (zuletzt) mit Urteil vom 26. Juli 2016 wegen qualifiziert begangenen unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften (u.a. Verkauf von Cannabis an einen Minderjährigen bzw. öffentlich an einem allgemein zugänglichen Ort) zu einer Freiheitsstrafe von fünfzehn Monaten verurteilt. Aus dieser Strafhaft wurde der Revisionswerber am 22. September 2017 entlassen.

4 Im Hinblick auf diese Straftaten verhängte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) über den Revisionswerber mit dem im zweiten Rechtsgang erlassenen Bescheid vom 3. November 2017 gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein mit sechs Jahren befristetes Aufenthaltsverbot.

5 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - ohne die ausdrücklich beantragte Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 15. Dezember 2017 als unbegründet ab. Es sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6 Gegen dieses Erkenntnis brachte der Revisionswerber zunächst eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof ein, der ihre Behandlung mit Beschluss vom 26. Februar 2018, E 306/2018, ablehnte und sie über nachträglichen Antrag mit Beschluss vom 16. März 2018 dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.

 

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die hierauf fristgerecht beim BVwG eingebrachte Revision nach deren gemeinsam mit den Verwaltungsakten erfolgten Vorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen:

8 In der Revision wird zu ihrer Zulässigkeit unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG in erster Linie bemängelt, dass das BVwG keine mündliche Verhandlung durchgeführt habe. Des Weiteren wird in Bezug auf die Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG gerügt, dass das BVwG den seit zwanzig Jahren bestehenden Aufenthalt des Revisionswerbers nicht entsprechend berücksichtigt habe. Dieser Einwand ist aber auch im Zusammenhang damit zu sehen, dass nach der in der Revisionsbegründung vertretenen Auffassung des Revisionswerbers im Hinblick auf seinen mehr als zehnjährigen Aufenthalt in Österreich die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes nach § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG nur dann zulässig wäre, wenn durch seinen Verbleib im Bundesgebiet die öffentliche Sicherheit nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde, was nicht der Fall sei.

9 Diese Verfahrens- und Rechtsrügen sind aus nachstehenden Überlegungen im Ergebnis berechtigt. Damit erweist sich die Revision - entgegen dem nicht bindenden Ausspruch des BVwG (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG) - im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG auch als zulässig.

10 Der mit "Aufenthaltsverbot" überschriebene § 67 Abs. 1 FPG und der mit "Ausweisung" überschriebene § 66 Abs. 1 FPG, der auch für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen die dort genannten Personengruppen maßgeblich ist (siehe dazu und zu den abgestuften Gefährdungsmaßstäben VwGH 13.12.2012, 2012/21/0181, Punkt 3. der Entscheidungsgründe), lauten:

"§ 67. (1) Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige ist zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können nicht ohne weiteres diese Maßnahmen begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Dasselbe gilt für Minderjährige, es sei denn, das Aufenthaltsverbot wäre zum Wohl des Kindes notwendig, wie es im Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes vorgesehen ist."

"§ 66. (1) EWR-Bürger, Schweizer Bürger und begünstigte Drittstaatsangehörige können ausgewiesen werden, wenn ihnen aus den Gründen des § 55 Abs. 3 NAG das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr zukommt, es sei denn, sie sind zur Arbeitssuche eingereist und können nachweisen, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden; oder sie bereits das Daueraufenthaltsrecht (§§ 53a, 54a NAG) erworben haben; im letzteren Fall ist eine Ausweisung nur zulässig, wenn ihr Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt."

11 Im ersten Rechtsgang behob das BVwG mit Beschluss vom 27. März 2017 den Bescheid des BFA vom 30. Jänner 2017, mit dem gegen den Revisionswerber gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein für die Dauer von sechs Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen worden war, und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides gemäß § 28 Abs. 3 VwGG an das BFA zurück. Dazu vertrat das BVwG in der rechtlichen Beurteilung in tragender Weise zunächst die Auffassung, dem Revisionswerber komme die Rechtsstellung nach Art. 7 ARB zu und deshalb sei auf ihn die Bestimmung des § 67 FPG anzuwenden. Da sich der Beschwerdeführer seit 1998, somit seit mehr als zehn Jahren, ununterbrochen in Österreich aufhalte, sei nach dem fünften Satz dieser Bestimmung die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes nur dann zulässig, wenn aufgrund seines persönlichen Verhaltens davon ausgegangen werden könne, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Anknüpfend an die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass die Gefährdungsprognose bei einem Aufenthaltsverbot an Hand konkreter Feststellungen zum Gesamtverhalten des Fremden vorzunehmen sei und daher eine bloß dem Inhalt der Strafregisterauskunft folgende Aufzählung der Verurteilungen für diese Beurteilung nicht ausreiche, bemängelte das BVwG, das BFA sei diesem Erfordernis nicht nachgekommen, indem es in seinem Bescheid - außer zur letzten Verurteilung - nur die Urteile der Strafgerichte, die maßgeblichen Strafbestimmungen und die verhängten Strafen angeführt habe. Demzufolge habe das BFA keine nachvollziehbare, im konkreten Fall den "im § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG normierten Voraussetzungen entsprechende Gefährdungsprognose" getroffen. Im gegenständlichen Fall sei im fortzusetzenden Verfahren insbesondere zu beurteilen, ob aufgrund des persönlichen Verhaltens des Beschwerdeführers davon ausgegangen werden könne, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde. Um eine entsprechende Zukunftsprognose abgeben zu können, werde sich das BFA ein umfassendes Bild über die Persönlichkeit des Beschwerdeführers zu machen haben. Im Übrigen bemängelte das BVwG noch, dass das BFA keine ausreichenden Ermittlungen zum Privat- und Familienleben des Revisionswerbers angestellt habe.

12 Dieser Beschluss blieb unbekämpft.

13 Im hierauf im zweiten Rechtsgang nach ergänzenden Ermittlungen erlassenen Bescheid vom 3. November 2017 ging das BFA zwar der Sache nach weiterhin davon aus, dass gegen den Revisionswerber aufgrund seiner ARB-Berechtigung nur bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 67 FPG bzw. des § 66 FPG ein Aufenthaltsverbot erlassen werden dürfe. Es unterstellte in Bezug auf die zu treffende Gefährdungsprognose - anders als noch im Bescheid vom 30. Jänner 2017, in dem es (wie dann auch das BVwG) erkennbar von der Anwendbarkeit des fünften Satzes des § 67 Abs. 1 FPG ausgegangen war - allerdings, dass im vorliegenden Fall dieser Maßstab (nachhaltige und maßgebliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit der Republik Österreich) mangels Vorliegens des hierfür erforderlichen ununterbrochenen Aufenthalts in den letzten zehn Jahren nicht zum Tragen komme. Dieselbe Auffassung vertrat dann im Ergebnis auch das BVwG im angefochtenen Erkenntnis.

14 Das begründete das BVwG unter Bezugnahme auf EuGH 16.1.2014, Rs. C-400/12 , damit, dass der für die Gewährung des verstärkten Schutzes nach § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG erforderliche Aufenthalt von zehn Jahren vom Zeitpunkt der Verfügung der "Ausweisung" dieser Person an zurückzurechnen sei. Dieser Aufenthaltszeitraum müsse grundsätzlich ununterbrochen gewesen sein. Das sei beim Revisionswerber nicht der Fall, wobei das BVwG dazu auf seine Anhaltung in der Justizanstalt Linz im Zeitraum 24. Juni 2016 bis 22. September 2017 und dann noch auf seine Straftaten, des Näheren auf das letzte Delikt, verwies. Das "über Jahre hinweg gesetzte Verhalten" sei für seine "familiären und sozialen Bindungen und den weiteren Aufenthalt in Österreich abträglich" gewesen. Der Revisionswerber sei zwar schon seit 1998 im Bundesgebiet aufhältig, jedoch habe er durch sein Verhalten gezeigt, dass er offenbar nicht gewillt sei, sich in Österreich zu integrieren. Daraus folgerte das BVwG "resümierend", die vom Revisionswerber in Strafhaft verbrachte Zeit sei geeignet, "das Integrationsband zu bzw. in Österreich und damit die Kontinuität des Aufenthaltes derart zu ‚zerreißen', dass die Zeit in Strafhaft für die Berechnung des Aufenthaltszeitraums von zehn Jahren (vor der Erlassung der gegenständlichen Entscheidung) nicht berücksichtigt werden kann". Es sei daher davon auszugehen, dass der Revisionswerber nicht als Person gelte, die vor der Erlassung der gegenständlichen Entscheidung ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatte.

15 Damit hat das BVwG die Rechtslage in zweifacher Weise verkannt:

16 Richtig ist, dass der EuGH in dem genannten Urteil in Bezug auf Art. 28 Abs. 3 lit. a der Richtlinie 2004/38/EG (Freizügigkeitsrichtlinie), der mit § 67 Abs. 1 fünfter Satz FPG in nationales Recht umgesetzt wurde, zum Ausdruck gebracht hatte, dass ein Zeitraum der Verbüßung einer Freiheitsstrafe durch den Betroffenen grundsätzlich geeignet sei, die Kontinuität des Aufenthalts im Sinne dieser Bestimmung zu unterbrechen und sich damit auf die Gewährung des dort vorgesehenen verstärkten Schutzes auch in dem Fall auszuwirken, dass sich diese Person vor dem Freiheitsentzug (schon) zehn Jahre lang im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat. Dieser Umstand könne jedoch bei der umfassenden Beurteilung berücksichtigt werden, die für die Feststellung, ob die zuvor mit dem Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsverbindungen abgerissen sind, vorzunehmen sei (vgl. VwGH 19.2.2014, 2013/22/0309). Demnach ist bei dieser "umfassenden Beurteilung", ob die mit dem Aufnahmemitgliedstaat geknüpften Integrationsverbindungen durch den Freiheitsentzug "abgerissen" sind, auch zu berücksichtigen, wie lange sich der Fremde vor dem Freiheitsentzug im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat. Des Weiteren kommt es dabei auf die Gesamtdauer der "Unterbrechungen" des Aufenthalts und auf deren Häufigkeit an (vgl. VwGH 24.3.2015, Ro 2014/21/0079).

17 Der Revisionswerber befand sich im Zeitraum Mitte Mai 2009 bis Mitte August 2009, sohin etwa drei Monate, erstmals in Haft, was aber schon wegen der Kürze der Anhaltung und der langen Dauer des Voraufenthalts von mehr als zehn Jahren jedenfalls nicht geeignet war, die Kontinuität des Aufenthalts zu unterbrechen. Das zog das BVwG auch nicht in Betracht. Die zweite Anhaltung in einer Justizanstalt dauerte dann von Juni 2016 bis September 2017 fünfzehn Monate lang. Insoweit hat das BVwG zwar den davor liegenden Aufenthalt in Österreich von etwa achtzehn Jahren erwähnt, die in dieser Zeit erlangte Integration jedoch wegen der begangen Straftaten als relativiert angesehen und schon deshalb "ein Abreißen" des "Integrationsbandes zu bzw. in Österreich" angenommen. Das greift zu kurz.

18 Vielmehr wäre fallbezogen neben dem besonders langen Aufenthalt des Revisionswerbers seit seiner Jugend in Österreich als wesentlich einzubeziehen gewesen, dass sein 15-jähriger Sohn, ein österreichischer Staatsbürger, mit dem der Revisionswerber, wenn auch nicht regelmäßig, Kontakt hat, und alle weiteren nahen Verwandten - mit Ausnahme seiner Großmutter - schon sehr lange in Österreich leben. Des Weiteren wäre zu berücksichtigen gewesen, dass der Revisionswerber mit diesen Verwandten während seiner Anhaltung in Kontakt blieb und auch nach der Haftentlassung wieder im Haushalt seiner Eltern lebt. Gegen ein "Abreißen des Integrationsbandes" spricht im Übrigen, dass der Revisionswerber unmittelbar nach dem Ende seiner Strafhaft wieder eine unselbständige Beschäftigung (als Estrichleger) gefunden hat. Davon ausgehend war es nicht gerechtfertigt anzunehmen, dass der Revisionswerber im Zeitpunkt der Erlassung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme keinen ununterbrochenen Aufenthalt von zehn Jahren im Sinne des fünften Satzes des § 67 Abs. 1 FPG in Österreich gehabt hatte (siehe zu den für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gemäß dieser Norm in der Rechtsprechung des EuGH geforderten strengen Kriterien des Näheren zuletzt VwGH 24.1.2019, Ra 2018/21/0248, Rn. 6, das einen ähnlich gelagerten Fall betraf).

19 Das BVwG hätte aber vorrangig schon deshalb von einem dem Revisionswerber zukommenden erhöhten "Ausweisungsschutz" nach der genannten Bestimmung ausgehen müssen, weil nicht nur das BFA gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG an die in Rn. 11 dargestellte (tragende) rechtliche Beurteilung des BVwG im aufhebenden und zurückverweisenden Beschluss vom 27. März 2017, somit an die für den vorliegenden Fall dort angenommene Anwendbarkeit des § 67 Abs. 1 FPG selbst sowie dessen fünften Satzes, gebunden war, sondern auch das BVwG bei Erlassung des bekämpften Erkenntnisses (vgl. VwGH 15.3.2018, Ra 2018/21/0011, Rn. 15, mwN).

20 Im Übrigen hätte das BVwG auch nicht von der in der Beschwerde ausdrücklich beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung Abstand nehmen dürfen:

21 § 21 Abs. 7 BFA-VG, auf den sich das BVwG stützte, erlaubt das Unterbleiben einer Verhandlung trotz deren ausdrücklicher Beantragung, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint. Aus dieser Regelung ergibt sich, dass die Unterlassung einer Verhandlung (nur) dann einen relevanten, zur Aufhebung führenden Verfahrensmangel begründet, wenn ein entscheidungswesentlicher Sachverhalt klärungsbedürftig ist; dieser ist in der Revision darzutun. Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Zusammenhang aber auch wiederholt darauf hingewiesen, bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen komme der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zu, und zwar sowohl in Bezug auf die (allenfalls erforderliche) Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. In eindeutigen Fällen, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschafft, kann allerdings eine Verhandlung unterbleiben (vgl. etwa VwGH 26.4.2018, Ra 2018/21/0052, Rn. 16, mwN).

22 Vom Vorliegen eines eindeutigen Falles ist das BVwG - im Ergebnis zu Recht - nicht ausgegangen. Es erachtete vielmehr die Verschaffung eines persönlichen Eindrucks vom Revisionswerber für entbehrlich, weil in der Beschwerde nicht "konkret behauptet" worden sei, "dass das Gericht durch einen persönlichen Eindruck im Rahmen einer Verhandlung zu einem anderen Ergebnis gelangen könnte." Ein solches ausdrückliches Vorbringen in der Beschwerde war jedoch nicht erforderlich. Zur Begründung der grundsätzlichen Verhandlungspflicht zur Verschaffung eines persönlichen Eindrucks vor Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen genügt vor dem Hintergrund der dargestellten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vielmehr schon ein (insoweit nicht weiter zu begründender) Antrag auf Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung.

23 Außerdem lag in Bezug auf die für die Interessenabwägung unter dem Gesichtspunkt des § 9 Abs. 2 Z 5 BFA-VG (Bindungen zum Heimatstaat) wesentliche Frage des Bestehens von Anknüpfungspunkten in der Türkei bei einer Rückkehr des Revisionswerbers dorthin kein geklärter Sachverhalt vor. Er hatte nämlich in der Beschwerde vorgebracht, seine Großmutter befinde sich in einem Pflegeheim und er verfüge in der Türkei über "keinerlei soziales Netzwerk" mehr. Demgegenüber konstatierte das BVwG, es stehe nicht fest, ob die in der Türkei lebende Großmutter des Revisionswerbers in einem Altersheim untergebracht sei und ob der Revisionswerber Kontakte in seine Heimat pflege, wozu sich im Übrigen dem angefochtenen Erkenntnis keine beweiswürdigenden Überlegungen entnehmen lassen. Bezüglich dieser negativen Feststellung releviert die Revision somit zu Recht, dass das BVwG zur Frage der (fehlenden) sozialen Bindungen in der Türkei und der erwartbaren Situation bei einer Rückkehr dorthin eine Befragung des Revisionswerbers im Rahmen einer mündlichen Verhandlung hätte vornehmen müssen.

24 Aus all diesen Gründen war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

25 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Wien, am 7. März 2019

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte