VwGH Ra 2018/19/0164

VwGHRa 2018/19/016428.6.2018

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofräte Mag. Eder und Dr. Pürgy als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, über die Revision des W A H in S, vertreten durch Mag. Hans Lederer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Gauermanngasse 2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. August 2017, Zl. W123 2151259-1/6E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

12010P/TXT Grundrechte Charta Art47;
AsylG 2005 §3 Abs1;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
EMRK Art6;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGVG 2014 §24;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018190164.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger und der Volksgruppe der Hazara zugehörig, stellte am 2. August 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 2. März 2017 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab. Es erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.

Das BFA ging in seiner Begründung davon aus, dass das Vorbringen des in Pakistan geborenen Revisionswerbers zu diesem Land in Hinblick auf seinen Heimatstaat Afghanistan ebenso wenig asylrelevant sei, wie der Verweis auf die schlechte Situation von Hazara in Afghanistan oder den dortigen Krieg. Dem Revisionswerber stehe in Afghanistan zudem eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in Kabul offen.

3 In der dagegen erhobenen Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht rügte der Revisionswerber unter Vorlage weiterer Berichte vor allem, dass das BFA seiner Entscheidung unvollständige Länderberichte zugrunde gelegt habe. In Afghanistan herrsche eine sehr schlechte Sicherheitslage, der enorme Zustrom von Rückkehrern erschwere das Leben in Kabul noch weiter. Zudem sei der Revisionswerber als Hazara und westlicher Rückkehrer besonders gefährdet. Mangels eines sozialen Netzwerks würde der Revisionswerber bei einer Rückkehr in eine existenzbedrohende Situation geraten. Außerdem wurde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt.

4 Das Bundesverwaltungsgericht teilte dem Revisionswerber mit Schreiben vom 8. Juni 2017 mit, dass es beabsichtige, auf Grund der Aktenlage zu entscheiden. Unter einem übermittelte es dem Revisionswerber Auszüge aus dem Länderinformationsblatt samt Gutachten, stellte schriftliche Fragen zur Integration des Revisionswerbers und merkte an, dass es von bestimmten näher dargestellten Sachverhalten ausgehe, falls der Revisionswerber die an ihn gestellten Fragen nicht oder nicht "mit Bescheinigungsmitteln unterlegt" beantworte. Weiters wurde dem Revisionswerber auf diesem Weg die Möglichkeit eröffnet, eine schriftliche Stellungnahme zu den übermittelten Länderinformationen abzugeben.

5 Eine Stellungnahme des Revisionswerbers wurde nicht erstattet. 6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 3. August 2017 wies

das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde des Revisionswerbers - ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab und erklärte die Revision an den Verwaltungsgerichtshof für nicht zulässig.

In der Begründung hielt das Bundesverwaltungsgericht fest, dass der Revisionswerber keine konkrete gegen ihn gerichtete asylrelevante Verfolgung in Afghanistan dargetan habe. Die seine Flucht auslösenden Ereignisse hätten sich nämlich auf seinen Aufenthalt in Pakistan bezogen. Aus den Feststellungen zur Situation in seinem Heimatland ergebe sich, dass er dort wegen seiner Volksgruppenzugehörigkeit keiner Gruppenverfolgung unterliege. Die Situation seiner Volksgruppe habe sich nämlich "in Afghanistan seit dem Ende der Talibanherrschaft nachhaltig und wesentlich verbessert". Weiters führte das Verwaltungsgericht aus, weshalb es anhand der von ihm getroffenen Feststellungen zur Lage in Afghanistan davon ausgehe, dass eine Rückführung des Revisionswerbers Art. 3 EMRK nicht verletze und die Erlassung einer Rückkehrentscheidung mit Art. 8 EMRK vereinbar sei. Die beantragte Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG unterbleiben können, weil betreffend die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten eine "reine Rechtsfrage (keine GFK-Gründe, Fluchtvorbringen außerhalb Afghanistans)" zu prüfen gewesen sei. Zudem sei "Parteiengehör iSd § 45 Abs. 3 AVG gewahrt" worden und es seien "dem Asylakt sämtliche entscheidungsrelevanten Grundlagen zu entnehmen (insbesondere die Einvernahmeprotokolle)".

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die dagegen erhobene Revision nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8 In der Revision wird zur Begründung ihrer Zulässigkeit unter anderem geltend gemacht, das Bundesverwaltungsgericht habe entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterlassen.

9 Die Revision ist zulässig und auch begründet. 10 Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung

unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn dieser Bestimmung "geklärt erscheint", folgende Kriterien beachtlich:

Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht muss die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 1.3.2018, Ra 2017/19/0410).

11 Überdies hat der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt festgehalten, dass die im Beschwerdeverfahren eingeräumte Möglichkeit, zum Inhalt aktueller Länderberichte zur Situation im Herkunftsstaat schriftlich Stellung zu nehmen, grundsätzlich die Durchführung einer Verhandlung nicht ersetzen kann (vgl. etwa VwGH 19.9.2017, Ra 2017/20/0203, und VwGH 20.9.2017, Ra 2017/19/0207, jeweils mwN).

12 Im vorliegenden Fall hat das Bundesverwaltungsgericht (insbesondere) mehrere neue Beweismittel beigeschafft und sich für seine Feststellungen zur Lage in Afghanistan - nicht nur betreffend die Frage einer Existenzsicherung im Fall der Rückkehr, sondern auch in Bezug auf eine etwaig bestehende Gruppenverfolgung - zentral auf die in diesen Beweismitteln enthaltenen Ausführungen gestützt. Damit wurden sowohl die Feststellungen als auch die Beweiswürdigung gegenüber den Ausführungen der Behörde nicht bloß unwesentlich ergänzt.

13 Demnach lagen die Voraussetzungen für die Abstandnahme von der Verhandlung nicht vor. Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des - wie hier gegeben - Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. VwGH 1.3.2018, Ra 2017/19/0418, mwN).

14 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.

15 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 28. Juni 2018

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