VwGH Ra 2017/19/0418

VwGHRa 2017/19/04181.3.2018

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zens sowie die Hofrätin Mag. Rossmeisel und den Hofrat Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Samonig, über die Revision 1. der S T, und

2. des L T, beide in W, beide vertreten durch Dr. Günther Loibner, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Johannesgasse 22/6, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 17. August 2017, L518 2152319-1/21E und L518 2152316-1/20E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

12010P/TXT Grundrechte Charta Art47;
AsylG 2005 §3 Abs1;
BFA-VG 2014 §21 Abs7;
MRK Art6;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGG §42 Abs2 Z3;
VwGVG 2014 §24;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2017190418.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter des minderjährigen Zweitrevisionswerbers. Die revisionswerbenden Parteien sind Staatsangehörige Georgiens. Sie stellten am 23. Juni 2015 Anträge auf internationalen Schutz und brachten vor, der Zweitrevisionswerber leide seit seiner Geburt an einer infantilen Zerebralparese sowie einem Hodenhochstand. In Georgien erhalte der Zweitrevisionswerber nicht die notwendige medizinische Behandlung und könne auch die benötigte Versorgung mit einem Rollstuhl nicht erlangen. Der georgische Staat verweigere eine Krankenbehandlung des Zweitrevisionswerbers auch deshalb, weil der Vater des Zweitrevisionswerbers, von dem die Erstrevisionswerberin geschieden sei, Mitglied einer Oppositionspartei sei. Eine private Finanzierung der notwendigen medizinischen Behandlung sei nicht möglich, weil die in Georgien verbliebene Familie der revisionswerbenden Parteien nicht bereit sei, den Zweitrevisionswerber zu unterstützen. Der Zweitrevisionswerber sei aufgrund seiner Behinderung in Georgien ausgegrenzt worden.

2 Mit Bescheiden vom 14. März 2017 (hinsichtlich der Erstrevisionswerberin) sowie vom 15. März 2017 (hinsichtlich des Zweitrevisionswerbers) wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diese Anträge zur Gänze ab, erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ Rückkehrentscheidungen und stellte fest, dass die Abschiebung der revisionswerbenden Parteien nach Georgien zulässig sei. Unter einem sprach es aus, dass keine Frist für eine freiwillige Ausreise bestehe und Beschwerden gegen diese Bescheide die aufschiebende Wirkung aberkannt werde.

3 Begründend führte das BFA insbesondere aus, aufgrund der Länderberichte ergebe sich, dass der Zweitrevisionswerber bei einer Rückkehr nach Georgien eine Krankenbehandlung durch das staatliche Gesundheitssystem erhalten werde. Die Gefahr einer Verweigerung der Behandlung aufgrund der Parteizugehörigkeit des Vaters des Zweitrevisionswerbers sei nicht glaubhaft. Die Erstrevisionswerberin sei in der Lage, in Georgien einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Der Lebensunterhalt der revisionswerbenden Parteien in Georgien sei gesichert, zumal sie die Unterstützung ihrer in Georgien lebenden Angehörigen in Anspruch nehmen könnten.

4 In den dagegen erhobenen Beschwerden brachten die revisionswerbenden Parteien unter anderem vor, das BFA habe es unterlassen festzustellen, ob in Georgien ein Zugang zu der beim Krankheitsbild des Zweitrevisionswerbers konkret benötigten Behandlung gegeben sei und ob die benötigte Versorgung mit einem Rollstuhl gewährt werde. Die vom BFA zum georgischen Gesundheitssystem eingeholten Länderberichte seien veraltet. Auch konkrete Ermittlungen dazu, ob die Zugehörigkeit des Vaters des Zweitrevisionswerbers Auswirkungen auf die gewährten Leistungen aus dem öffentlichen Gesundheitssystem habe, seien vom BFA nicht angestellt worden. Behinderte Kinder erhielten in Georgien nicht die erforderliche Unterstützung und seien in Gefahr, Opfer von Misshandlungen bzw. entwürdigender Behandlung und Ausbeutung zu werden. Dazu zitierten die revisionswerbenden Parteien diverse Berichte über die Lage behinderter Kinder in Georgien. Im Übrigen beantragten die revisionswerbenden Parteien die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

5 Das Bundesverwaltungsgericht richtete eine Anfrage an die Staatendokumentation zu den Möglichkeiten der Behandlung der Erkrankungen des Zweitrevisionswerbers in Georgien. Die Anfragebeantwortung übermittelte das Bundesverwaltungsgericht zur Stellungnahme an die revisionswerbenden Parteien, die darauf weiteres Vorbringen erstatteten und unter anderem vorbrachten, dass eine Unterstützung durch den Vater des Zweitrevisionswerbers bei einer Rückkehr nach Georgien ausgeschlossen sei. Dazu legten sie eine Urkunde zur Scheidung der Ehe zwischen der Erstrevisionswerberin und dem Vater des Zweitrevisionswerbers vor. Das Bundesverwaltungsgericht richtete darauf weitere Anfragen an die Staatendokumentation hinsichtlich der Möglichkeit der Erlangung eines Rollstuhles durch den Zweitrevisionswerber in Georgien sowie zum georgischen Scheidungsverfahren und zur Durchsetzung eines Unterhaltsanspruches, wenn dieser - wie vorliegend - in der Scheidungsurkunde nicht genannt werde. Die Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation wurden den revisionswerbenden Parteien erneut zur Stellungnahme übermittelt.

6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerden der revisionswerbenden Parteien ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab und sprach aus, dass eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nicht zulässig sei.

7 Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, für den Zweitrevisionswerber sei in Georgien eine Behandlung seiner Erkrankungen verfügbar. Auch eine Versorgung mit dem benötigten Hilfsmittel eines Rollstuhles sei gewährleistet. Nicht glaubhaft sei, dass die Behandlung aufgrund einer Parteizugehörigkeit des Vaters des Zweitrevisionswerbers verwehrt würde. Eine ausreichende Existenzgrundlage beider revisionswerbenden Parteien sei in Georgien auch unter Berücksichtigung des Betreuungsbedarfes des Zweitrevisionswerbers gesichert. Neben dem von der arbeitsfähigen Erstrevisionswerberin erzielbaren Einkommen und staatlichen Beihilfen könnten die revisionswerbenden Parteien auch auf die Unterstützung ihrer Familie in Georgien zurückgreifen, zumal es ihnen offen stehe, gegen den Vater des Zweitrevisionswerbers Unterhaltsansprüche gerichtlich geltend zu machen. Diese Feststellungen stützte das Bundesverwaltungsgericht insbesondere auf die zuvor eingeholten Anfragebeantwortungen der Staatendokumentation.

 

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die dagegen erhobene außerordentliche Revision nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z?2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9 Die Revisionswerber bringen zur Zulässigkeit ihrer Revision vor, das Bundesverwaltungsgericht habe entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen.

10 Die Revision ist zulässig und berechtigt.

11 Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht.

12 Seit seinem Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, judiziert der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung (vgl. dazu etwa VwGH 22.11.2017, Ra 2017/19/0275; 19.9.2017, Ra 2017/20/0203; 16.11.2016, Ra 2016/18/0233), dass für die Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA-VG geklärt erscheint und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung daher unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich sind:

13 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht muss die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.

14 Diese Voraussetzungen des Entfalls der mündlichen Verhandlung lagen im vorliegenden Fall in mehrfacher Hinsicht nicht vor. Die revisionswerbenden Parteien sind in ihren Beschwerden den Feststellungen des BFA in den angefochtenen Bescheiden nicht bloß unsubstantiiert entgegen getreten. Das Bundesverwaltungsgericht erkannte das Erfordernis weiterer Erhebungen und richtete zu diesem Zweck Anfragen an Staatendokumentation. Auf der Grundlage der Anfragebeantwortungen wurden im angefochtenen Erkenntnis neue Feststellungen getroffen und die tragenden beweiswürdigenden Erwägungen nicht bloß unwesentlich ergänzt.

15 Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesem Zusammenhang bereits klargestellt, dass schon allein die vom Bundesverwaltungsgericht erkannte Notwendigkeit zur Situation im Herkunftsstaat eines Asylwerbers aktuelle Länderberichte einzuholen und die Feststellungen des BFA zu ergänzen, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erforderlich macht (vgl. VwGH 22.11.2017, Ra 2017/19/0275; 26.4.2017, Ra 2016/19/0290). Die im Beschwerdeverfahren eingeräumte Möglichkeit, zum Inhalt solcher Länderberichte schriftlich Stellung zu nehmen, kann die Durchführung einer mündlichen Verhandlung grundsätzlich nicht ersetzen (vgl. etwa VwGH 20.9.2017, Ra 2017/19/0207, mwN).

16 Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des - wie hier gegeben - Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. VwGH 22.11.2017, Ra 2017/19/0412, mwN).

17 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

18 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Wien, am 1. März 2018

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