VwGH Ra 2018/18/0239

VwGHRa 2018/18/023916.1.2019

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision

1. d A F, 2. d A A, 3. d A R A, und 4. d H A, alle vertreten durch Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. März 2018, Zlen. 1. W209 2164782- 1/7E, 2. W209 2164784-1/7E, 3. W209 2164786-1/7E und

4. W209 2164788-1/9E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §2 Abs1 Z22;
AsylG 2005 §34 Abs4;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs3;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018180239.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird, soweit es die Viertrevisionswerberin betrifft, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, im Übrigen wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die revisionswerbenden Parteien sind Teil einer Familie; die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der minderjährigen Viertrevisionswerberin sowie des minderjährigen Zweit- und des minderjährigen Drittrevisionswerbers. Sie sind allesamt Staatsangehörige Afghanistans, stammen aus der Provinz Ghazni und stellten am 6. November 2015 Anträge auf internationalen Schutz im Bundesgebiet.

2 In ihrer Einvernahme gab die Erstrevisionswerberin zunächst an, sie habe in Afghanistan wegen der Taliban keine Schule besuchen können. Zu ihren Fluchtgründen befragt führte sie aus, dass sie sich den Fluchtgründen ihres in Österreich lebenden subsidiär schutzberechtigten Ehemannes anschließe. Zudem habe sie eigene Gründe: Sie habe in Afghanistan nicht alleine außer Haus gehen können und habe als alleinstehende Frau mit Kindern große Probleme gehabt. In Afghanistan sei sie aufgrund der Taliban gezwungen gewesen, sich zu verschleiern. Die minderjährigen zweitbis viertrevisionswerbenden Parteien hätten keine eigenen Fluchtgründe.

3 Mit Bescheiden vom 8. Juni 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der revisionswerbenden Parteien auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihnen jedoch im Familienverfahren - abgeleitet vom Ehemann der Erstrevisionswerberin bzw. vom Vater der zweit- bis viertrevisionswerbenden Parteien - den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteile ihnen gemäß § 8 Abs. 4 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) jeweils befristete Aufenthaltsberechtigungen (Spruchpunkt III.).

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen Spruchpunkt I. dieser Bescheide (betreffend die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten) erhobene Beschwerde der revisionswerbenden Parteien als unbegründet ab. Die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Gericht für nicht zulässig.

5 Das BVwG stellte zunächst fest, die revisionswerbenden Parteien stammten aus der afghanischen Provinz Ghazni, Distrikt Jaghatu. Zur Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten führte das BVwG begründend aus, es könne nicht festgestellt werden, dass die Erstrevisionswerberin einen "westlich" orientierten Lebensstil angenommen habe, welcher einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstelle. Betreffend die minderjährigen Zweit- und Drittrevisionswerber hätten keine asylrelevanten Verfolgungsgründe festgestellt werden können. Ebenso drohe der minderjährigen Viertrevisionswerberin keine asylrelevante Verfolgung aufgrund einer Zwangsverheiratung bzw. aufgrund von sexueller Gewalt, zumal es sich bei dem diesbezüglichen Parteienvorbringen lediglich um Mutmaßungen handle und ein vorhandenes soziales Netzwerk aufgrund des aufrechten Familienverbandes mit dem Familienvater bestehe, welcher in der aktuellen Konstellation das "Familienoberhaupt" darstelle und befürworte, dass Töchter ihre Ehemänner selbst bestimmen könnten.

6 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, welche zur Begründung ihrer Zulässigkeit unter anderem eine Verletzung der Begründungspflicht geltend macht. In der Stellungnahme vom 3. März 2018 habe die Erstrevisionswerberin darauf hingewiesen, dass sie aufgrund der Einschränkungen durch die Taliban keine Schule habe besuchen können und auch der Viertrevisionswerberin ein Schulbesuch in Afghanistan verwehrt sei. Das BVwG habe sich mit diesem Fluchtgrund der Viertrevisionswerberin nicht auseinandergesetzt. Darüber hinaus fehlten nähere Länderfeststellungen betreffend den Zugang zu Bildung für Mädchen in Ghazni, obwohl die Taliban in dieser Provinz als "durchaus mächtig" gälten und diese u.a. den Schulbesuch von Mädchen verhinderten.

7 Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.

 

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

8 Die Revision ist zulässig, sie ist auch begründet. 9 Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht

bereits wiederholt ausgesprochen, dass das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht hat, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH 6.9.2018, Ra 2018/18/0027, mwN).

10 Diesen Anforderungen wird das angefochtene Erkenntnis nicht gerecht. Bereits in der Einvernahme vor dem BFA gab die Erstrevisionswerberin bezogen auf ihre Herkunftsregion Ghazni an, dass sie durch die Taliban Einschränkungen in ihrer Lebensweise ausgesetzt gewesen sei, weshalb sie unter anderem nicht zur Schule habe gehen können. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG äußerte die Erstrevisionswerberin den Wunsch, dass ihre minderjährigen Kinder eine Schulbildung erhalten sollten. In einer dem BVwG übermittelten Stellungnahme wurde ausgeführt, dass der minderjährigen Viertrevisionswerberin ein Schulbesuch in Afghanistan nicht möglich sei. In diesem Zusammenhang verwiesen die revisionswerbenden Parteien auf die (zum damaligen Zeitpunkt aktuellen) UNHCR-Richtlinien vom 19. April 2016, wonach eine systematische Beschränkung des Zugangs zu Bildung für Frauen bestehe. Regierungsfeindliche Kräfte würden weiterhin gezielte Angriffe auf Schulen, Lehrer und Schüler ausüben, insbesondere im Zusammenhang mit der Bildung für Mädchen.

11 Die Revision macht zutreffend geltend, dass sich das BVwG mit diesem asylrelevanten Vorbringen nicht näher auseinandersetzte und insbesondere in diesem Zusammenhang die Ausführungen in einschlägigen Länderberichten (hier: den UNHCR-Richtlinien vom 19. April 2016) nicht in seine Erwägungen miteinbezog. Danach würden regierungsfeindliche Kräfte gezielte Angriffe auf Schulen, Lehrer und Schüler durchführen, insbesondere im Zusammenhang mit Bildung für Mädchen. Die Angriffe werden - so die Richtlinien des UNHCR - mehrheitlich den Taliban zugerechnet, die nach den Feststellungen des BVwG im vorliegenden Fall auch in der Herkunftsregion der revisionswerbenden Parteien aktiv seien und regelmäßig Operationen durchführten.

12 Ausgehend davon hat es das BVwG verabsäumt, sich damit auseinander zu setzen, ob die Viertrevisionswerberin im Falle des Schulbesuchs im Herkunftsstaat der Gefahr einer Verfolgung im asylrechtlichen Sinne ausgesetzt wäre.

13 Das angefochtene Erkenntnis war daher, soweit es die Viertrevisionswerberin betrifft, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

14 Dieser Umstand schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auch auf die erst- bis drittrevisionswerbenden Parteien als Familienmitglieder durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Entscheidung (vgl. etwa VwGH 23.1.2018, Ra 2017/20/0187; 29.6.2015, Ra 2015/18/0031; 25.3.2015, Ra 2014/18/0153, jeweils mwN). Das sie betreffende Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

15 Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 16. Jänner 2019

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte