VwGH Ra 2014/18/0153

VwGHRa 2014/18/015325.3.2015

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Mag. Hainz-Sator als Richterinnen und Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Klammer, über die Revision der revisionswerbenden Parteien 1.) F O, 2.) D M, und 3.) D I, alle in W und vertreten durch Mag. Peter Melicharek, Rechtsanwalt in Wien, dieser vertreten durch die Melicharek Rechtsanwalts GmbH in 1070 Wien, Gardegasse 11/4, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts jeweils vom 17. Juli 2014, Zlen. L501 1417529-1/9E (zu 1.), L501 1417528-1/8E (zu 2.) und L501 1429913-1/4E (zu 3.), betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Bundesverwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §3 Abs1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;
AsylG 2005 §3 Abs1;
FlKonv Art1 AbschnA Z2;

 

Spruch:

Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

I.

1. Die revisionswerbenden Parteien sind irakische Staatsangehörige, der Zweit- und der Drittrevisionswerber sind die minderjährigen Kinder der Erstrevisionswerberin. Die Erstrevisionswerberin und der Zweitrevisionswerber beantragten am 8. November 2010 internationalen Schutz, der Drittrevisionswerber am 6. September 2012. Als Fluchtgrund gaben die revisionswerbenden Parteien an, die Erstrevisionswerberin werde von ihrer Familie verfolgt, weil sie Schande über diese gebracht habe. Da sie gegen den Willen ihrer Familie ihren jetzigen Ehemann geheiratet habe, habe ihr Bruder eine Zigarette an ihrem Arm ausgedrückt, wovon sie eine Brandverletzung davongetragen habe, und sie mit dem Tod bedroht. Deswegen sei sie im Jahr 2005 von ihrem Heimatort Zakho nach Mosul geflüchtet, wo sie bis zur Ausreise im Jahr 2010 versteckt gelebt habe. Fluchtauslösend sei ein Anruf ihres Onkels im Jahr 2010 gewesen, der ihrem Ehemann mitgeteilt habe, dass der Vater der Erstrevisionswerberin nun über ihren Aufenthaltsort Bescheid wisse und sie töten (lassen) werde, weswegen der Onkel ihr zur Flucht geraten habe.

Mit Bescheiden jeweils vom 12. Jänner 2011 bzw. 5. Oktober 2012 wies das Bundesasylamt (nunmehr: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl - BFA) die Anträge hinsichtlich der Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab, erkannte den revisionswerbenden Parteien aber den Status von subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 zu und erteilte ihnen gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

2. Mit Erkenntnissen jeweils vom 17. Juli 2014 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen die abweisenden Entscheidungen erhobene Beschwerde der revisionswerbenden Parteien als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

In der Begründung führte es hinsichtlich der Erstrevisionswerberin im Wesentlichen aus, die vorgebrachte Furcht sei nicht nachvollziehbar und damit nicht wohlbegründet. Die Erstrevisionswerberin habe nur an einer Stelle konkret vorgebracht, dass sie im Jahr 2005 durch Ausdämpfen von Zigaretten am Arm von ihrem Bruder verletzt und mit dem Tod bedroht worden sei. Sämtliche sonstige Todesdrohungen seien "abstrakt in den Raum gestellte - ohne Verknüpfung zu einem konkreten Vorfall - Befürchtungen" der Erstrevisionswerberin. Nach dem Vorfall im Jahr 2005 sei sie weder tätlich angegriffen noch bedroht worden. Die "zugefügte (Brand)Verletzung bzw. die einmalige mit einem konkreten Sachverhalt verbundene Drohung, 'wenn du so weitermachst, werde ich dich töten', mag wohl unangenehm gewesen sein", erreiche aber nicht das von der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) geforderte Ausmaß einer Verfolgung. Auch der Bedrohung zum Ausreisezeitpunkt sei "mangels Vorliegen jedweder Verfolgungshandlung im Jahr 2010 sowie der vergangenheitsbezogenen Betrachtung die 'asylrechtlich relevante Intensität'" abzusprechen. Eine Auseinandersetzung mit der Problematik "Ehrverletzung sowie drohende politische, religiöse Verfolgung bzw. Verfolgung aufgrund Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" erübrige sich "angesichts der der Gefahr, Bedrohung bzw. Verfolgung fehlenden 'Intensität' bzw. 'wohlbegründeter Furcht' bzw. mangels Aktualität."

In den Entscheidungen des Zweit- und Drittrevisionswerbers führte das BVwG zusammengefasst aus, sie hätten keine Verfolgungsgefahr glaubhaft behauptet und es sei eine asylrelevante Verfolgung auch sonst im Ermittlungsverfahren nicht hervorgekommen. Zudem hätten auch ihre Eltern eine asylrelevante Verfolgung zu keinem Zeitpunkt des Asylverfahrens glaubhaft anzugeben vermocht.

Das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung begründete das BVwG in sämtlichen angefochtenen Entscheidungen damit, dass der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde gemäß § 21 Abs. 7 BFA VG geklärt erscheine.

3. Gegen diese Erkenntnisse richtet sich die gegenständliche außerordentliche Revision. Zur Zulässigkeit führt diese aus, die angefochtenen Erkenntnisse hätten die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes außer Acht gelassen, wonach bei Verfolgung einer Frau wegen Missachtung der Wertvorstellungen ihrer Familie der Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer "sozialen Gruppe" vorliege.

Das BFA hat von einer Revisionsbeantwortung Abstand genommen.

Aufgrund des persönlichen und sachlichen Zusammenhangs wurden die Revisionsverfahren zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.

II.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

1. Die Revision ist zulässig und auch begründet.

1.2. Zunächst sei auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes verwiesen, wonach in Fällen, in denen einer Asylwerberin wegen Missachtung der Wertvorstellungen ihrer Familie als weibliches Familienmitglied die Ermordung, vor der sie der Staat nicht schützt, droht, sowohl eine Verfolgung wegen des Geschlechts als auch wegen der Zugehörigkeit zur Familie der Verfolger in Betracht kommt (vgl. VwGH vom 9. September 2010, 2007/20/1091, mwN).

1.3. Im vorliegenden Fall ging das BVwG davon aus, dass die Verwandten der Erstrevisionswerberin diese im Jahr 2005 verletzt und mit dem Tod bedroht hätten, weil sie dem Willen der Familie nicht entsprochen und dadurch Schande über die Familie gebracht habe. Gleichzeitig stellte es fest, dass Frauen im Irak nach wie vor Opfer von Ehrenmorden würden und der Staat sie nicht schütze. Dem Vorbringen der revisionswerbenden Parteien ist aber auch zu entnehmen, dass sich die Erstrevisionswerberin danach fünf Jahre in Mosul versteckt halten musste, um sich einer Verfolgung zu entziehen. Zudem habe ihr Ehemann im Jahr 2010 einen Anruf von ihrem Onkel erhalten, der der Familie zur Flucht geraten habe, da der Vater der Erstrevisionswerberin nun über ihren Aufenthaltsort Bescheid wisse und sie töten (lassen) werde. Ob das BVwG dieses behauptete, fluchtauslösende Ereignis für wahr erachtete, ist den Sachverhaltsfeststellungen nicht zu entnehmen. Auch das Vorbringen dazu, dass sich die Erstrevisionswerberin jahrelang versteckt hielt, um sich der Verfolgung zu entziehen, ließ das BVwG außer Acht.

Sollte das BVwG das Vorbringen zu den Ereignissen im Jahr 2010 seiner Entscheidung zu Grunde gelegt haben, ist nicht nachvollziehbar, warum die der Erstrevisionswerberin zur Kenntnis gebrachte Drohung nicht den Anforderungen an Aktualität und Intensität einer Verfolgungshandlung sowie der dadurch begründeten Furcht vor Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK entsprechen sollte.

Das BVwG geht davon aus, dass die Erstrevisionswerberin bereits im Jahr 2005 verletzt und mit dem Tod bedroht wurde, was ein ernsthafter Hinweis darauf ist, dass die Furcht der Erstrevisionswerberin vor Verfolgung begründet ist bzw. dass sie tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird (vgl. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU - Statusrichtlinie).

Was wiederum die Frage der Aktualität und Intensität der Verfolgung anlangt, so ist dem Vorbringen zu entnehmen, dass der Ehemann der Erstrevisionswerberin kurz vor der Ausreise einen Anruf vom Onkel der Erstrevisionswerberin erhalten habe, welcher der Erstrevisionswerberin konkret ihre Ermordung ankündigte. In diesem Zusammenhang begründet das BVwG nicht, warum es davon ausgeht, ein sachbezogener Konnex zur konkreten Situation der Erstrevisionswerberin sei mit dem Vorbringen zum befürchteten Ehrenmord nicht aufgezeigt worden, während es selbst feststellt, "die Schwierigkeiten mit den Eltern der Gattin" seien "im Ausmaß der geschilderten realen Vorkommnisse nachvollziehbar". Auch insbesondere vor dem Hintergrund der Länderfeststellungen dazu, dass "'Ehrenmorde' in der Praxis noch immer verbreitet sind und häufig straffrei bleiben", ist es nicht nachvollziehbar, wenn das BVwG ohne nähere Begründung davon ausgeht, bei den vorgebrachten Todesdrohungen handle es sich um "Befürchtungen ohne real existierenden Anknüpfungspunkt" und um "abstrakt in den Raum gestellte - ohne Verknüpfung zu einem konkreten Vorfall - Befürchtungen".

Auch wenn das BVwG den Anruf im Jahr 2010 für nicht glaubwürdig erachtet haben sollte, ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch länger zurückliegende Ereignisse asylrelevant sein können, wenn sich der oder die Betroffene während eines bis zur Ausreise noch andauernden Aufenthalts im Land verstecken musste und sich dadurch der Verfolgung einstweilen entziehen konnte. Ab welcher Dauer Zweifel am Vorliegen wohlbegründeter Furcht begründet erscheinen, hängt vom Einzelfall ab (vgl. VwGH vom 17. März 2009, 2007/19/0459). Die Begründung, nach dem Vorfall im Jahr 2005 sei die Erstrevisionswerberin laut eigenen Angaben bis zu ihrer Ausreise aus dem Irak im Jahr 2010 weder tätlich angegriffen noch bedroht worden, greift daher zu kurz.

Ausgehend von seiner somit unzutreffenden Rechtsansicht, das Fluchtvorbringen der Erstrevisionswerberin rechtfertige von vornherein keine Zuerkennung von Asyl, hat es das BVwG unterlassen, die für eine abschließende Beurteilung des Falles notwendigen Sachverhaltsfeststellungen in nachvollziehbarer Art und Weise zu treffen, wozu es - mangels eines geklärten Sachverhalts - auch der Durchführung einer mündlichen Verhandlung bedurft hätte.

1.4. Diese sekundären Feststellungsmängel belasten das erstangefochtene Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit. Dieser Umstand schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auch auf die übrigen Familienmitglieder durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Entscheidungen (vgl. etwa VwGH vom 13. November 2014, Ra 2014/18/0011 bis 0016, mwN).

2. Die angefochtenen Erkenntnisse waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II. Nr. 518/2013 idF BGBl. II Nr. 8/2014. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil mit dem Pauschalbetrag für Schriftsatzaufwand auch die Umsatzsteuer abgegolten wird.

Wien, am 25. März 2015

Lizenziert vom RIS (ris.bka.gv.at - CC BY 4.0 DEED)

Stichworte