VwGH Ra 2018/18/0213

VwGHRa 2018/18/02136.11.2018

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Dr. Sutter als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision der N A, vertreten durch Dr. Ute Toifl, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Gluckgasse 1, als bestellte Verfahrenshelferin, diese vertreten durch Mag.a Nadja Lorenz, Rechtsanwältin in 1070 Wien, Burggasse 116/17-19, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Februar 2018, Zl. W206 2183053- 1/4E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §58 Abs2;
AVG §60;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwGVG 2014 §17;
VwGVG 2014 §29 Abs1;

European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2018:RA2018180213.L00

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Die Revisionswerberin, eine Staatsangehörige Somalias, stellte am 1. Oktober 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte die Revisionswerberin vor, dass sie eine Angehörige des Clans der Bandabo sei. Ihr erster Ehemann, ihr Bruder und ihre Großmutter seien von Angehörigen des Clans der Habargidir ermordet worden und die Familie ihres ersten Mannes habe ihr daraufhin ihr Kind weggenommen. Danach habe die Revisionswerberin neuerlich geheiratet und sei von ihrem zweiten Ehemann gezwungen worden, "die Pille" zu nehmen. Sie habe diese jedoch später abgesetzt und sei schwanger geworden. Als ihr Ehemann dies herausgefunden habe, habe er sie so schwer misshandelt, dass sie ihr Kind verloren habe und ins Krankenhaus gekommen sei. Dort habe man ihr die gesamte Gebärmutter entfernt. Als sie schließlich erfahren habe, dass ihr zweiter Ehemann seine erste Ehegattin ermordet habe, sei sie geflohen. Die Revisionswerberin legte auch medizinische Befunde vor, welche die durch ihren zweiten Ehemann erlittenen Misshandlungen und die Entfernung der Gebärmutter belegen sollten.

2 Mit Bescheid vom 20. November 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag betreffend Asyl ab (Spruchpunkt I.), erkannte der Revisionswerberin jedoch den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte eine bis zum 20. November 2018 befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.). Begründend führte das BFA im Wesentlichen aus, dass die Revisionswerberin ihr Fluchtvorbringen zwischen der Erstbefragung und der Einvernahme vor dem BFA gesteigert habe. Zudem sei das Fluchtvorbringen aufgrund der allgemeinen Vagheit und der widersprüchlichen Schilderung über den Umstand, von wem die Revisionswerberin erfahren habe, dass ihr zweiter Ehemann seine erste Ehegattin ermordet habe, nicht glaubhaft.

3 Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob die Revisionswerberin Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), in der sie insbesondere geltend machte, dass sich das BFA entgegen der höchstgerichtlichen Judikatur zu § 19 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) auf Widersprüche zwischen der Erstbefragung und der Einvernahme gestützt habe.

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG diese Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ab und erklärte die Revision für nicht zulässig. Gestützt wurde diese Entscheidung im Wesentlichen auf die beweiswürdigenden Erwägungen des BFA, welchen sich das BVwG anschloss.

5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in der zu ihrer Zulässigkeit und in der Sache im Wesentlichen ein Verstoß gegen die Verhandlungspflicht sowie eine unvertretbare und nicht nachvollziehbare Beweiswürdigung geltend gemacht werden, wodurch von der - näher angeführten - Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen worden sei.

6 Das BFA erstattete keine Revisionsbeantwortung.

 

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8 Die Revision ist zulässig und begründet.

9 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes seit dem Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017, 0018, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, sind für ein Absehen von der mündlichen Verhandlung durch das BVwG nach § 21 Abs. 7 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) wegen geklärten Sachverhaltes folgende Kriterien beachtlich:

10 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.

11 Diese in der hg. Rechtsprechung aufgestellten Kriterien hat das BVwG im vorliegenden Fall nicht erfüllt.

12 Soweit sich das BVwG den Erwägungen des BFA zum vermeintlich gesteigerten Vorbringen der Revisionswerberin in der Einvernahme im Vergleich zur Erstbefragung angeschlossen hat, ist nicht zu erkennen, dass die in der aktuellen Rechtsprechung der Höchstgerichte des öffentlichen Rechts bereits aufgezeigten Bedenken gegen die unreflektierte Verwertung von Beweisergebnissen der Erstbefragung, die sich nach § 19 Abs. 1 AsylG 2005 nicht auf die näheren Fluchtgründe zu beziehen hat, in die Erwägungen eingeflossen wären. Auf dem Boden des § 19 Abs. 1 AsylG 2005 ist es zwar weder der Behörde noch dem BVwG verwehrt, im Rahmen beweiswürdigender Überlegungen Widersprüche und sonstige Ungereimtheiten zu späteren Angaben einzubeziehen, es bedarf aber sorgsamer Abklärung und auch der in der Begründung vorzunehmenden Offenlegung, worauf diese fallbezogen zurückzuführen sind (vgl. VwGH 14.6.2017, Ra 2017/18/0001, mwN). Weder in den Ausführungen des BFA noch in jenen des BVwG findet sich eine Auseinandersetzung mit den aufgezeigten Widersprüchen im Sinne dieser Judikatur.

13 Darüber hinaus ist der Verwaltungsgerichtshof nach seiner ständigen Rechtsprechung - als Rechtsinstanz - zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen zwar nicht berufen, allerdings liegt eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. VwGH 15.3.2018, Ra 2017/20/0487). Dabei hat der Verwaltungsgerichtshof auch zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH 19.12.2017, Ra 2017/18/0260, mwN).

14 Die beweiswürdigenden Erwägungen des BFA, denen sich das BVwG in weiterer Folge anschloss, stützen sich in zentraler Weise auf das Aufzeigen eines Widerspruchs im Vorbringen der Revisionswerberin zur Frage, von wem sie erfahren habe, dass ihr zweiter Ehemann seine erste Ehegattin ermordet habe. Wie die Revision zutreffend vorbringt, findet sich darüber hinaus jedoch keine nähere Auseinandersetzung mit dem im Kern gleichlautenden Fluchtvorbringen der Revisionswerberin und gehen weder das BFA noch das BVwG auf die von der Revisionswerberin bereits vor dem BFA - zum Beweis der Misshandlungen durch den zweiten Ehemann und der durchgeführten Entfernung der Gebärmutter - vorgelegten medizinischen Befunde ein.

15 Da die Begründung der Beweiswürdigung des BFA somit nicht mängelfrei erfolgte, durfte das BVwG sie auch nicht ohne weiteres übernehmen und die so gewonnenen Feststellungen ohne mündliche Verhandlung seiner Entscheidung zugrunde legen (vgl. VwGH 14.6.2017, Ra 2017/18/0001; 8.9.2015, Ra 2015/18/0090).

16 Schließlich zeigt die Revision auch noch zu Recht auf, dass das BVwG insofern von den in der hg. Judikatur aufgestellten Leitlinien zur Begründungspflicht abgewichen ist, als es keine eigenen Länderfeststellungen getroffen, sondern lediglich auf jene des BFA verwiesen hat (vgl. VwGH 19.4.2018, Ra 2017/20/0491; sowie dazu, dass in der Beweiswürdigung der reale Hintergrund des Fluchtvorbringens zu berücksichtigen und die Glaubwürdigkeit der Behauptungen auch im Vergleich zur einschlägigen Berichtslage zu messen ist: VwGH 11.4.2018, Ra 2018/20/0040).

17 Das BVwG wird sich daher im fortgesetzten Verfahren nach Durchführung einer Verhandlung mit dem Fluchtvorbringen der Revisionswerberin unter Berücksichtigung der vorgelegten Befunde und der relevanten Berichtslage auseinandersetzen müssen.

18 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

19 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Wien, am 6. November 2018

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