VwGH Ra 2017/19/0163

VwGHRa 2017/19/016320.9.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl sowie den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Friedwagner, in der Revisionssache 1. des H I, und 2. der F I, beide in S, beide vertreten durch Mag. Ingeborg Haller, Rechtsanwältin in 5020 Salzburg, Markus-Sittikus-Straße 9/2/7, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 18. April 2017, 1. W105 2145839- 1/13E und 2. W105 2145835-1/11E, jeweils betreffend Zurückweisung eines Antrages auf internationalen Schutz nach dem AsylG 2005 und Anordnung zur Außerlandesbringung nach dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:

Normen

BFA-VG 2014 §9;
FrPolG 2005 §52 Abs2 Z2;
MRK Art8 impl;

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1 Die miteinander verheirateten Revisionswerber sind nigerianische Staatsangehörige und stellten in Österreich am 19. August 2016 Anträge auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheiden vom 10. Jänner 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der Revisionswerber gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) zurück und stellte fest, dass für die Prüfung ihrer Anträge gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-Verordnung) Italien zuständig sei. Unter einem erließ die Behörde gemäß § 61 Abs. 1 Z 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) gegen die Revisionswerber Anordnungen zur Außerlandesbringung. Weiters wurde ausgesprochen, dass ihre Abschiebung nach Italien gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei.

3 Den gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden erkannte das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 1. Februar 2017 die aufschiebende Wirkung gemäß § 17 Abs. 1 BFA-VG zu.

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerden ab. Die Revision erklärte es gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

5 Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.

6 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

7 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

8 Die Revisionswerber bringen zur Begründung der Zulässigkeit ihrer Revision vor, die Frage, ob aufgrund der besonderen familiären Situation des Erstrevisionswerbers sowie infolge der Vulnerabilität der Zweitrevisionswerberin eine Verpflichtung Österreichs zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts bestehe, sei von grundsätzlicher Bedeutung. Das Asylverfahren des minderjährigen Sohnes des Erstrevisionswerbers sei in Österreich zugelassen worden. Der Erstrevisionswerber habe am 18. Juli 2017 beim zuständigen Pflegschaftsgericht beantragt, dass ihm die Obsorge für seinen im Jahr 2004 geborenen Sohn (der der Stiefsohn der Zweitrevisionswerberin sei) erneut übertragen werde. Darüber hinaus sei das gemeinsame Kind der Revisionswerber am 1. Juli 2017 geboren worden. Das Bundesverwaltungsgericht habe sich nicht hinreichend mit dem Vorbringen der Revisionswerber betreffend das Bestehen systemischer Mängel im italienischen Asylsystem auseinander gesetzt. Die Lage in Italien habe sich aufgrund des massiven Zustroms von Asylwerbern deutlich verschlechtert. Die allgemein gehaltenen Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts zur medizinischen Versorgung in Italien basierten auf veralteten Länderberichten. Es seien weder konkrete Erhebungen noch Garantien hinsichtlich der Versorgung und gemeinsamen Unterbringung der Revisionswerber mit ihrem neugeborenen Kind eingeholt worden.

9 Mit diesem Vorbringen zeigen die Revisionswerber keine Rechtsfrage auf, der im Sinn von Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme.

10 Zunächst übersehen die Revisionswerber, dass der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 41 VwGG die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Erkenntnisses aufgrund der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung prüft. Dementsprechend entzieht sich das Revisionsvorbringen, soweit es auf nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses eingetretene Ereignisse Bezug nimmt, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren (vgl. den hg. Beschluss vom 27. Juni 2017, Ra 2017/18/0005, mwN). Auch kann das Vorliegen einer grundsätzlichen Rechtsfrage im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht mit einem Vorbringen begründet werden, das unter das Neuerungsverbot fällt (vgl. den hg. Beschluss vom 22. März 2017, Ra 2016/19/0389, mwN). Somit sind bereits aus diesen Erwägungen die Hinweise der Revisionswerber auf einen seit Mai 2017 erhöhten Flüchtlingszustrom nach Italien, auf einen im Juli 2017 gestellten Antrag auf Übertragung der Obsorge betreffend den Sohn des Erstrevisionswerbers sowie die am 1. Juli 2017 erfolgte Geburt des gemeinsamen Kindes der Revisionswerber nicht geeignet, eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung im Sinn von Art. 133 Abs. 4 B-VG darzulegen.

11 Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass die grundrechtskonforme Interpretation des AsylG 2005 eine Bedachtnahme auf die - in Österreich im Verfassungsrang stehenden - Bestimmungen der EMRK notwendig macht. Es sind daher bei Entscheidungen nach § 5 AsylG 2005 auch Art. 3 und Art. 8 EMRK zu berücksichtigen und es ist bei einer drohenden Verletzung dieser Vorschriften das im Dublin-System vorgesehene Selbsteintrittsrecht auszuüben (vgl. den hg. Beschluss vom 25. Mai 2016, Ra 2016/19/0069, mwN).

12 Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl bei der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung zum Ausdruck gebracht (vgl. z.B. den hg. Beschluss vom 23. Februar 2017, Ra 2016/21/0235). Demnach war im vorliegenden Fall auf die Beziehungen des Erstrevisionswerbers zu seinem Sohn sowie auch auf im Entscheidungszeitpunkt konkret absehbare zukünftige Entwicklungen Bedacht zu nehmen (vgl. den hg. Beschluss vom 31. August 2017, Ro 2017/21/0012).

13 Soweit die Revision in diesem Zusammenhang die "besondere familiäre Situation" des Erstrevisionswerbers ins Treffen führt, gelingt es ihr allerdings nicht darzustellen, inwiefern das Verwaltungsgericht von der dargestellten Rechtsprechung abgewichen wäre. Das Verwaltungsgericht setzte sich konkret mit dem Vorbringen der Revisionswerber auseinander und nahm eine vertretbare einzelfallbezogene Abwägung nach Art. 8 EMRK vor. Das Bundesverwaltungsgericht berücksichtigte dabei sowohl die zum Entscheidungszeitpunkt bestehende, fortgeschrittene Schwangerschaft der Zweitrevisionswerberin, als auch die Beziehung des Erstrevisionswerbers zu seinem minderjährigen Sohn, für welchen mit pflegschaftsgerichtlichem Beschluss vom 25. Oktober 2016 die Obsorge dem Kinder- und Jugendhilfeträger Land Salzburg übertragen worden war, sowie eine Stellungnahme des zuständigen Jugendamtes, wonach das Kindeswohl einer Übertragung der Obsorge an den Erstrevisionswerber entgegenstünde und sich der Minderjährige "strikt weigere, zum Vater zurückzugehen". Mit Schreiben vom 20. März 2017 war dem Bundesverwaltungsgericht seitens des Bezirksgerichts Salzburg überdies mitgeteilt worden, dass vor dem dargestellten Hintergrund keine Veranlassung gesehen werde, ein Verfahren zur Übertragung der Obsorge an den Erstrevisionswerber durchzuführen.

14 In der Judikatur wurde betreffend die nach Art. 3 EMRK und Art. 4 GRC vorzunehmende Prüfung festgehalten, dass die Sicherheitsvermutung des § 5 Abs. 3 AsylG 2005 widerlegbar ist. Dabei ist die Frage, ob ein Staat als "sicher" angesehen werden kann, vorrangig eine Tatsachenfrage, die nicht vom Verwaltungsgerichtshof zu lösen ist. Die Beurteilung, ob die festgestellten Mängel im Zielstaat die Sicherheitsvermutung widerlegen und einer Überstellung des Asylwerbers unter Bedachtnahme auf die EMRK und die GRC entgegenstehen, ist hingegen eine - unter den Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG - revisible Rechtsfrage (vgl. aus der ständigen hg. Rechtsprechung etwa den Beschluss vom 20. Oktober 2016, Ra 2016/20/0221, mwN).

15 Das Bundesverwaltungsgericht legte seinem Erkenntnis umfassende, ausreichend aktuelle Feststellungen zur Situation in Italien zugrunde und leitete aus diesen den Schluss ab, dass nicht bloß allgemein, sondern auch konkret in Bezug auf die Revisionswerber ohne Einholung einer "Einzelfallzusicherung" davon auszugehen sei, ihre adäquate Unterbringung und Versorgung sei gesichert. Dem setzt die Revision inhaltlich nichts entgegen. Hinsichtlich der behaupteten systemischen Mängel im italienischen Asylsystem wird in der Revision lediglich angeführt, die Lage habe sich deutlich "verändert", ohne dabei (nicht dem Neuerungsverbot unterliegende) Ereignisse darzulegen, aufgrund derer sich bezogen auf den Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses die Unterbringungs- und Versorgungslage von Asylwerbern in Italien im Vergleich zu der den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes zugrundeliegenden Berichtslage tatsächlich drastisch verschlechtert hätte. Soweit in der Revision auf Engpässe in der medizinischen Versorgung für Asylwerber in Italien Bezug genommen wird, ist auf die Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichtes zu verweisen, aus denen sich ergibt, dass die medizinische Versorgung - auch für Asylwerber und im Speziellen für "Dublin-Rückkehrer" - in Italien gewährleistet ist und für die Revisionswerber anlässlich ihres vorangegangenen Aufenthaltes in Italien auch tatsächlich zugänglich war. Auch den diesbezüglichen Feststellungen wird in der Revision nicht substantiiert entgegengetreten.

16 Schließlich ist ein in der Revision behaupteter, jedoch nicht näher dargestellter Widerspruch des angefochtenen Erkenntnisses zu dem Urteil des EGMR vom 4. November 2014, Nr. 29217/12, "Tarakhel", nicht ersichtlich (vgl. im Übrigen zu zeitlich nach dem Urteil in der Rechtssache "Tarakhel" ergangener Rechtsprechung des EGMR den hg. Beschluss vom 23. März 2017, Ra 2017/20/0061).

17 In der Revision werden sohin keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinn von Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung zurückzuweisen.

Wien, am 20. September 2017

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