VwGH Ra 2016/22/0099

VwGHRa 2016/22/009923.11.2017

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Robl sowie die Hofräte Dr. Mayr und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Lechner, in der Revisionssache des I K in W, vertreten durch Dr. Markus Bernhauser, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schmerlingplatz 3, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom 18. Juli 2016, VGW-151/016/14053/2015/E-42, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), den Beschluss gefasst:

Normen

ARB1/80 Art13;
EURallg;
FrG 1997 §10 Abs2 Z3;
FrG 1997 §8 Abs3 Z2;
MRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs2 Z1;
NAG 2005 §11 Abs4 Z1;
NAG 2005 §46 Abs1 Z2 lita;
VwRallg;

 

Spruch:

Die Revision wird zurückgewiesen.

Begründung

1. Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichts die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung nicht einheitlich beantwortet wird.

Gemäß § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung mit Beschluss zurückzuweisen.

Gemäß § 34 Abs. 1a VwGG ist die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

2.1. Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht Wien die Beschwerde des Revisionswerbers, eines türkischen Staatsangehörigen, gegen den Bescheid der belangten Behörde vom 20. März 2013, mit dem sein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" gemäß § 46 Abs. 1 Z 2 lit. a Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) abgewiesen worden war, im zweiten Rechtsgang (vgl. zum ersten Rechtsgang VwGH 17.11.2015, Ra 2015/22/0087) als unbegründet ab.

Das Verwaltungsgericht führte dazu im Wesentlichen aus, dass der Aufenthalt des Revisionswerbers in Österreich auf Grund der ungünstigen Prognose die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährde. Es sei der Versagungsgrund des § 8 Abs. 3 Z 2 iVm. § 10 Abs. 2 Z 3 Fremdengesetz (FrG) 1997 - diese Bestimmungen kämen gemäß Art. 13 des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 1/80 EWG-Türkei (ARB 1/80) zur Anwendung - gegeben. Die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels sei auch nicht im Rahmen einer Ermessensübung nach § 8 FrG 1997 zum Schutz des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten.

Die Revision erklärte das Verwaltungsgericht gemäß § 25a Abs. 1 VwGG für nicht zulässig.

2.2. Dagegen wendet sich die außerordentliche Revision, in der ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs bzw. ein Fehlen von Rechtsprechung behauptet wird. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG wird jedoch nicht aufgezeigt.

3. Der Revisionswerber macht geltend, gemäß § 11 Abs. 2 Z 1 NAG dürfe ein Aufenthaltstitel gewährt werden, wenn der Aufenthalt nicht öffentlichen Interessen widerstreite, was nach § 11 Abs. 4 Z 1 NAG dann der Fall sei, wenn der Aufenthalt die öffentliche Ruhe oder Sicherheit gefährden "würde". Auch in § 10 Abs. 2 Z 3 FrG 1997 sei angeordnet, dass ein Aufenthaltstitel wegen Gefährdung öffentlicher Interessen versagt werden könne, wenn der Aufenthalt die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit gefährden "würde".

Vorliegend habe das Verwaltungsgericht sein Erkenntnis - entgegen dem ausdrücklichen und klaren Wortlaut des Gesetzes - getroffen, indem es in der rechtlichen Beurteilung ausgesprochen habe, es sei für die Zukunft nicht auszuschließen, dass der Aufenthalt in Österreich zu einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit führen "könne". Dieser vom Verwaltungsgericht herangezogene Versagungsgrund sei jedoch wesentlich weiter (arg.: "könne"), als der im Gesetz vorgesehene (arg.: "würde"), und stelle daher keinen ausreichenden Grund für die Versagung des Aufenthaltstitels dar. Da das Verwaltungsgericht seine diesbezüglichen Erwägungen nicht dargelegt habe, sei das angefochtene Erkenntnis auch mit einem Begründungsmangel behaftet.

4.1. Voranzustellen ist, dass das Verwaltungsgericht seine Entscheidung in der Regel an der zum Zeitpunkt seiner Entscheidung maßgeblichen Sach- und Rechtslage auszurichten hat (vgl. VwGH 27.7.2017, Ra 2016/22/0066).

Da der Revisionswerber, der in Österreich eine unselbständige Beschäftigung anstrebt, und seine Ehefrau (Zusammenführende) türkische Staatsangehörige sind, ist die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 zu beachten. Diese schließt aber die Anwendbarkeit neu eingeführter Bestimmungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt nur dann aus, wenn eine restriktivere (verschärfte) Regelung getroffen wird, als sie eine frühere Rechtslage vorgesehen hat (vgl. VwGH 19.1.2012, 2011/22/0313; 2.10.2012, 2011/21/0231).

Vorliegend stellen sich die Bestimmungen des § 11 Abs. 2 Z 1 iVm. Abs. 4 Z 1 NAG als im Ergebnis inhaltsgleich wie jene der §§ 8 Abs. 3 Z 2 iVm. 10 Abs. 2 Z 3 FrG 1997 dar. Insofern ist daher durch das NAG keine Verschärfung der Rechtslage (Schlechterstellung des Revisionswerbers) eingetreten, sodass - richtiger Weise - die aufgezeigten Vorschriften des NAG die maßgebliche Rechtslage bilden. Gleichwohl wurde der Revisionswerber durch die (unrichtige) Heranziehung der inhaltsgleichen früheren Bestimmungen des FrG 1997 nicht in Rechten verletzt.

4.2. Gemäß § 11 Abs. 2 Z 1 NAG dürfen einem Fremden Aufenthaltstitel nur erteilt werden, wenn sein Aufenthalt nicht öffentlichen Interessen widerstreitet, was nach § 11 Abs. 4 Z 1 NAG dann der Fall ist, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährden würde.

Wie der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung vertritt (vgl. VwGH 17.9.2008, 2008/22/0269, uva.), ist bei der Auslegung des § 11 Abs. 4 Z 1 NAG eine das Gesamtverhalten des Fremden berücksichtigende Prognosebeurteilung geboten. Dabei hat die Behörde (das Verwaltungsgericht) im Fall von strafgerichtlichen Verurteilungen - gestützt auf das diesen zu Grunde liegende Fehlverhalten - eine Gefährdungsprognose zu treffen. Die damit erforderliche, auf den konkreten Fall abstellende individuelle Prognosebeurteilung ist jeweils an Hand aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmen.

Die einzelfallbezogene Beurteilung der Gefährdungsprognose ist im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel (VwGH 18.1.2017, Ra 2016/22/0117).

4.3. Vorliegend nahm das Verwaltungsgericht unter Berücksichtigung des Gesamtverhaltens des Revisionswerbers eine umfassende Prognosebeurteilung vor, wobei es den strafgerichtlichen Verurteilungen des Revisionswerbers (wegen "Ehrenmords" und Meineids) eine entscheidende Bedeutung beimaß. Es brachte dabei im Einklang mit der Rechtsprechung insbesondere das den Straftaten (vor allem der Mordtat) an Hand der konkreten Umstände des Einzelfalls zugrunde liegende schwere Fehlverhalten, das Verhalten nach der Tat (insbesondere die jahrzehntelange Flucht unter Verwendung einer unrichtigen Identität und gefälschter Dokumente sowie das Unterlassen jeglicher Entschädigungsleistung an die Hinterbliebenen), und auch das Persönlichkeitsbild des Revisionswerbers (der unter Berufung auf die "Gepflogenheiten" bzw. "Mentalität" in seiner Heimat einen Ehrenmord weiterhin für gerechtfertigt erachtet und sich mit der von ihm verübten Mordtat und deren Folgen bis zuletzt nicht hinreichend auseinandergesetzt hat) in Ansatz.

Unter diesen Umständen ist das Verwaltungsgericht im Einklang mit der Rechtsprechung im Rahmen einer fallbezogenen Prognosebeurteilung nach dem Gesamtverhalten auf jedenfalls nicht unvertretbare Weise zum Ergebnis gelangt, dass die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels zu einer Gefährdung der öffentlichen Interessen führen würde.

4.4. Soweit das Verwaltungsgericht einmalig in der rechtlichen Beurteilung (Seite 43 des angefochtenen Erkenntnisses) davon sprach, es sei nicht auszuschließen, dass die Erteilung des Aufenthaltstitels zu einer Gefährdung der Ordnung oder Sicherheit führen "könne", ist darin ein offenkundiges - wurde doch im Übrigen der herangezogene Versagungsgrund stets als verwirklicht erachtet bzw. vorbehaltslos bejaht - Vergreifen in der Diktion zu erblicken, das unschädlich ist. Auch ein diesbezüglicher Begründungsmangel ist daher nicht gegeben.

5. Insgesamt wird somit keine Rechtsfrage aufgeworfen, der im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war deshalb zurückzuweisen.

Wien, am 23. November 2017

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