VwGH 2011/21/0231

VwGH2011/21/02312.10.2012

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde 1. der K, und 2. der E, beide in A und vertreten durch Mag. Dr. Martin Enthofer, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Promenade 16/II, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich vom 12. September 2011, Zlen. VwSen-730195/3/BP/Wu und VwSen- 730196/2/BP/Wu, betreffend u.a. Ausweisung (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

12010P/TXT Grundrechte Charta Art47 Abs2;
32008L0115 Rückführungs-RL;
ARB1/80 Art13;
AVG §67d Abs1;
AVG §67d;
EURallg;
FrPolG 2005 §54 Abs1;
FrPolG 2005 §62 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §9 Abs7 idF 2011/I/038;
NAG 2005 §11 Abs2 Z4;
NAG 2005 §11 Abs5;
VwGG §34 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGG §42 Abs2 Z3 litb;
VwGG §42 Abs2 Z3 litc;
VwRallg;

 

Spruch:

Der genannte Bescheid wird im angefochtenen Punkt I. wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den Beschwerdeführerinnen Aufwendungen in der Höhe von (insgesamt) EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der 1973 geborene C lebt und arbeitet -  mit wiederholten kurzfristigen Unterbrechungen infolge Bezuges von Kranken- und Arbeitslosengeld sowie von Notstands- und Überbrückungshilfe - seit dem 17. August 1993 in Österreich. Er verfügt über einen am 15. Mai 2009 ausgestellten Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt EG". Die Erstbeschwerdeführerin ist seine nunmehrige Ehefrau. Das Ehepaar hat zwei Kinder, nämlich die am 19. September 2005 geborene Zweitbeschwerdeführerin und den am 3. Mai 2011 geborenen Sohn K., der nicht Partei dieses Verfahrens ist. Die genannten, gemeinsam wohnenden Personen sind türkische Staatsangehörige.

Die Beschwerdeführerinnen halten sich auf Grund einer ihnen jeweils erteilten "Niederlassungsbewilligung beschränkt" seit dem 10. Mai 2010 legal in Österreich auf. Fristgerecht stellten sie am 14. März 2011 jeweils gleichartige Verlängerungsanträge.

Mit dem angefochtenen Punkt I. des hier gegenständlichen Bescheides vom 12. September 2011 bestätigte die belangte Behörde gemäß § 66 Abs. 4 iVm. § 67a Z. 1 AVG die auf § 54 Abs. 1 und § 66 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG gestützte, mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Vöcklabruck vom 28. März 2001 angeordnete Ausweisung.

Begründend führte sie - soweit im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung - aus, die Erstbeschwerdeführerin gehe keiner Erwerbstätigkeit nach, sodass der Familienunterhalt zur Gänze von ihrem Ehegatten bestritten werde. Dieser verdiene monatlich nunmehr EUR 1.480,88. Davon seien "Mietkosten" von EUR 673,43 - diese abzüglich des Wertes der freien Station von EUR 253,51 - zu subtrahieren. Das ergebe EUR 1.060,96 monatlich, was als erforderliche Existenzmittel nach den "aktuellen Sozialhilferichtsätzen" nicht ausreiche. Es sei daher iSd § 11 Abs. 2 Z. 4 und Abs. 5 NAG zu besorgen, dass der Aufenthalt der Beschwerdeführerinnen zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte. Dazu komme, dass der Ehemann der Erstbeschwerdeführerin bereits monatlich eine Mietbeihilfe des Landes Oberösterreich von EUR 315,-- bezogen habe, was eine soziale Leistung einer Gebietskörperschaft darstelle.

Danach führte die belangte Behörde näher aus, dass auch im Hinblick auf § 11 Abs. 3 NAG unter Berücksichtigung des Privat- und Familienlebens der Beschwerdeführerinnen vom Vorliegen des genannten Erteilungshindernisses nicht abgesehen werden könne. Zum selben Ergebnis gelange man im Weg der "nach § 61 Abs. 2 FPG gebotenen Abwägung der öffentlichen und privaten Interessen".

 

Über die dagegen gerichtete Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:

Die belangte Behörde hat unberücksichtigt gelassen, dass den Beschwerdeführerinnen als Familienangehörigen eines türkischen Staatsangehörigen die Stillhalteklausel des Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980 (kurz: ARB 1/80) zu Gute kommt. Gemäß Art. 13 ARB 1/80 dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neue Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen. Diese Klausel entfaltet unmittelbare Wirkung und schließt bezüglich der in ihren Geltungsbereich fallenden türkischen Staatsangehörigen die Anwendbarkeit aller neu eingeführten Beschränkungen aus. In diesem Sinn ist es mit der genannten "Stillhalteklausel" nicht vereinbar, den vorliegenden Fall einer restriktiveren Regelung zu unterwerfen, als sie eine frühere Rechtslage vorgesehen hat, mit denen solche Regelungen bereits gelockert worden waren (vgl. dazu etwa die hg. Erkenntnisse vom 13. Dezember 2011, Zl. 2008/22/0180, vom 19. Jänner 2012, Zl. 2011/22/0313, vom 23. Mai 2012, Zl. 2011/22/0216, und vom 14. Juni 2012, Zl. 2010/21/0440, jeweils mwN aus der Judikatur des Gerichtshofes der Europäischen Union - EuGH, insbesondere das Urteil vom 15. November 2011, C- 256/11  - Dereci u.a., Randnr. 87 ff).

Die in die Berechnung der belangten Behörde einfließende Berücksichtigung von Wohnkosten des Unterhaltspflichtigen (Ehegatte der Erstbeschwerdeführerin und Vater der Zweitbeschwerdeführerin) entspricht zwar der nach Inkrafttreten des FrÄG 2009 geltenden Rechtslage (vgl. das hg. Erkenntnis vom 24. Juni 2010, Zlen. 2010/21/0164 bis 0166), nicht jedoch der früheren Rechtslage (vgl. dazu ausführlich das hg. Erkenntnis vom 3. April 2009, Zl. 2008/22/0711, insbesondere Punkt 5.4. der Entscheidungsgründe, mwN). Diese Verschärfung der Rechtslage im Hinblick auf die Möglichkeit zur Erlangung eines (weiteren) Aufenthaltstitels hätte nach dem Gesagten nicht zu Lasten der Beschwerdeführerinnen als Familienangehörige eines türkischen Staatsangehörigen berücksichtigt werden dürfen.

Der angefochtene Bescheid war daher schon deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Anzumerken ist im Übrigen, wozu gemäß § 43 Abs. 2 VwGG auf die Ausführungen im hg. Erkenntnis vom 14. Juni 2012, Zl. 2011/21/0278, verwiesen wird, dass der Entscheidung der belangten Behörde eine mündliche Verhandlung hätte vorangehen müssen.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Die Beschwerdeführerinnen haben, vom selben Rechtsanwalt vertreten, denselben Bescheid gemeinsam in einer Beschwerde angefochten, sodass ein Fall des § 53 Abs. 1 VwGG vorliegt (vgl. etwa den hg. Beschluss vom 26. Jänner 2012, Zl. 2011/21/0173).

Wien, am 2. Oktober 2012

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