VwGH Ra 2015/22/0087

VwGHRa 2015/22/008717.11.2015

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrat Dr. Robl, Hofrätin Mag.a Merl und die Hofräte Dr. Mayr und Dr. Schwarz als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag.a Lechner, über die Revision des I K in Wien, vertreten durch Dr. Markus Bernhauser, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schmerlingplatz 3, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 17. März 2015, VGW- 151/079/10626/2014-1, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:

Normen

NAG 2005 §11 Abs2 Z1;
NAG 2005 §11 Abs2;
NAG 2005 §11 Abs3;
VwGG §42 Abs2 Z1;
NAG 2005 §11 Abs2 Z1;
NAG 2005 §11 Abs2;
NAG 2005 §11 Abs3;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen Erkenntnis bestätigte das Verwaltungsgericht Wien die von der Behörde gemäß § 11 Abs. 2 Z 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) vorgenommene Abweisung des Antrages des Revisionswerbers, eines türkischen Staatsangehörigen, auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zwecks Familienzusammenführung mit seiner in Österreich lebenden Ehefrau.

Das Verwaltungsgericht stellte fest, dass der 1956 geborene Revisionswerber wegen eines am 2. November 1976 aus dem Motiv der Blutrache begangenen vorsätzlichen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden sei. Das Verwaltungsgericht zitierte die Stellungnahme des Revisionswerbers, der zufolge er Österreich seinerzeit vor 37 Jahren freiwillig verlassen hätte. Seine Familie wäre in Österreich verblieben. Seine Ehefrau verfügte über eine unbefristete Niederlassungsbewilligung und einen seit langer Zeit ungekündigten Arbeitsplatz. Die gemeinsame Tochter besäße die österreichische Staatsbürgerschaft. Der Revisionswerber wäre in den 1970er-Jahren für rund fünf Jahre rechtmäßig in Österreich aufhältig und beschäftigt gewesen. Es bestünde kein Grund zur Annahme, dass der Revisionswerber in irgendeiner Form wieder straffällig werde. Er wäre nach Verbüßung von zehn Jahren Freiheitsstrafe auf Grund guter Führung bedingt entlassen worden und hätte keine weiteren Straftaten verübt. Im Wege einer Amnestie wäre die Reststrafe endgültig nachgesehen worden.

Rechtlich folgerte das Verwaltungsgericht unter Hinweis auf das hg. Erkenntnis vom 16. Februar 2012, 2011/18/0039, dass die Frage der Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit (§ 11 Abs. 2 Z 1 in Verbindung mit Abs. 4 Z 1 NAG) nicht im Wege einer "Sippenhaftung", sondern fallbezogen in Form einer Prognose ausgehend vom Gesamtverhalten für jede Person eigenständig zu prüfen sei. Es sei immer nur im Einzelfall feststellbar, ob ein Mensch gegen die Wertvorstellungen eines europäischen, demokratischen Staates eingestellt sei. Die Behörde habe bei Entscheidungen nach § 11 Abs. 4 Z 1 NAG eine auf strafgerichtliche Verurteilungen gestützte individuelle Beurteilung vorzunehmen. Bei der Auslegung des § 11 Abs. 4 Z 1 NAG sei eine das Gesamtverhalten eines Fremden berücksichtigende Prognosebeurteilung geboten.

Weiters führte das Verwaltungsgericht wörtlich aus:

"Eine positive Prognose ist im Fall eines vorsätzlichen Mordes für die Beurteilung nach § 11 Abs. 4 NAG nicht möglich."

Der Revisionswerber habe vorgebracht, das Thema der Blutrache sei außerhalb seines Geburtslandes ein etwas problematisches, weil viele die türkischen Gepflogenheiten und Mentalität nicht verstehen können. Blutrache - so folgerte das Verwaltungsgericht - stehe den öffentlichen Interessen entgegen und gefährde die öffentliche Ordnung und Sicherheit, weil sie gegen die Wertvorstellungen eines europäischen, demokratischen Staates und seiner Gesellschaft gerichtet sei und auch dem Rechts- und Gewaltmonopol eines demokratischen Staates völlig widerspreche.

Letztlich erklärte das Verwaltungsgericht die ordentliche Revision für unzulässig, weil keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu beurteilen gewesen sei.

Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision. Die Behörde nahm von einer Revisionsbeantwortung Abstand.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Zutreffend zitierte das Verwaltungsgericht aus der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass die Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit im Sinn des § 11 Abs. 2 Z 1 NAG bei Versagung eines Aufenthaltstitels im Einzelfall zu beurteilen sei. Die Prüfung sei fallbezogen in Form einer Prognose ausgehend vom Gesamtverhalten des Fremden vorzunehmen.

Ausdrücklich führte das Verwaltungsgericht unter Hinweis auf das hg. Erkenntnis vom 25. Februar 2010, 2007/21/0153, aus, die Ansicht, dass bei Vorliegen des Versagungsgrundes des § 11 Abs. 2 Z 1 NAG dem öffentlichen Interesse jedenfalls ein so großes Gewicht zukomme, dass die Abwägung unabhängig vom Gewicht des persönlichen Interesses des Fremden immer zu dessen Lasten ausgehen müsse, werde vom Verwaltungsgerichtshof nicht geteilt, würde doch im Fall des Fehlens einer Erteilungsvoraussetzung gemäß § 11 Abs. 2 NAG die vom Gesetzgeber nach § 11 Abs. 3 NAG für alle Fälle des Abs. 2 getroffene Anordnung einer Abwägung ins Leere gehen. Weiters zitierte das Verwaltungsgericht, dass die Frage der Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit fallbezogen in Form einer Prognose zu prüfen sei. Dennoch vertrat das Verwaltungsgericht in der weiteren Begründung die Auffassung, im Fall eines vorsätzlichen Mordes sei eine positive Prognose nicht möglich.

Diese Auffassung ist in dieser Absolutheit nicht rechtmäßig. Dem Verwaltungsgericht ist zuzugestehen, dass die durch den Revisionswerber versuchte Relativierung seines Verbrechens keinesfalls das öffentliche Interesse an der Verweigerung eines Aufenthaltstitels zu verringern vermag. Das Verwaltungsgericht lässt jedoch bei seiner Prognosebeurteilung vollkommen unberücksichtigt, dass die Straftat bereits im Jahr 1976 verübt worden ist, der Revisionswerber behauptetermaßen nach zehn Jahren Freiheitsstrafe wegen guter Führung entlassen wurde und keine weitere Straftat begangen hat.

Da - wie bereits erwähnt - die Auffassung des Verwaltungsgerichtes, im Fall eines vorsätzlichen Mordes könne die Prognosebeurteilung nie zu Gunsten des Fremden ausgehen, nicht der Rechtslage entspricht, ist es unter Berücksichtigung aller Umstände des vorliegenden Falles nicht auszuschließen, dass nach einem derart langen Zeitablauf nunmehr eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch den Revisionswerber verneint werden kann. Damit erweist sich der Rechtsirrtum des Verwaltungsgerichtes als relevant.

Das angefochtene Erkenntnis war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.

Von der beantragten Durchführung einer Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG Abstand genommen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 17. November 2015

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