Normen
32003L0109 Drittstaatsangehörigen-RL Art9;
62012CJ0225 Demir VORAB;
62014CJ0561 Genc VORAB;
ARB1/80 Art13;
ARB1/80 Art14;
ARB1/80 Art6;
EURallg;
FrPolG 2005 §52 Abs5;
NAG 2005 §28 Abs1;
NAG 2005 §45;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Begründung
1 Mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien (Revisionswerber) vom 26. März 2015 wurde gestützt auf § 28 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) festgestellt, dass das unbefristete Niederlassungsrecht des Mitbeteiligten, eines türkischen Staatsangehörigen, beendet sei.
Begründend wurde Folgendes festgehalten: Der Mitbeteiligte verfüge über einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EU" gemäß § 45 NAG. Die - im Hinblick auf mehrere im Strafregister ausgewiesene Verurteilungen des Mitbeteiligten (zuletzt mit Urteil vom 25. September 2013 zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten) um eine Beurteilung ersuchte - zuständige Fremdenpolizeibehörde habe festgestellt, dass gegen die Erteilung eines Aufenthaltstitels keine Bedenken bestünden, weil der Mitbeteiligte nach § 9 Abs. 4 BFA-Verfahrensgesetz aufenthaltsverfestigt sei. Die Voraussetzungen für eine Rückstufung des unbefristeten Aufenthaltsrechts des Mitbeteiligten lägen jedoch vor.
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 18. Dezember 2015 gab das Verwaltungsgericht Wien der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten statt und behob den bekämpften Bescheid ersatzlos. Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof wurde für unzulässig erklärt.
Das Verwaltungsgericht verwies darauf, dass der Mitbeteiligte seit 1992 in Österreich lebe und bei der A GmbH als Angestellter beschäftigt sei. Ab 1999 habe er über eine unbefristete Niederlassungsbewilligung verfügt, seit 12. September 2008 über einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EG" (bzw. "Daueraufenthalt - EU") mit "fünfjähriger Kartengültigkeit". Mit Schreiben vom 11. Juli 2013 habe er eine "Verlängerung der Kartengültigkeit" beantragt. Der Mitbeteiligte unterliege dem Anwendungsbereich des Assoziationsabkommens EWG-Türkei.
Das Verwaltungsgericht verwies auf die Stillhalteklausel des Art. 13 des Assoziationsratsbeschlusses (ARB 1/80), der zufolge die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen, die bezweckten oder bewirkten, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit strengeren Voraussetzungen als zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des ARB 1/80 unterworfen werde, verboten sei. Die Institution der Rückstufung sei mit dem NAG am 1. Jänner 2006 eingeführt worden. Nach Ansicht des Verwaltungsgerichtes stelle die Rückstufung eine Verschlechterung dar. Dies resultiere zum einen aus der Tatsache, dass der Aufenthaltstitel jedes Jahr (bzw. nach zwei Jahren alle drei Jahre) verlängert werden müsse und damit die Gefahr der Durchführung eines Verfahrens nach § 25 NAG bestehe. Zum anderen gehe durch die Rückstufung die "EU-Mobilität" im Sinn der Richtlinie 2003/109/EG verloren und der Mitbeteiligte habe nicht mehr die Möglichkeit, unter erleichterten Bedingungen in einem anderen EU-Mitgliedstaat einen Aufenthaltstitel zu bekommen.
3 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision der belangten Behörde des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht.
Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der er die Zurückweisung, in eventu Abweisung der Revision beantragt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
4 Der Revisionswerber bringt zur Zulässigkeit vor, es fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, ob die Anwendung des § 28 Abs. 1 NAG über die Rückstufung eines Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt - EU" nach § 45 NAG der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 widerspreche.
Der Mitbeteiligte verweist in seiner Revisionsbeantwortung darauf, dass sich der Verwaltungsgerichtshof in 31 Entscheidungen mit der Auswirkung der Stillhalteklausel befasst habe, er zeigt damit aber nicht auf, dass die hier zugrunde liegende Frage Gegenstand einer dieser Entscheidungen war. Auch die von ihm allgemein ins Treffen geführten - unstrittigen - Grundsätze, wonach die Stillhalteklausel unmittelbare Wirkung entfalte und die Einführung neuer Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt verbiete, stellen keine Antwort auf die hier zu lösende Frage dar.
Die Revision ist somit zulässig.
5 § 28 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 68/2013, lautet auszugsweise:
"Rückstufung und Entziehung eines Aufenthaltstitels § 28. (1) Liegen gegen einen Inhaber eines Aufenthaltstitels ‚Daueraufenthalt - EU' (§ 45) die Voraussetzungen des § 52 Abs. 5 FPG für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung vor, kann diese Maßnahme aber im Hinblick auf § 9 BFA-VG nicht verhängt werden, hat die Behörde das Ende des unbefristeten Niederlassungsrechts mit Bescheid festzustellen und von Amts wegen einen befristeten Aufenthaltstitel ‚Rot-Weiß-Rot - Karte plus' auszustellen (Rückstufung).
..."
6 Nach Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation (ARB 1/80) dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen.
7 Das Verwaltungsgericht begründet das Vorliegen einer neuen Beschränkung im Sinn des Art. 13 ARB 1/80 damit, dass durch die Rückstufung nach § 28 Abs. 1 NAG die "EU-Mobilität" im Sinn der Richtlinie 2003/109/EG (betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen) verloren gehe und der Mitbeteiligte somit nicht die Möglichkeit habe, unter erleichterten Bedingungen in einem anderen Mitgliedstaat einen Aufenthaltstitel erteilt zu bekommen.
8 Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat festgehalten, dass eine nationale Regelung nur insoweit in den Anwendungsbereich der Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 fällt, als sie geeignet ist, die Erwerbstätigkeit im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaates durch türkische Arbeitnehmer zu beeinträchtigen (siehe etwa das Urteil des EuGH vom 12. April 2016 in der Rs. C-561/14 , Genc, Rn. 44). Eine Beschränkung, mit der bezweckt oder bewirkt werde, die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit im Inland durch einen türkischen Staatsangehörigen strengeren Voraussetzungen zu unterwerfen, sei verboten, sofern sie nicht zu den in Art. 14 ARB 1/80 aufgeführten Beschränkungen gehöre oder durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sei oder geeignet sei, die Erreichung des angestrebten legitimen Zieles zu erreichen, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgehe (siehe das Urteil des EuGH vom 7. November 2013 in der Rs. C- 225/12 , Demir, Rn. 40).
9 Es kann im vorliegenden Fall dahinstehen, inwieweit eine Beeinträchtigung der Möglichkeit, in anderen Mitgliedstaaten einen Aufenthaltstitel zu erhalten, vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung des EuGH überhaupt geeignet ist, die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen "im Inland" strengeren Voraussetzungen zu unterwerfen.
10 Der Verwaltungsgerichtshof ist nämlich - wie auch der Revisionswerber ins Treffen führt - in seinem Beschluss vom 12. Oktober 2015, Ra 2015/22/0116, dem dortigen Revisionsvorbringen, wonach der den Art. 14 der Richtlinie 2003/109/EG umsetzende § 49 Abs. 4 NAG (demzufolge Drittstaatsangehörigen, die einen Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EU" eines anderen Mitgliedstaates besitzen, für die Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit unter bestimmten Voraussetzungen eine "Niederlassungsbewilligung" erteilt werden kann) eine neue Beschränkung des Zugangs zum Arbeitsmarkt für türkische Staatsangehörige darstelle, mit Hinweis darauf entgegengetreten, dass zuvor weder auf unionsrechtlicher noch auf nationaler Ebene eine damit vergleichbare Regelung bestanden habe.
11 Mit der hier gegenständlichen Regelung des § 28 Abs. 1 NAG wird nach den Erläuterungen (RV 952 BlgNR 22. GP , 131) u.a. Art. 9 der Richtlinie 2003/109/EG (betreffend den Entzug der Rechtsstellung als langfristig Aufenthaltsberechtigter) umgesetzt. Vor Inkrafttreten des NAG gab es keine Regelungen betreffend langfristig Aufenthaltsberechtigte im Sinn der Richtlinie 2003/109/EG . Daher stellen die Regelungen zur Umsetzung dieser Richtlinie, die unter einem nicht nur die Einführung einer neuen Rechtsstellung, sondern auch den Entzug dieser Rechtsstellung unter bestimmten Voraussetzungen vorsehen, keine neue Beschränkung dar.
12 Die Regelung des § 28 Abs. 1 NAG kann somit nicht vor dem Hintergrund der Richtlinie 2003/109/EG als neue Beschränkung im Sinn des Art. 13 ARB 1/80 angesehen werden.
13 Das Verwaltungsgericht begründet die vorgenommene Einstufung der Rückstufungsregelung des § 28 Abs. 1 NAG als neue Beschränkung im Sinn des Art. 13 ARB 1/80 weiters damit, dass der Aufenthaltstitel des Mitbeteiligten als Folge der Rückstufung jedes Jahr (bzw. nach zwei Jahren alle drei Jahre) verlängert werden müsse und er daher der Gefahr ausgesetzt sei, einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme unterworfen zu werden.
Dem zuletzt genannten Umstand hält der Revisionswerber zutreffend entgegen, dass eine Rückstufung nach § 28 Abs. 1 NAG voraussetze, dass eine aufenthaltsbeendende Maßnahme (konkret eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 5 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG) nicht verhängt werden könne.
14 Dass dem Mitbeteiligten durch die in § 28 Abs. 1 NAG vorgesehene amtswegige Erteilung eines Aufenthaltstitels "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" der freie Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten bleibt, wird auch vom Verwaltungsgericht nicht in Abrede gestellt. Im Erkenntnis vom 7. Mai 2014, 2013/22/0137, hat der Verwaltungsgerichtshof - vor dem Hintergrund, dass der dortigen Beschwerdeführerin eine "Niederlassungsbewilligung beschränkt" erteilt worden ist und ihr von Amts wegen eine Beschäftigungsbewilligung zu erteilen war - in der Nichterteilung eines Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt - EU" keine Beschränkung in dem (durch den ARB 1/80 und insbesondere dessen Art. 13 geschützten) Zugang zum Arbeitsmarkt gesehen.
15 In seinem Erkenntnis vom 3. März 2011, 2008/22/0306, hat der Verwaltungsgerichtshof eine auf § 28 Abs. 1 NAG gestützte Rückstufung zwar aufgehoben, weil die Feststellungen der belangten Behörde zur Verurteilung des Beschwerdeführers für eine nachvollziehbare Darstellung einer Gefährdungsannahme gemäß dem (dort anwendbaren) § 86 FPG nicht hinreichend gewesen seien. Er hat aber keine Bedenken gegen die grundsätzliche Anwendbarkeit der Rückstufungsregelung des § 28 Abs. 1 NAG gegenüber dem Beschwerdeführer, dem die Rechtsstellung nach Art. 6 ARB 1/80 zukam, geäußert.
16 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass nach Art. 14 ARB 1/80 der betreffende Abschnitt (und damit auch die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80) nur vorbehaltlich der Beschränkungen gilt, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind, und dass § 28 Abs. 1 NAG seinerseits überhaupt nur zur Anwendung kommt, wenn die Voraussetzungen des § 52 Abs. 5 FPG für die Erlassung einer Rückkehrentscheidung vorliegen (somit der weitere Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellen würde).
17 Ausgehend davon ist die hier zugrunde liegende Konstellation auch nicht mit dem vom Mitbeteiligten ins Treffen geführten hg. Erkenntnis vom 24. Juni 2010, 2007/21/0531, 0532, bzw. mit dem hg. Erkenntnis vom 26. Jänner 2012, 2008/21/0304, vergleichbar, weil die dort gegenständlichen Bestimmungen des § 10 Abs. 3 Z 4 bzw. des § 20 Abs. 4 NAG die Gegenstandslosigkeit bzw. das Erlöschen des Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt - EU" auf Grund eines länger andauernden Auslandsaufenthaltes zum Inhalt hatten und die dort angeordneten Rechtsfolgen nicht (wie dies § 28 Abs. 1 NAG vorsieht) mit der amtswegigen Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels verbunden waren.
18 Der Verwaltungsgerichtshof teilt somit nicht die Auffassung des Verwaltungsgerichtes, dass § 28 Abs. 1 NAG in einer Konstellation wie der vorliegenden wegen Verstoßes gegen Art. 13 ARB 1/80 unangewendet zu bleiben habe.
19 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Wien, am 18. Jänner 2017
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