Normen
31972R2760 ZusProt FinanzProt AssAbk Türkei Art41;
62001CJ0317 Abatay VORAB;
62007CJ0092 Kommission / Niederlande;
62009CJ0300 Toprak und Oguz VORAB;
62011CJ0256 Dereci VORAB;
ARB1/80 Art13;
FremdenG 1997;
NAG 2005 §20 Abs4;
NAG 2005 §21 Abs1;
NAG 2005 §21 Abs2;
NAG 2005 §21;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2012:2008210304.X00
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.286,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den auf die Erteilung eines Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt - EG" gerichteten Antrag des Beschwerdeführers, eines türkischen Staatsangehörigen, vom 13. Dezember 2006 gemäß § 21 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz - NAG ab.
Begründend führte sie aus, dem Beschwerdeführer sei am 8. Februar 1999 eine unbefristete Niederlassungsbewilligung für "jeglichen Aufenthaltszweck" erteilt worden. Im Jahr 2001 habe er nach eigenen Angaben das Bundesgebiet verlassen und sei erst im Juni 2006 wieder nach Österreich zurückgekehrt. Von 2001 bis Juni 2006 habe er sich in der Türkei aufgehalten. Am 13. Dezember 2006 habe er den gegenständlichen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Daueraufenthalt - EG" beim Magistrat der Landeshauptstadt Linz eingebracht.
Im Hinblick auf § 20 Abs. 4 NAG, wonach ein Aufenthaltstitel "nach Abs. 3 (unbefristeter Aufenthaltstitel)" erlösche, wenn sich der Fremde länger als zwölf Monate außerhalb des Gebietes des EWR aufhalte, sei die Niederlassungsbewilligung des Beschwerdeführers ex lege erloschen. Aus diesem Grund sei die unbefristete Niederlassungsbewilligung am 18. September 2006 "ungültig gestempelt" worden. Der Antrag vom 13. Dezember 2006 sei daher als Erstantrag zu werten gewesen.
Gemäß § 21 Abs. 1 NAG seien Erstanträge vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen und die Entscheidung sei im Ausland abzuwarten. Der Beschwerdeführer erfülle keine der in § 21 Abs. 2 NAG für die Inlandsantragstellung genannten Voraussetzungen.
Er habe sich jedoch nachweislich am 13. Dezember 2006 im Bundesgebiet aufgehalten. Vom 22. Juni 2006 bis 4. Mai 2007 sowie seit dem 15. Oktober 2007 sei er an näher bezeichneten Adressen in Linz polizeilich gemeldet gewesen. Da er somit sowohl zum Zeitpunkt der Antragstellung als auch zum Zeitpunkt der Entscheidung über seinen Antrag nicht rechtmäßig im Inland aufhältig gewesen sei, stehe § 21 Abs. 1 NAG einer Bewilligung seines Antrages entgegen.
Abschließend verneinte die belangte Behörde das Vorliegen eines besonders berücksichtigungswürdigen Falles im Sinn des § 74 iVm § 72 NAG.
Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 5. März 2008, B 226/08-3, ablehnte und sie über nachträglichen Antrag des Beschwerdeführers dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. Dieser hat über die auftragsgemäß ergänzte Beschwerde erwogen:
Dem Beschwerdeführer war 1999 eine unbefristete Niederlassungsbewilligung "jeglicher Aufenthaltszweck" nach dem Fremdengesetz 1997 erteilt worden. Gemäß § 11 Abs. 2 lit. A Z 1 iVm Abs. 3 Z 1 der Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz-Durchführungsverordnung (NAG-DV) galt diese ab dem 1. Jänner 2006 als Aufenthaltstitel "Daueraufenthalt - EG" weiter.
Die belangte Behörde legte dem angefochtenen Bescheid zugrunde, dass dieser Aufenthaltstitel gemäß § 20 Abs. 4 NAG ex lege erloschen sei, weil sich der Beschwerdeführer länger als zwölf aufeinanderfolgende Monate außerhalb des Gebietes des EWR aufgehalten habe, und deutete den gegenständlichen Antrag ausgehend davon als Erstantrag.
Dabei hätte die belangte Behörde aber darauf Bedacht nehmen müssen, dass der Beschwerdeführer türkischer Staatsangehöriger ist und in Österreich offenkundig die Aufnahme einer unselbständigen Erwerbstätigkeit beabsichtigt hat (eine Beschäftigungsbewilligung für ihn war bereits beantragt worden). Es ist daher die Stillhalteklausel nach Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19. September 1980 (im Folgenden: ARB 1/80) zu beachten, derzufolge die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft (und die Türkei) für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen dürfen.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union ist diese Klausel nicht nur auf die schon in den Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats integrierten türkischen Staatsangehörigen anzuwenden (vgl. grundlegend das Urteil vom 21. Oktober 2003, C 317/01 - Abatay u.a. und C-369/01 - N. Sahin (in der Folge kurz "Urteil Abatay"), Randnr. 73 ff (insb. Randnr. 83), sowie aus jüngerer Zeit etwa das Urteil vom 9. Dezember 2010, C-300/09 - Toprak, und C-301/09 - Oguz, Randnr. 45); allerdings muss die Absicht vorhanden sein, sich in den Arbeitsmarkt des betreffenden Mitgliedstaates zu integrieren (vgl. abermals das Urteil Abatay, Randnr. 89 ff; s. auch das Urteil vom 29. April 2010, C-92/07 - Europäische Kommission gegen Niederlande, Randnr. 49, wonach Art. 13 ARB 1/80 der Einführung neuer Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit einschließlich solchen entgegensteht, die die materiell- und/oder verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die erstmalige Aufnahme jener türkischen Staatsangehörigen im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats betreffen, die dort von dieser Freiheit Gebrauch machen wollen). Ferner kann sich auf die Stillhalteklausel nur berufen, wer die Vorschriften des Aufnahmemitgliedstaats auf dem Gebiet der Einreise, des Aufenthalts und gegebenenfalls der Beschäftigung beachtet hat; sie steht hingegen nicht einer Verstärkung der Maßnahmen entgegen, die gegenüber türkischen Staatsangehörigen getroffen werden können, die sich in einer nicht ordnungsgemäßen Situation befinden (vgl. das Urteil Abatay, Randnr. 84 f). Die Klausel entfaltet unmittelbare Wirkung und schließt bezüglich der in ihren Geltungsbereich fallenden türkischen Staatsangehörigen die Anwendbarkeit aller neu eingeführten Beschränkungen aus (vgl. zuletzt etwa das hg. Erkenntnis vom 13. Dezember 2011, Zl. 2008/22/0180, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union).
Um eine solche neue Beschränkung für den Zugang zum Arbeitsmarkt im Sinn des Art. 13 ARB 1/80 handelt es sich bei dem in § 20 Abs. 4 NAG normierten Erlöschen eines unbefristet erteilten Aufenthaltstitels von Gesetzes wegen im Fall eines mehr als zwölfmonatigen Aufenthalts außerhalb des EWR-Gebietes, war doch eine derartige Rechtsfolge nach dem bis zum Inkrafttreten des NAG am 1. Jänner 2006 geltenden Fremdengesetz 1997 nicht vorgesehen (vgl. zum ähnlichen Fall der Gegenstandslosigkeit eines Aufenthaltstitels nach § 10 Abs. 3 Z 4 NAG das hg. Erkenntnis vom 24. Juni 2010, Zl. 2007/21/0531 und 0532).
§ 20 Abs. 4 NAG war daher auf den Beschwerdeführer - der sich nicht in einer nicht ordnungsgemäßen Situation befand, zumal er zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Bestimmung über einen gültigen Aufenthaltstitel verfügte, der nur infolge der neuen Beschränkung verloren gegangen wäre - nicht anzuwenden. Es wäre somit jedenfalls von der Weitergeltung des von ihm innegehabten Aufenthaltstitels auch nach Inkrafttreten des NAG auszugehen gewesen. Der gegenständliche Antrag hätte folglich nicht als Erstantrag qualifiziert und schon deswegen nicht gemäß § 21 Abs. 1 NAG abgewiesen werden dürfen.
Der angefochtene Bescheid war sohin gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am 26. Jänner 2012
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