Normen
AlVG 1977 §6
AlVG 1977 §8 Abs2
AlVG 1977 §8 Abs3
ASVG §351b
AVG §39 Abs2
AVG §45 Abs2
AVG §52
AVG §53
MRK Art6
VwGVG 2014 §17
European Case Law Identifier: ECLI:AT:VWGH:2016:RA2016080142.L00
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis hat das Verwaltungsgericht den Bezug der Notstandshilfe mangels Arbeitsfähigkeit des Revisionswerbers ab dem 1. März 2016 eingestellt. Dieser beziehe ‑ mit Unterbrechungen ‑ seit 12. August 2005 Arbeitslosengeld und seit 18. März 2006 Notstandshilfe. Eine von der belangten Behörde (im Folgenden: AMS) in Auftrag gegebene medizinische Untersuchung des Revisionswerbers im „Kompetenzzentrum Begutachtung“ der Pensionsversicherungsanstalt vom 9. November 2015 habe ergeben, dass „auf Grund des festgestellten Leidenszustandes des [Revisionswerbers] das Gesamtleistungskalkül für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr ausreicht“. Er sei dauernd invalid gemäß § 255 Abs. 3 ASVG. Ein Wiedererlangen der notwendigen Leistungsfähigkeit sei auszuschließen. Rehabilitationsfähigkeit liege nicht vor.
2 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht aus, das AMS habe Bescheide der Pensionsversicherungsanstalt und Gutachten des Kompetenzzentrums anzuerkennen und seiner weiteren Tätigkeit zu Grunde zu legen. Der Revisionswerber sei dem Gutachten nicht auf der gleichen fachlichen Ebene entgegengetreten. Er habe kein Gegengutachten vorgelegt. Seine bloße Behauptung, er sei arbeitsfähig, reiche nicht aus, um das medizinische Gutachten in Frage zu stellen. Der Revisionswerber habe die Schlüssigkeit des Gutachtens nicht in Frage gestellt. Er sei invalid bzw. berufsunfähig im Sinn des § 8 Abs. 1 AlVG iVm § 255 ASVG. Er habe am 22. Februar 2016 (mit Stichtag 1. März 2016) bei der Pensionsversicherungsanstalt einen Antrag auf Zuerkennung der Alterspension gestellt. Mit der Zuerkennung von Leistungen im Sinn des § 23 Abs. 2 Z 2 AlVG sei jedoch nicht zu rechnen, weil laut Auskunft des Pensionsversicherungsträgers die Wartezeit für eine Alterspension im Fall des Revisionswerbers nicht erfüllt sei. Es könne daher ab 1. März 2016 auch kein Pensionsvorschuss auf eine zu erwartende Alterspension gebühren. Auch die Wartezeit für eine Invaliditätspension sei nicht erfüllt. Mangels Arbeitsfähigkeit sei die Notstandshilfe ab 1. März 2016 gemäß § 24 Abs. 1 AlVG einzustellen. Die Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung sei vom Revisionswerber nicht beantragt worden. Der Sachverhalt sei aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde als geklärt anzusehen. Es habe sich kein Hinweis auf die Notwendigkeit ergeben, den maßgeblichen Sachverhalt mit dem Revisionswerber zu erörtern. Der Sachverhalt sei nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens unter schlüssiger Beweiswürdigung des AMS festgestellt worden. In der Beschwerde seien keine zu klärenden Tatsachenfragen aufgeworfen worden. Dem Absehen von der Verhandlung stünden auch Art. 6 Abs. 1 EMRK und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union nicht entgegen.
3 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision. Die belangte Behörde hat eine Revisionsbeantwortung erstattet, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Revision beantragt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
4 Der Revisionswerber bringt zur Zulässigkeit der Revision vor, das dem Verfahren zugrundeliegende Gutachten sei mangelhaft und unschlüssig. Eine Begründung für die angebliche mangelnde Arbeitsfähigkeit lasse sich daraus nicht entnehmen. Er leide nicht dauernd unter Bluthochdruck. Die Volkskrankheit Bluthochdruck könne nicht zu dauernder Invalidität führen, weil sonst ein Viertel der Österreicher arbeitsunfähig wäre. Es sei nicht seine Aufgabe, ein Gegengutachten vorzulegen, sondern Aufgabe des Gerichts, mit schlüssigen und überzeugenden Gutachten zu arbeiten. Die Feststellungen, die das Verwaltungsgericht getroffen habe, würden im Gutachten keine Deckung finden. Es enthalte keine schlüssige Begründung, warum er invalid sein solle. Einem fundierten Gutachten könne mit einem fundierten Gutachten entgegengetreten werden. Bei einem unschlüssigen Gutachten sei das nicht erforderlich. Das Verwaltungsgericht hätte eine mündliche Verhandlung durchführen müssen. Diese hätte dazu geführt, dass er seinen Standpunkt hätte darlegen können. Allenfalls wäre ein Ergänzungsgutachten eingeholt worden. Die Verfahrensfehler würden dazu führen, dass eine Rechtsfrage erheblicher Bedeutung vorliege. Die Entscheidung weiche von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, wonach nur ein schlüssiges Gutachten „ein ordentliches Verfahren“ begründen könne.
5 Die Revision ist zulässig und berechtigt.
6 1. Bestehen Zweifel an der Arbeitsfähigkeit des Arbeitslosen, ist die Behörde verpflichtet, diese von Amts wegen zu prüfen, wofür eine medizinische Untersuchung in Betracht kommt. Eine Zuweisung zur Untersuchung hat (vorerst) nur an einen Arzt für Allgemeinmedizin zu erfolgen. Soweit dieser die Frage der Arbeitsfähigkeit nicht abschließend zu beurteilen vermag, wäre es Sache dieses Gutachters darzutun, dass und welche weiteren Untersuchungen durch Fachärzte zur Abklärung des Leidenszustandes aus medizinischer Sicht erforderlich sind. Die Zuweisung an die „Gesundheitsstraße“ (bzw. das Kompetenzzentrum Begutachtung) der Pensionsversicherungsanstalt zur Durchführung medizinischer Begutachtung im Sinn des § 351b ASVG ist der Zuweisung an einen Arzt für Allgemeinmedizin gleichzuhalten (vgl. das hg. Erkenntnis vom 10. September 2014, Zl. 2013/08/0184, mwN).
7 2. Dem auf Grund der Zuweisung des Revisionswerbers an die Gesundheitsstraße der Pensionsversicherungsanstalt am 9. November 2015 von Dr. W. erstellten „ärztlichen Gesamtgutachten gemäß § 8 AlVG“ ist in diagnostischer Hinsicht zu entnehmen, dass der Revisionswerber (als „Hauptursache der Minderung der Erwerbsfähigkeit“) an „Bluthochdruck“ sowie weiters an „Bronchialerkrankung unklarer Genese“ und „Vergrößerung der Vorstehdrüse mit erhöhtem Harndrang“ leide. Er präsentiere sich „intern“ kardiorespiratorisch stabil. Der Blutdruck sei erhöht, es bestehe „Therapieerweiterungsoption“. Die Gutachterin gelangt auf Grund dieses Gesundheitszustandes zu folgender Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Revisionswerbers (Leistungskalkül):
„Arbeitsfähigkeit ist in Anbetracht des fortgeschrittenen Alters nicht mehr gegeben, die unbefristete Pensionierung wird befürwortet.“
Des Weiteren findet sich im Akt eine undatierte und nicht unterfertigte Stellungahme eines namentlich nicht genannten „chefärztlichen Dienstes“, wonach das Gesamtleistungskalkül des Revisionswerbers für Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht ausreiche und er dauernd invalid gemäß § 255 Abs. 3 ASVG sei.
8 3. Aufgabe der ärztlichen Begutachtung nach § 8 Abs. 2 AlVG ist es, den medizinischen Befund zu erheben, eine Diagnose zu erstellen und zu beurteilen, welche Arbeitsverrichtungen der körperlichen und geistigen Verfassung des Arbeitslosen entsprechen (Leistungskalkül).
9 § 8 Abs. 3 AlVG, wonach das AMS Gutachten des Kompetenzzentrums Begutachtung der PVA zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit „anzuerkennen und seiner weiteren Tätigkeit zugrunde zu legen“ hat, enthebt die Behörde nicht von ihrer Verpflichtung, den entscheidungswesentlichen Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln. Dass die Gutachten der Ärzte der Pensionsversicherungsanstalt für das AMS „bindend“ seien, lässt sich ‑ ungeachtet eines entsprechenden Hinweises in den Erläuterungen zu Regierungsvorlage zur Novelle BGBl. I Nr. 62/2010 (785 BlgNR 24. GP , 8) ‑ dem (maßgeblichen) Gesetzeswortlaut nicht entnehmen und kann schon wegen der fehlenden Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Gutachten auch aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht angenommen werden. Aus § 8 Abs. 3 AlVG ergibt sich nur, dass die ärztliche Begutachtung im Hinblick auf das Vorliegen von Invalidität bzw. Berufsunfähigkeit ‑ was für den Pensionsanspruch positive oder für den Arbeitslosengeld‑ bzw. Notstandshilfeanspruch negative Voraussetzung ist ‑ grundsätzlich nur bei einer Stelle ‑ nämlich der Pensionsversicherungsanstalt ‑ erfolgen soll, das Arbeitsmarktservice also jedenfalls dann, wenn ein aktuelles Gutachten von Ärzten der Pensionsversicherungsanstalt bereits vorliegt, zunächst dieses heranzuziehen und kein neues Sachverständigengutachten in Auftrag zu geben hat. Die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit hat erforderlichenfalls nach Befassung eines berufskundlichen Sachverständigen zu erfolgen, woran die Anordnung des § 8 Abs. 3 AlVG ebenfalls nichts zu ändern vermag (vgl. das hg. Erkenntnis vom 14. März 2013, Zl. 2012/08/0311).
10 4. Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Rechtslage vor Einführung der zweistufigen Verwaltungsgerichtsbarkeit mit 1. Jänner 2014 mehrfach ausgesprochen, dass die bloße Behauptung des Arbeitslosen, arbeitsfähig zu sein, nicht ausreiche, um ein die Arbeitsfähigkeit verneinendes medizinisches Gutachten in Frage zu stellen, zumal der Arbeitslose damit dem Sachverständigengutachten nicht auf gleicher fachlicher Ebene entgegentrete (vgl. das hg. Erkenntnis vom 6. Juli 2011, Zl. 2008/08/0101, mwN).
11 5.1. Das nunmehr anzuwendende VwGVG enthält keine eigenen Bestimmungen betreffend die Beiziehung von Sachverständigen im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten. Gemäß § 17 VwGVG kommen die §§ 52 und 53 AVG zum Tragen. Die zu diesen Bestimmungen des AVG ergangene hg. Judikatur kann auf das Verfahren vor den Verwaltungsgerichten übertragen werden. Die Heranziehung eines Amtssachverständigen ist auch im Verfahren vor den Verwaltungsgerichten grundsätzlich zulässig, wobei seinem Gutachten im Rahmen der freien Beweiswürdigung (§ 45 Abs. 2 AVG) aber kein erhöhter Beweiswert zukommt. Diesem kann unter anderem durch ein Gegengutachten auf gleicher fachlicher Ebene entgegengetreten werden. Werden von den Parteien Gutachten anderer Sachverständiger oder andere sachverständige Stellungnahmen vorgelegt, so sind diese erforderlichenfalls einer Überprüfung durch amtliche bzw. nichtamtliche Sachverständige als Hilfsorgan des Verwaltungsgerichtes im Sinn des § 52 AVG zu unterziehen („Plausibilitätsprüfung“), wobei gegebenenfalls dann aber nicht noch ein (zusätzliches) Gutachten eines Sachverständigen im Sinn des § 52 AVG notwendig ist (vgl. das hg. Erkenntnis vom 6. Juli 2016, Ro 2016/08/0012, mwN).
12 5.2. Voraussetzung, dass sich das Verwaltungsgericht auf ein bereits im behördlichen Verfahren eingeholtes (hier: medizinisches) Sachverständigengutachten stützen und von der Einholung eines gerichtlichen Sachverständigengutachtens Abstand nehmen kann, ist jedoch, dass es hinsichtlich der Befundaufnahme, der Diagnosestellung und der sachverständigen Schlussfolgerungen auf das bei dem Betreffenden verbliebene Leistungskalkül qualitativen Mindestanforderungen genügt, sodass auf das Gutachten eine schlüssige Beweiswürdigung gegründet werden kann.Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, so hat das Verwaltungsgericht von Amts wegen ein gerichtliches Sachverständigengutachten einzuholen, ohne dass die Partei zuvor eigene Gutachten beibringen oder auch nur die Unschlüssigkeit des Gutachtens eigens behaupten müsste.
13 5.3. Im vorliegenden Fall beschränkt sich das im Weg der Gesundheitsstraße eingeholte Gutachten bei der Erstellung des Leistungskalküls auf die einer rechtlichen Schlussfolgerung gleichkommende, als solche überdies unsachlich begründete Aussage, dass „Arbeitsfähigkeit in Anbetracht des fortgeschrittenen Alters nicht mehr gegeben sei“. Welche Arbeitsverrichtungen dem Revisionswerber noch möglich sind, ist dem Gutachten nicht zu entnehmen. Ein Zusammenhang zwischen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung und einem Leistungskalkül ist nicht herstellbar. Ein derartiges Gutachten entspricht den genannten Anforderungen nicht. Da dem Verwaltungsgericht sohin kein ordnungsgemäßes Gutachten vorlag, hätte es von Amts wegen ein gerichtliches Sachverständigengutachten über den Leidenszustand des Revisionswerbers, das bei ihm bestehende Leistungskalkül sowie die daraus resultierende Fähigkeit, Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt auszuüben, einholen müssen.
14 6. Bei Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung handelt es sich um „civil rights“ im Sinn des Art. 6 EMRK. Die Rechtssache kann ‑ insbesondere was die Tatsachenfeststellungen betrifft ‑ nicht als geklärt angesehen werden. Das Verwaltungsgericht wird im fortgesetzten Verfahren (von Amts wegen) eine mündliche Verhandlung durchzuführen haben (vgl. das hg. Erkenntnis vom 17. März 2016, Ra 2016/08/0007, mwN).
15 7. Das angefochtene Erkenntnis war gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
16 8. Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff iVm der VwGH‑Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518.2013.
Wien, am 24. November 2016
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