VwGH Ra 2015/02/0233

VwGHRa 2015/02/02337.3.2016

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Beck und die Hofräte Dr. Lehofer und Dr. N. Bachler als Richter, unter Beiziehung der Schriftführerin Mag. Harrer, über die Revision des K in N, vertreten durch Dr. Hermann Sperk, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Wallnerstraße 2-4, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich vom 19. Oktober 2015, Zlen. LVwG-S-2408/001-2015, LVwG-S-2446/001-2015, LVwG-S-2445/001-2015, LVwG-S-2427/001-2015, LVwG-S-2426/001-2015 und LVwG-S-2796/001-2015, betreffend Übertretungen der StVO und des FSG sowie Wiedereinsetzung in den vorigen Stand i.A. Übertretungen der StVO und des FSG (Partei gemäß § 21 Abs. 1 Z. 2 VwGG: Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf), zu Recht erkannt:

Normen

AVG §71 Abs1;
VwGG §34 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGVG 2014 §7 Abs4;
ZustG §13 Abs4 idF 2013/I/033;
ZustG §2 Z1 idF 2013/I/033;
ZustG §2 Z4 idF 2013/I/033;
ZustG §5 idF 2013/I/033;
ZustG §9 Abs3 idF 2013/I/033;
AVG §71 Abs1;
VwGG §34 Abs1;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwGVG 2014 §7 Abs4;
ZustG §13 Abs4 idF 2013/I/033;
ZustG §2 Z1 idF 2013/I/033;
ZustG §2 Z4 idF 2013/I/033;
ZustG §5 idF 2013/I/033;
ZustG §9 Abs3 idF 2013/I/033;

 

Spruch:

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund und das Land Niederösterreich sind schuldig, dem Revisionswerber je zur Hälfte Aufwendungen in der Höhe von insgesamt EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen zu ersetzen.

Begründung

Mit Straferkenntnissen der Bezirkshauptmannschaft Gänserndorf (BH) vom 8. April 2015, vom 20. April 2015 sowie vom 22. April 2015 wurde der Revisionswerber wegen Übertretungen nach der StVO und nach dem FSG schuldig erkannt, weshalb über ihn Geldstrafen verhängt wurden.

Mit zwei Bescheiden vom 21. Juli 2015 und mit einem Bescheid vom 20. August 2015 wies die BH Anträge des Revisionswerbers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ab.

Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 19. Oktober 2015 erkannte das Landesverwaltungsgericht in Spruchpunkt I. wie folgt:

"1. Den Beschwerden gegen die Bescheide vom 21. Juli 2015 ... und vom 20. August 2015 ... wird gemäß § 50 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) keine Folge gegeben, der Spruch der angefochten Bescheide jedoch dahingehend abgeändert, dass die Rechtsgrundlage zu lauten hat: § 33 Abs. 1 VwGVG.

2. Gegen dieses Erkenntnis ist eine ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig (§ 25a VwGG)."

In Spruchpunkt II. des angefochtenen Erkenntnisses vom 19. Oktober 2015 fasste das Landesverwaltungsgericht folgenden Beschluss:

"1. Die Beschwerden gegen die Straferkenntnisse der ...(BH)... vom 8. April 2015, ..., vom 20. April 2015..., sowie vom 22. April 2015 ..., werden gemäß § 7 Abs. 4 VwGVG als verspätet zurückgewiesen.

2. Gegen diesen Beschluss ist eine ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig (§ 25a VwGG)."

In seinen Entscheidungsgründen hielt das Landesverwaltungsgericht fest, dass der Revisionswerber seine Wiedereinsetzungsanträge darauf stütze, die Hinterlegungsanzeigen nicht vorgefunden zu haben. Der Revisionswerber bezweifle, dass Hinterlegungsanzeigen an seiner Abgabestelle tatsächlich zurückgelassen worden seien. In diesem Zusammenhang dürfe allerdings nicht übersehen werden, dass der Revisionswerber vorliegend von insgesamt sechs Sendungen keine einzige behoben habe. Dies könne nur mit einer auffallenden Sorglosigkeit bei der Durchsicht der Post erklärt werden. Daher könne den Beschwerden gegen die Abweisung der Wiedereinsetzungsanträge kein Erfolg beschieden werden.

Da die Straferkenntnisse durch Hinterlegung rechtswirksam an der Abgabestelle des Revisionswerbers zugestellt worden seien, würden sich die dagegen erhobenen Beschwerden jeweils als verspätet erweisen. Sie seien daher zurückzuweisen gewesen.

Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, die vom Verwaltungsgericht unter Anschluss der Akten des Verfahrens vorgelegt wurde.

Die belangte Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Gemäß § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.

Die Revision ist zulässig und berechtigt.

Die für den vorliegenden Revisionsfall maßgebenden Bestimmungen des Zustellgesetzes BGBl. Nr. 200/1982 (im Folgenden: ZustellG), in der Fassung des Bundesgesetzes BGBl. I Nr. 33/2013, lauten:

"§ 2. Im Sinne dieses Bundesgesetzes bedeuten die Begriffe:

1. ‚Empfänger': die von der Behörde in der Zustellverfügung (§ 5) namentlich als solcher bezeichnete Person;

...

3. ‚Zustelladresse': eine Abgabestelle (Z 4) oder elektronische Zustelladresse (Z 5);

4. ‚Abgabestelle': die Wohnung oder sonstige Unterkunft, die Betriebsstätte, der Sitz, der Geschäftsraum, die Kanzlei oder auch der Arbeitsplatz des Empfängers, im Falle einer Zustellung anlässlich einer Amtshandlung auch deren Ort, oder ein vom Empfänger der Behörde für die Zustellung in einem laufenden Verfahren angegebener Ort;

...

§ 5. Die Zustellung ist von der Behörde zu verfügen, deren Dokument zugestellt werden soll. Die Zustellverfügung hat den Empfänger möglichst eindeutig zu bezeichnen und die für die Zustellung erforderlichen sonstigen Angaben zu enthalten.

...

§ 7. Unterlaufen im Verfahren der Zustellung Mängel, so gilt die Zustellung als in dem Zeitpunkt dennoch bewirkt, in dem das Dokument dem Empfänger tatsächlich zugekommen ist.

...

§ 9. (3) Ist ein Zustellungsbevollmächtigter bestellt, so hat die Behörde, soweit gesetzlich nicht anderes bestimmt ist, diesen als Empfänger zu bezeichnen. Geschieht dies nicht, so gilt die Zustellung als in dem Zeitpunkt bewirkt, in dem das Dokument dem Zustellungsbevollmächtigten tatsächlich zugekommen ist.

...

§ 13. (4) Ist der Empfänger eine zur berufsmäßigen Parteienvertretung befugte Person, so ist das Dokument in deren Kanzlei zuzustellen und darf an jeden dort anwesenden Angestellten des Parteienvertreters zugestellt werden; durch Organe eines Zustelldienstes darf an bestimmte Angestellte nicht oder nur an bestimmte Angestellte zugestellt werden, wenn der Parteienvertreter dies schriftlich beim Zustelldienst verlangt hat. Die Behörde hat Angestellte des Parteienvertreters wegen ihres Interesses an der Sache oder auf Grund einer zuvor der Behörde schriftlich abgegebenen Erklärung des Parteienvertreters durch einen Vermerk auf dem Dokument und dem Zustellnachweis von der Zustellung auszuschließen; an sie darf nicht zugestellt werden."

Ist eine Person, für die das zuzustellende Dokument inhaltlich bestimmt ist (Empfänger im materiellen Sinn), durch eine zur berufsmäßigen Parteienvertretung befugte Person vertreten, so ist deren Kanzlei ausschließliche Abgabestelle (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 20. Mai 2010, Zl. 2010/07/0014, mwN).

In einer solchen Konstellation ist der berufsmäßige Parteienvertreter Empfänger (im formellen Sinn) nach § 2 Z. 1 ZustellG.

Im Revisionsfall war der Revisionswerber bereits im Verfahren vor der BH durch einen Rechtsanwalt - den nunmehrigen Revisionswerbervertreter - vertreten.

Dies ergibt sich aus einem den vorgelegten Verwaltungsakten zuliegenden E-Mail vom 20. März 2015, in welchem der nunmehrige Revisionswerbervertreter gegenüber der BH mitteilt, dass der Revisionswerber "von meiner Kanzlei anwaltlich vertreten wird".

In Widerspruch zu § 9 Abs. 3 ZustellG wurde jedoch in den Zustellverfügungen der Straferkenntnisse der BH der Revisionswerber als Empfänger (im formellen Sinn) nach § 2 Z. 1 ZustellG genannt. Demgemäß wurden diese Bescheide auch an die Wohnadresse des Revisionswerbers zugestellt.

Die BH hätte jedoch eine Zustellung ihrer Straferkenntnisse, die an den Revisionswerber als Normadressaten (Empfänger im materiellen Sinn) gerichtet sind, an die Kanzlei seines Rechtsvertreters (Empfänger im formellen Sinn) verfügen müssen. Da dies nicht geschehen ist, würde die Zustellung (erst) in dem Zeitpunkt als bewirkt gelten, in dem das Dokument dem Zustellbevollmächtigten tatsächlich zugekommen ist (§ 9 Abs. 3 ZustellG; vgl. dazu auch das bereits zitierte hg. Erkenntnis vom 20. Mai 2010, Zl. 2010/07/0014, mwN).

Die Einschätzung des Verwaltungsgerichtes, wonach die Straferkenntnisse der BH durch Hinterlegung rechtswirksam zugestellt worden seien, erweist sich daher als nicht in Übereinstimmung mit der Rechtslage und konnte die Zurückweisung der Beschwerden gegen die Straferkenntnisse der BH vom 8. April 2015, vom 20. April 2015 sowie vom 22. April 2015 wegen Verspätung nicht tragen.

Aufgrund dieser verfehlten Rechtsansicht hat es das Verwaltungsgericht auch unterlassen, notwendige Ermittlungen darüber anzustellen, ob dem Rechtsanwalt des Revisionswerbers die Bescheide tatsächlich zu einem späteren Zeitpunkt im Sinne des § 9 Abs. 3 ZustellG zugekommen sind.

Ein mangelhafter und dementsprechend gesetzwidriger Zustellvorgang steht einer rechtswirksamen Zustellung entgegen. Er löst den Beginn der Rechtsmittelfrist nicht aus und steht somit deren Versäumung, die wiederum gemäß § 71 Abs. 1 AVG Voraussetzung für einen Antrag auf Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Beschwerdefristen ist, entgegen (vgl. das hg. Erkenntnis vom 29. Oktober 2015, Zl. 2013/07/0102 und den hg. Beschluss vom 11. Juni 2014, Zl. Ro 2014/22/0010).

Damit erfolgte auch die Abweisung der Wiedereinsetzungsanträge in Spruchpunkt I. des angefochtenen Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtes nicht zu Recht.

Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013 in der Fassung der Novelle BGBl. II Nr. 8/2014. Der Aufwandersatz war zu gleichen Teilen dem Land Niederösterreich und dem Bund aufzuerlegen (vgl. den hg. Beschluss vom 20. November 2015, Zl. Ra 2015/02/0183, und das hg. Erkenntnis vom 26. November 2015, Zl. Ra 2015/07/0123). Wien, am 7. März 2016

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