Normen
AsylG 1997 §27 Abs3;
AsylG 2005 §20 Abs1;
AsylG 2005 §20 Abs2;
AsylG 2005 §20;
B-VG Art83 Abs2;
Geschäftsverteilung BVwG §6 Abs1 Z4;
VwGG §42 Abs2 Z2;
Spruch:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionswerberin ist Staatsangehörige Somalias und stellte am 26. Jänner 2012 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz. Diesen begründete sie im Wesentlichen damit, dass sie bereits zweimal von Mitgliedern der Al Shabaab entführt worden sei. Sie sei einige Tage festgehalten, geschlagen und gefoltert worden. Im Zuge des erfolglosen Versuchs des Großvaters, die zweite Entführung zu verhindern, sei dieser von den Angreifern erschossen worden. Sie sei aus Angst, von Mitgliedern der Al Shabaab vergewaltigt oder getötet zu werden, geflüchtet.
2 Mit Bescheid vom 7. Mai 2012 wies das Bundesasylamt (nunmehr Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) den Antrag der Revisionswerberin gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab, erkannte ihr aber gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung.
3 Gegen den abweisenden Teil der Entscheidung erhob die Revisionswerberin Beschwerde an den Asylgerichtshof. Das Beschwerdeverfahren wurde ab 1. Jänner 2014 gemäß § 75 Abs. 19 AsylG 2005 vom Bundesverwaltungsgericht (BVwG) zu Ende geführt.
4 In ihrer Beschwerde bestritt die Revisionswerberin im Wesentlichen die beweiswürdigenden Überlegungen des BFA und verwies zur Asylrelevanz ihres Vorbringens unter Zitierung von Länderberichten auf die "prekäre Situation" für Frauen und Mädchen in Somalia. Es bestehe "stets die Gefahr von Verschleppung, Vergewaltigung und systematischer Versklavung". Es sei ihr nach der zweiten Entführung "keine andere Wahl (geblieben,) ihr Leben sowie ihre körperliche Integrität zu schützen als das Land zu verlassen". Im Falle einer Rückkehr habe sie Eingriffe in ihre körperliche Integrität zu befürchten. Überdies beantragte sie die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG die Beschwerde der Revisionswerberin nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet ab. Die Revision wurde gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zugelassen.
6 Die abweisende Entscheidung begründete es im Wesentlichen mit der Unglaubwürdigkeit des Vorbringens der Revisionswerberin. Zunächst führte es aus, auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Erstbefragung wäre zu erwarten gewesen, dass die Revisionswerberin bereits dort die gravierendsten Vorfälle erwähnt und nicht nur von der allgemeinen Situation in Somalia gesprochen hätte. In Bezug auf die behauptete Entführung durch die Al Shabaab sei das Vorbringen sehr vage geblieben. Die Revisionswerberin sei trotz mehrmaliger Aufforderung nicht in der Lage gewesen, Details zu den Entführungen zu nennen. Überdies seien in der mündlichen Verhandlung "mehrfach grob widersprüchliche sowie nicht deckungsgleiche Angaben" zu Tage getreten. Insbesondere habe die Revisionswerberin die Ermordung ihres Großvaters selbst auf Nachfrage nicht von sich aus erwähnt.
7 Die Beschwerdeverhandlung leitete ein männlicher Einzelrichter, der auch die angefochtene Entscheidung traf.
8 Gegen dieses Erkenntnis erhob die Revisionswerberin unter anderem wegen Verletzung im Recht auf den gesetzlichen Richter mangels Einvernahme durch eine weibliche Richterin zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 17. September 2015, E 1095/2015-7, ablehnte und mit Beschluss vom 28. Oktober 2015, E 1095/2015-9, über nachträglichen Antrag der Revisionswerberin dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
9 In der daraufhin eingebrachten außerordentlichen Revision führte die Revisionswerberin zur Zulässigkeit unter anderem aus, dass die mündliche Verhandlung vor dem BVwG aufgrund des Vorbringens der Revisionswerberin zur befürchteten Vergewaltigung gemäß § 20 Abs. 1 AsylG 2005 nicht "durch ein männlich besetztes Gericht" durchgeführt hätte werden dürfen. Das BVwG sei von der Rechtsprechung abgewichen bzw. fehle dazu Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.
10 Das BFA nahm von der Erhebung einer Revisionsbeantwortung Abstand.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
11 Die Revision ist zulässig und begründet.
12 Die maßgebliche Bestimmung des Asylgesetzes 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, idF BGBl. I Nr. 68/2013 (AsylG 2005), lautet:
"Einvernahmen von Opfern bei Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung
§ 20. (1) Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen.
(2) Für Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gilt Abs. 1 nur, wenn der Asylwerber den Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Diesfalls ist eine Verhandlung von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen. Ein Verlangen nach Abs. 1 ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen. (...)"
13 § 20 Abs. 1 AsylG 2005 bestimmt, dass jene Asylwerber und Asylwerberinnen von Personen desselben Geschlechts einzuvernehmen sind, die ihre Furcht vor Verfolgung auf Eingriffe in ihre sexuelle Selbstbestimmung gründen. Gemäß § 20 Abs. 2 AsylG 2005 gilt dies auch für das Verfahren vor dem BVwG. Dazu heißt es in den Materialien (RV 952 BlgNR 22. GP , 45):
"Ausdrücklich wird normiert, dass Asylwerber, die behaupten Opfer von sexuellen Misshandlung zu sein oder solchen Gefahren ausgesetzt zu werden, von Personen desselben Geschlechts einzuvernehmen sind. In diesem Sinne hat etwa das Exekutiv-Komitee für das Programm des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen die Staaten aufgefordert, wo immer dies notwendig ist, ausgebildete weibliche Anhörer in den Verfahren zur Feststellung des Flüchtlingsstatus zur Verfügung zu stellen, und den entsprechenden Zugang der weiblichen Asylsuchenden zu diesen Verfahren, auch wenn die Frauen von männlichen Familienmitgliedern begleitet werden, zu sichern (Beschluss Nr. 64 (XLI) über Flüchtlingsfrauen und Internationalen Rechtsschutz lit. a Abschnitt iii). Dass die Gefahr, vergewaltigt oder sexuell misshandelt zu werden, in aller Regel unter den Tatbestand des Art. 1 Abschnitt A der Genfer Flüchtlingskonvention fällt, liegt auf der Hand und Bedarf keiner weiteren Erörterung (vgl. dazu insbesondere den Beschluss des Exekutiv-Komitees für das Programm des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen Nr. 73 (XLIV) betreffend Rechtsschutz für Flüchtlinge und sexuelle Gewalt). Unberührt bleibt von der Neufassung der Bestimmung die Absicht des Gesetzgebers hiermit internationale Beschlüsse umzusetzen (in diesem Sinne auch VwGH Erk. 2001/01/0402 vom 03.12.2003); daher sind, wenn es notwendig und möglich ist, etwa auch weibliche Dolmetscher für entsprechende Verfahren zu bestellen."
14 Der Verfassungsgerichtshof hatte sich zu § 20 AsylG 2005 idF vor der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 u.a. bereits mit einem Fall befasst, in dem eine Asylwerberin zwar nicht behauptet hatte, dass sie bereits Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden sei, wohl aber, dass man ihr gedroht habe, sie zu vergewaltigen. Dabei hat er ausgesprochen, dass sich aus den Gesetzesmaterialien ergebe, "dass der Gesetzgeber unter Bezugnahme auf und in Entsprechung von Empfehlungen in einschlägigen internationalen Dokumenten die Anordnung treffen wollte, dass die Einvernahme bzw. gemäß § 20 Abs. 2 AsylG 2005 auch die Verhandlungsführung vor dem Asylgerichtshof schon dann durch Personen desselben Geschlechts durchzuführen ist, wenn die Flucht aus dem Heimatstaat nicht mit bereits stattgefundenen, sondern mit Furcht vor sexuellen Übergriffen begründet wurde" (vgl. VfGH vom 11. Dezember 2013, U 1914/2012 ua; vgl. zuvor überdies insbesondere VfGH 12. März 2013, U 1674/12). Diese Rechtsprechungslinie hat der Verfassungsgerichtshof auch jüngst wieder bekräftigt (vgl. VfGH 12. Juni 2015, U 1099/2013 ua).
15 Nach dem Zweck des § 20 Abs. 2 AsylG 2005 soll die Durchführung der mündlichen Verhandlung durch (im vorliegenden Fall) eine weibliche Richterin den Abbau von Hemmschwellen bei der Schilderung von Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung bewirken (vgl. bereits VwGH vom 3. Dezember 2003, 2001/01/0402). Gleiches gilt für die Furcht vor Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung (vgl. VfGH vom 11. Dezember 2013, U 1914/2012 ua.).
16 Im vorliegenden Fall hat die Revisionswerberin im Laufe des Verfahrens an mehreren Stellen von ihrer Angst vor Vergewaltigung durch Mitglieder der Al Shabaab gesprochen. Sie hat angegeben, bereits zweimal entführt, festgehalten, geschlagen und gefoltert worden zu sein. Überdies hat sie ihre Befürchtung durch Zitierung von Länderberichten zu Somalia, aus denen die Gefahr der Vergewaltigung für Mädchen durch Mitglieder der Al Shabaab ableitbar ist, untermauert.
17 Ausgehend davon, dass die Revisionswerberin damit ihre Furcht vor Verfolgung auf Angst vor Eingriffen in ihre sexuelle Selbstbestimmung gründete, hätte sie, da sie kein Verlangen nach § 20 Abs. 1 iVm Abs. 2 erster Satz AsylG 2005 gestellt hat, in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG durch eine weibliche Richterin einvernommen werden müssen.
18 Wie der Verfassungsgerichtshof in seiner Rechtsprechung bereits ausgesprochen hat, führt ein Verstoß gegen § 20 Abs. 2 AsylG 2005 dazu, dass die in der Folge erlassene Entscheidung durch einen unrichtig zusammengesetzten Spruchkörper getroffen wird (vgl. nochmals VfGH vom 11. Dezember 2013, U 1914/2012, ua mwN). Dementsprechend sieht die Geschäftsverteilung des BVwG in ihrem § 6 Abs. 1 Z 4 auch vor, dass eine Richterin oder ein Richter im Sinne der Geschäftsverteilung unzuständig ist, wenn sie oder er wegen eines behaupteten Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung gemäß § 20 AsylG 2005 für die betreffende Rechtssache nicht zuständig ist. Ausgehend davon hält der Verwaltungsgerichtshof seine zur Vorgängerbestimmung des § 27 Abs. 3 AsylG 1997 ergangene Rechtsprechung, wonach ein Verstoß gegen diese Norm einen bloßen Verfahrensmangel begründet, nicht aufrecht. Folglich kann ein Verstoß gegen § 20 Abs. 2 AsylG 2005 vor dem Verfassungsgerichtshof als Verletzung des Rechts auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter oder vor dem Verwaltungsgerichtshof als Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes geltend gemacht werden. Eine Relevanzdarstellung ist nicht erforderlich.
19 Da das erkennende Gericht somit nicht in der gesetzmäßigen, nach § 20 Abs. 2 AsylG 2005 vorgeschriebenen Besetzung entschieden hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes aufzuheben.
20 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 27. Juni 2016
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