Normen
ASVG §101;
ASVG §203;
ASVG §204;
AVG §37;
AVG §68 Abs1;
ASVG §101;
ASVG §203;
ASVG §204;
AVG §37;
AVG §68 Abs1;
Spruch:
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund (Bundesministerin für Arbeit, Gesundheit und Soziales) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von S 12.500,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Mit dem - unangefochten in Rechtskraft erwachsenen - Bescheid vom 9. April 1980 lehnte die Beschwerdeführerin die Gewährung einer Rente an die Mitbeteiligte aus Anlaß von deren Arbeitsunfall vom 23. September 1978 gemäß § 203 ASVG ab. In der Begründung wurde nach Wiedergabe des ersten Halbsatzes des § 203 Abs. 1 ASVG folgendes ausgeführt:
"Bei den durchgeführten fachärztlichen Untersuchungen wurde festgestellt, daß nach Kopfverletzung, außer subjektiven Beschwerden, keine wesentlichen Unfallfolgen mehr bestehen. Ihre Erwerbsfähigkeit ist durch Unfallfolgen um 10 v.H. vermindert."
Über Antrag der Mitbeteiligten vom 15. September 1987 lehnte die Beschwerdeführerin mit Bescheid vom 7. Dezember 1987 neuerlich die Gewährung einer Rente wegen der Folgen des Arbeitsunfalles vom 23. September 1978 mit der Begründung ab, es sei keine wesentliche Änderung eingetreten. Mit der dagegen erhobenen Klage an das Landesgericht als Arbeits- und Sozialgericht Feldkirch hatte die Mitbeteiligte insoweit Erfolg, als die Beschwerdeführerin verpflichtet wurde, ihr vom 15. September 1987 bis 21. September 1988 eine Versehrtenrente im Ausmaß von 20 v.H. zu gewähren. Das Gericht habe aufgrund eines Ergänzungsgutachtens von Dr. K. festgestellt, daß eine Verschlechterung eingetreten sei und im genannten Zeitraum eine Minderung der Erwerbsfähigkeit im Ausmaß von 20 v.H. vorgelegen sei.
Mit Bescheid vom 18. September 1996 lehnte die Beschwerdeführerin den (in den vorgelegten Akten nicht einliegenden) Antrag der Mitbeteiligten vom 13. August 1996 auf rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes bei Geldleistungen bezüglich des Bescheides vom 9. April 1980 gemäß § 101 ASVG, soweit er sich auf den Zeitraum vom 1. Oktober 1978 bis 14. September 1987 bezieht, ab, soweit sich der Antrag auf die Zeit ab 15. September 1987 bezieht, zurück. In der Begründung wurde ausgeführt, daß bei der seinerzeitigen Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit sämtliche Unfallsfolgen berücksichtigt worden seien. Es sei eine ausgewogene Einschätzung der kausalen Verletzungsfolgen erfolgt. Diese sei zusammenfassend durch das Votum des Chefarztes vom 20. März 1980 erfolgt. Ein wesentlicher Irrtum über den Sachverhalt oder ein offenkundiges Versehen liege daher nicht vor.
Über den von der mitbeteiligten Partei erhobenen Einspruch entschied die im Devolutionsweg zuständig gewordene Bundesministerin für Arbeit, Gesundheit und Soziales (die belangte Behörde) mit dem nunmehr vor dem Verwaltungsgerichtshof angefochtenen Bescheid dahingehend, daß ihm für die Zeit vom 1. Oktober 1978 bis 14. September 1987 gemäß § 66 Abs. 4 AVG Folge gegeben und festgestellt wurde, daß der Bescheid der Beschwerdeführerin vom 9. April 1980 betreffend die Ablehnung einer Versehrtenrente gemäß § 101 ASVG behoben werde. Der weitere, sich auf die Zeit ab 15. September 1987 beziehende Bescheidabspruch ist nicht Gegenstand dieses Beschwerdeverfahrens.
In der Begründung führte die belangte Behörde nach Darstellung des Verwaltungsgeschehens und Wiedergabe des § 101 ASVG folgendes aus:
Die Mitbeteiligte habe am 23. September 1978 bei einem Betriebsausflug mit einem Pferdefuhrwerk einen Unfall mit schweren Verletzungen erlitten. Dieser Unfall sei als Arbeitsunfall anerkannt worden. Die Beschwerdeführerin habe mit Bescheid vom 9. April 1980 die Gewährung einer Rente abgelehnt, weil die Erwerbsfähigkeit nicht um wenigstens 20 % gemindert sei. Es sei im wesentlichen die Frage zu prüfen, ob der Bescheid der Beschwerdeführerin vom 9. April 1980 auf einem wesentlichen Irrtum über den Sachverhalt beruhe. Der genannte Bescheid stütze sich in der Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit auf das erste Rentengutachten des Primarius S. vom 11. März 1980, der zusammenfassend folgendes feststelle:
"Kosmetische Entstellung und verstärkte Beschwerden seitens des Kieferköpfchens links seit dem Unfall St.p. frontobasale Fraktur, wahrscheinlich dauernd St.p. multiple Kieferfrakt. Herabsetzung der Erwerbsfähigkeit 10 %."
Im Befund würde noch angeführt:
"Reizlos verheilte Narben nach Augenbrauenrandschnitt beidseits, verbunden zu einem Brillenbügelschnitt. Die Narbe im Bereich der Nasenwurzel kosmetisch sichtbar. Die Lidspalte am rechten Auge weiter als links. Die Nase beidseits innen frei. Keine Behinderung der Nasendurchgängigkeit. Geruchsvermögen vorhanden. Das rechte Auge steht etwas tiefer. Die Nase zeigt kein Sekret, jedenfalls ist kein Hinweis für eine Liquorrhoe der Duraverschluß ist klinisch dicht."
Dieses erste Rentengutachten sei ergänzt worden von Dr. P., Kieferchirurgie, wie folgt:
"Die Occlusion laut Aussage der jungen Patientin wie vor dem Unfall. Es besteht jedoch eine Fehlstellung im gesamten Kieferbereich, die jedoch wahrscheinlich schon vor dem Unfall bestanden hat. Am linken Kiefergelenk deutliches Kiefergelenksknacken. Diese Knacken und die Neigung zur Arthrosenbildung im Kiefergelenk kann durch die Fehlstellung als auch auf den Unfall zurückzuführen sein. Ein Übungsprogramm für Lockerungsübungen der Kaumuskulatur wurde mitgegeben."
Der Bescheid vom 9. April 1980 der Beschwerdeführerin stütze sich auch auf das Gutachten des Univ.Prof. Dr. S., Facharzt für Nerven- und Gemütskrankheiten vom 4. Februar 1980.
Darin finde sich der Befund:
"17-jähriges, gesund aussehendes Mädchen, zarte, reaktionslose OP-Narben über der Nasenwurzel und beidseits lateral vom Augenwinkel, linke Gesichtshälfte leicht eingedellt (Jochbeinfraktur), Hirnnerven o.B., auch übriger neurologischer Befund unauffällig. Keine sichere Geruchsstörung."
Eine Besserung der noch bestehenden Unfallfolgen werde bejaht, die Unfallsfolgen würden die Erwerbsfähigkeit um 10 % herabsetzen.
Im augenärztlichen Gutachten vom 20. Februar 1980 seien zusammenfassend die kausalen Unfallsfolgen dargestellt worden wie folgt:
"Augen vollkommen normal, keine Unfallfolgen an den Augen feststellbar."
Die Einschätzung der kausalen Unfallsfolgen sei zusammenfassend durch den Chefarzt am 20. März 1980 erfolgt, die Minderung der Erwerbsfähigkeit sei mit 10 % festgestellt worden.
Im Verfahren vor dem "Arbeits- und Sozialgericht Feldkirch" seien weitere Gutachten und ärztliche Stellungnahmen eingeholt worden. In der Nachuntersuchung durch Dr. P. vom 5. November 1987 sei außer den Narben festgestellt worden, daß der rechte Jochbeinkörper vom Jochbogen ca. 0,5 cm prominenter als der linke sei. Bei Mundöffnung Knacken in beiden Kiefergelenken. Die Occlusion im Bereich 13 sei ca. 1 mm offen. Normästhesie im Bereich V1, V2, V3 beidseits. Primarius Dr. S., HNO, habe ergänzend festgestellt: "Septumdeviation links, hinterer Anteil mit offenbar Mundatmung."
Laut ärztlicher Bescheinigung vom 22. Mai 1987 der Klinik am Rosenberg, plastische und Wiederherstellungschirurgie, Gesichtschirurgie, HNO, sei zu diesem Zeitpunkt folgendes festgestellt worden:
"Nach der auswärts durchgeführten Rekonstruktion des tränenableitenden Systems besteht jetzt ein verstrichener rechter medianer Lidwinkel. Außerdem sieht man deutlich die Impression der linken Gesichtshälfte mit Schrägstellung des Unterkiefers, der traumatisch außerordentlich deformiert ist. Die Kaubewegung ist nicht wesentlich eingeschränkt, jedoch leidet die Patientin außerordentlich stark unter der entstellenden Deformität. Eine operative Rekonstruktion des gesamten Gesichtsbereiches ist ärztlicherseits dringend erforderlich, um der Patientin die deutlich sichtbaren Stigma des Unfalls zu nehmen. Es besteht außerdem ein starker Überbiß mit Exponierung der vorderen Schneidezähne, die austrocknen, weil die Lippe diese nicht mehr bedecken kann. Hier besteht auch die Gefahr weiterer Kariesbildung und Zahnverlust. Die Zurückversetzung des Oberkiefersegmentes ist daher notwendig."
Im Gutachten des Dr. Walter K. vom 19. November 1988, erstellt für das Landesgericht Feldkirch, sei in der Zusammenfassung folgendes festgehalten worden:
- "1. Die Begründung für den Bescheid der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt vom 9.4.1980: "Bei den durchgeführten fachärztlichen Untersuchungen wurde festgestellt, daß nach Kopfverletzung außer subjektiven Beschwerden, keine wesentlichen Unfallfolgen mehr bestehen" ist nicht aufrechtzuerhalten.
- 2. Eine Verschlechterung der Unfallfolgen im Bereich der Gelenksfunktionen beider Kiefergelenke in der Zeit von 1980 bis zum 15.9.1987 ist als sicher anzunehmen. Die von der Patientin angegebenen Kopfschmerzen können sowohl direkte Unfallfolge als auch Folge der zunehmenden Störung der Kiefergelenksfunktion sein."
In diesem Gutachten werde festgehalten, daß die Fehlstellung des Unterkiefers unzweifelhaft Folge des Unfalls sei. Weiters werde darauf hingewiesen, daß die "kosmetische Entstellung seitens des Kieferköpfchens" keineswegs die einzige kosmetische Entstellung sei und daß es sich nicht nur um eine kosmetische Entstellung handle, sondern daß durch die Kieferköpfchenfraktur eine funktionelle Störung in beiden Kiefergelenken provoziert werde. Es werde auch darauf hingewiesen, daß die ärztliche Bestätigung der Klinik am Rosenberg vom 22. Mai 1987 eine Jochbeinfraktur links mit Impression der Kieferhöhle links mit Höherdrücken des linken Auges feststelle samt einen verstrichenen medianen Lidwinkel nach Rekonstruktion des Tränenkanalsystems. Dem gegenüber sei im augenärztlichen Rentengutachten diesbezüglich keine Erwähnung enthalten, das erste Rentengutachten Prim. S., Dr. P. erwähne "Tränen des Auges rechts".
Univ.Prof. Gabriel R. habe im Gutachten vom 29. Oktober 1996 arthrosis deformans des linken Kiefergelenkes mit Beteiligung des rechten Kiefergelenkes sowie Deformierung des rechten nasenseitigen Lidwinkels festgestellt. Weiters werde in diesem Gutachten ausgeführt, daß die bestehende Kiefergelenksarthrose eindeutig unfallkausal sei.
Die Gutachten des Dr. Walter K., des Univ.Prof. Gabriel R. sowie die Stellungnahme der Klinik am Rosenberg würden sich nach Auffassung der belangten Behörde als mit größerer Sorgfalt erstellt und umfangreicher darstellen als jene, die dem Bescheid der Beschwerdeführerin vom 9. April 1980 zugrundegelegt worden seien. Die genannten Gutachten und Stellungnahmen würden die Unfallsfolgen eingehend darstellen. Sie seien daher bei der Beurteilung der Frage, ob bei der Erlassung des Bescheides der Beschwerdeführerin vom 9. April 1980 ein wesentlicher Irrtum über den Sachverhalt festzustellen sei, heranzuziehen.
Die (belangte) Behörde stelle zusammenfassend fest, daß bei der Begutachtung anläßlich des gegenständlichen Bescheides vom April 1980 zu Unrecht festgestellt worden sei, daß nur subjektive Beschwerden vorliegen, an den Augen keine Unfallsfolgen feststellbar wären und die Unfallfolgen im Kieferbereich "wahrscheinlich schon vor dem Unfall bestanden hätten". Wie sich aus den nachträglich eingeholten und zitierten Gutachten ergebe, seien diese für die Beurteilung der Minderung der Erwerbsfähigkeit wesentlichen Feststellungen zu Unrecht ergangen. Damit sei ein wesentlicher Irrtum über den Sachverhalt festzustellen. Im vorliegenden Fall habe eine Mehrzahl von medizinischen Sachverständigen andere Feststellungen getroffen als jene, die dem Bescheid vom Mai 1980 zugrundeliegen. Es seien dies im wesentlichen Feststellungen über die Unfallsfolgen im Bereich des Lidwinkels und des Kiefers. Hinsichtlich der Beeinträchtigungen im Kiefer sei im übrigen die Unfallskausalität verneint worden, während die späteren Gutachten diese ohne Zweifel bejahten. Damit sei festzustellen, daß bei der Feststellung der Minderung der Erwerbsfähigkeit nicht jenen Unfallfolgen Rechnung getragen worden sei, die tatsächlich zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung vorgelegen seien. Der Beschwerdeführerin werde aufgetragen, den gesetzlichen Zustand nach Beseitigung des Irrtums über den Sachverhalt herzustellen.
Gegen diesen (den Zeitraum vom 1. Oktober 1978 bis 14. September 1987 betreffenden) Bescheidabspruch richtet sich die vorliegende Beschwerde mit dem Begehren, ihn wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes bzw. Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften kostenpflichtig aufzuheben.
Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und beantragte die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde als unbegründet. Von der Erstattung einer Gegenschrift wurde Abstand genommen.
Die mitbeteiligte Partei erstattete eine Gegenschrift, in der sie die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde als unbegründet beantragt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Vorweg ist festzuhalten, daß entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin der Umstand, daß die mitbeteiligte Partei den Bescheid der Beschwerdeführerin vom 9. April 1980 unbekämpft in Rechtskraft erwachsen ließ, einer rückwirkenden Herstellung des gesetzlichen Zustandes gemäß § 101 ASVG nicht entgegensteht, stellt doch diese Bestimmung gerade eine Durchbrechung der Rechtskraft (ohne die strengen Voraussetzungen des § 69 AVG) dar.
Die Beschwerdeführerin meint, daß die im gegenständlichen Fall zu prüfende Frage eines wesentlichen Irrtums über den Sachverhalt oder eines offenkundigen Versehens nach § 101 ASVG auf den Erwerbsschaden im Sinne des § 203 Abs. 1 ASVG zu beziehen sei und nicht etwa auf immaterielle Schäden. Ein Irrtum sei daher nur dann wesentlich, wenn er sich auf die Höhe des Geldleistungsanspruches eines Versicherten auswirke. Nach der Aktenlage sei tatsächlich eine Verschlechterung der Unfallfolgen eingetreten, wodurch nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. K. die Minderung der Erwerbsfähigkeit sodann, nämlich auf Grundlage und nach der eingetretenen Verschlechterung, mit 20 v.H. anzusetzen gewesen sei. Wenn sich aber auch nach einer Verschlimmerung der Unfallfolgen die Minderung der Erwerbsfähigkeit lediglich auf das gerade rentenbegründende Ausmaß von 20 v.H. belaufe, dann könne der Beschwerdeführerin zuvor kein wesentlicher Irrtum unterlaufen sein. Die Mitbeteiligte hätte nämlich zuvor, nämlich vor der eingetretenen Verschlechterung, jedenfalls keinen Leistungsanspruch gehabt.
Nach der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts (vgl. die hg. Erkenntnisse vom 23. April 1996, Zl. 95/08/0006, vom 22. Oktober 1996, Zl. 96/08/0057, und vom 18. März 1997, Zl. 96/08/0079, mit Hinweisen auf die Judikatur des Verfassungsgerichtshofes) ist die Entscheidung, ob der gesetzliche Zustand wegen eines wesentlichen Irrtums über den Sachverhalt oder eines offenkundigen Versehens herzustellen ist, eine Verwaltungssache, die Herstellung dieses Zustandes selbst hingegen eine Leistungssache. Demgemäß hat sich der mit Einspruch angerufene Landeshauptmann (hier im Devolutionswege die belangte Behörde) auf die Frage der Zulässigkeit der Herstellung des gesetzlichen Zustandes (die auch dann zu verneinen sei, wenn kein wesentlicher Irrtum über den Sachverhalt und kein offenkundiges Versehen vorliege) zu beschränken und dem Sozialversicherungsträger bejahendenfalls die Herstellung, und d.h. die Erlassung eines neuen Leistungsbescheides aufzutragen. Ein stattgebender, den Auftrag zur Herstellung des gesetzlichen Zustandes aussprechender Bescheid der Einspruchsbehörde beseitigt den abzuändernden Bescheid (vgl. das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 25. Juni 1994, K I-5/93); die belangte Behörde hat daher - ausgehend von ihrer Auffassung, es lägen die Voraussetzungen des § 101 ASVG vor - den Bescheid der Beschwerdeführerin vom 9. April 1980 im Interesse der Klarheit des Spruches zu Recht ausdrücklich behoben.
Die Voraussetzungen, unter denen ein Irrtum über den Sachverhalt als wesentlich im Sinne des § 101 ASVG anzusehen ist, wurden in der Literatur wiederholt erörtert. Nach Snasel (in Versicherungsrundschau 1959, 56 ff) ist ein Sachverhaltsirrtum als wesentlich dann anzusehen, wenn das Vorliegen des Irrtums für die rechtliche Beurteilung des Leistungsanspruches von Bedeutung ist. Traindl (in Soziale Sicherheit 1960, 182 ff) hat hiezu ausgeführt, daß ein Sachverhaltsirrtum wesentlich oder unwesentlich sein könne, je nachdem, ob er sich auf ein wesentliches oder unwesentliches Merkmal beziehe. Die Abänderung eines Bescheides sei nach den Vorschriften des ASVG somit dann vorzunehmen, wenn ein wesentliches Merkmal des der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhaltes von einem Irrtum betroffen wurde. Nach Stolzlechner (Probleme des Irrtums im Leistungsrecht der Sozialversicherung in DRdA 1986, 288 ff) ist ein Irrtum über den Sachverhalt dann wesentlich, wenn von ihm Auswirkungen auf die Lösung der Rechtsfrage zu erwarten sind.
Im vorliegenden Fall wurde der Anspruch der Mitbeteiligten auf Gewährung einer Versehrtenrente abgewiesen. Gemäß § 203 Abs. 1 ASVG besteht "Anspruch auf Versehrtenrente, wenn die Erwerbsfähigkeit des Versehrten durch die Folgen eines Arbeitsunfalles ... über drei Monate nach dem Eintritt des Versicherungsfalles hinaus um mindestens 20 v.H. vermindert ist; die Versehrtenrente gebührt für die Dauer der Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 v.H.". Die belangte Behörde durfte sich daher in der Begründung ihres Bescheides nicht mit der Feststellung begnügen, daß bestimmte, der Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit zugrundezulegende Momente infolge eines Irrtums der Beschwerdeführerin zu Unrecht bei Erlassung des Bescheides vom 9. April 1980 nicht berücksichtigt worden seien. Vielmehr hätte sie darüber hinaus festzustellen gehabt, ob die Berücksichtigung dieser Momente im Zusammenhang mit dem im seinerzeitigen Bescheid angenommenen Sachverhalt den Anspruch auf Versehrtenrente begründet, also insgesamt eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 v.H. bewirkt hätte. Erst diesfalls - ohne daß damit über die Leistung als solche abgesprochen würde - wäre die Entscheidung begründet, daß der gesetzliche Zustand wegen eines wesentlichen Irrtums über den Sachverhalt herzustellen ist.
Die belangte Behörde hat demgegenüber aber lediglich aufgrund der von ihr ins Treffen geführten Sachverständigengutachten festgestellt, daß die Beschwerdeführerin beim Ablehnungsbescheid vom 9. April 1980 objektivierbare Unfallsfolgen infolge eines Irrtums nicht berücksichtigt hat. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin sind freilich diese Feststellungen der belangten Behörde Ergebnis eines mängelfreien Verfahrens:
Die Beschwerdeführerin hat in ihrem Bescheid vom 9. April 1980 ausgeführt, daß festgestellt worden sei, außer subjektiven Beschwerden würden keine wesentlichen Unfallsfolgen mehr bestehen. Von welchen tatsächlich vorhandenen Unfallsfolgen und deren Auswirkungen auf die Erwerbsfähigkeit der Mitbeteiligten die Beschwerdeführerin ausging, kann diesem Bescheid keinesfalls entnommen werden. Der von der belangten Behörde vorgenommene Rückgriff auf die im Akt in Fotokopie erliegenden ersten Rentengutachten zeigt, daß die Unfallsfolgen bei der Mitbeteiligten keinesfalls umfassend und ausreichend festgestellt wurden. Demgemäß kann auch nicht von einer medizinisch ausgewogenen Einschätzung der Unfallsfolgen gesprochen werden, zumal letztere nirgends ausdrücklich zusammenfassend dargestellt wurden. Nach dem ersten Rentengutachten vom 11. März 1980, erstellt durch den Primarius S. und den Oberarzt Dr. P., wurde die Minderung der Erwerbsfähigkeit mit 10 v.H. eingeschätzt, wobei die Verletzungsfolgen mit kosmetische Entstellung und verstärkte Beschwerden seitens des Kieferköpfchens links umschrieben wurden. Im kieferchirurgischen Teil des Gutachtens wurde ausgeführt, daß eine Fehlstellung im gesamten Kieferbereich besteht, die jedoch wahrscheinlich schon vor dem Unfall bestanden habe. Weiters wurde ausgeführt, daß am linken Kiefergelenk ein deutliches Kiefergelenksknacken besteht. Dieses Knacken und die Neigung zur Arthrosebildung im Kiefergelenk könne nach diesen Ausführungen durch die Fehlstellung als auch auf den Unfall zurückzuführen sein.
Eine Begründung dafür, daß die Fehlstellung des gesamten Kieferbereiches und die daraus entstehenden Folgen bereits vor dem Unfall vorgelegen hätten, fehlt zur Gänze. Nach den von der belangten Behörde herangezogenen ärztlichen Sachverständigengutachten und ärztlichen Stellungnahmen sind jedoch die Kieferköpfchenfraktur rechts und die funktionellen Störungen eindeutig und ausschließlich eine Unfallsfolge. Dies wurde im genannten ersten Rentengutachten vom 11. März 1980 im beschreibenden Teil offengelassen. Die Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit nennt lediglich verstärkte Beschwerden seitens des Kieferköpfchens links, sodaß möglicherweise nur die vor dem Unfall bestehenden Beschwerden aufgrund der Fehlstellung eine Verstärkung erfuhren und lediglich die Verstärkung allein zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 10 v.H. führte. Demgegenüber sind nach dem angefochtenen Bescheid die gesamten funktionellen Störungen in beiden Kiefergelenken eine Unfallfolge und nicht nur eine Verstärkung von zuvor bestehenden Störungen. Dazu kommt, daß in den vor Erlassung des Bescheides vom 9. April 1980 eingeholten Gutachten eine unfallskausale Verletzung des Tränenkanalsystems rechts nicht aufscheint.
Nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes reicht für den vorliegenden Fall, in dem die Gewährung einer Versehrtenrente strittig ist, aber die Feststellung nicht aus, daß der Irrtum Unfallfolgen betrifft, die bei der Einschätzung der Minderung der Erwerbsfähigkeit zu berücksichtigen gewesen wären. Vielmehr muß nach den obigen Ausführungen festgestellt werden, daß die zu Unrecht nicht berücksichtigten Unfallfolgen und deren Auswirkungen im Zusammenhang mit den allenfalls bereits unstrittigen Unfallsfolgen im Ablehnungsbescheid den Anspruch auf Versehrtenrente begründet hätten. Die belangte Behörde hätte daher ausgehend von den Unfallsfolgen und deren Auswirkungen den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit der Mitbeteiligten im Zeitraum vom frühestmöglichen Leistungsbeginn (§ 204 ASVG) bis zum 9. April 1980 durch ein ärztliches Gutachten ermitteln müssen (vgl. OGH vom 2. Dezember 1987, 9 Ob S 23/87 in SSV N.F. 1/64). Sollte eine Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 20 v.H. erst nach der Erlassung des Bescheides vom 9. April 1980 eingetreten sein, so läge ein Fall des § 101 ASVG in Ansehung des Bescheides vom 9. April 1980 nicht vor.
Da die belangte Behörde solche Feststellungen nicht traf, belastete sie ihren Bescheid mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben war.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG i.V.m. der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994. Stempelgebühren konnten zufolge der Gebührenbefreiungsbestimmung des § 110 Abs. 1 Z. 2 lit. a ASVG nicht zuerkannt werden.
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