VwGH 2013/22/0199

VwGH2013/22/01993.10.2013

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des A, vertreten durch Mag. Hubert Wagner, Rechtsanwalt in 1130 Wien, Wattmanngasse 8/5, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom 18. Juni 2013, Zl. 148.704/6- III/4/12, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:

Normen

MRK Art8 Abs2;
MRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §41a Abs9 Z2;
NAG 2005 §41a Abs9;
VwGG §42 Abs2 Z1;
MRK Art8 Abs2;
MRK Art8;
NAG 2005 §11 Abs3;
NAG 2005 §41a Abs9 Z2;
NAG 2005 §41a Abs9;
VwGG §42 Abs2 Z1;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers, eines türkischen Staatsangehörigen, ihm aus humanitären Gründen einen Aufenthaltstitel zu erteilen, gemäß § 41a Abs. 9 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab.

Begründend führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer sei mit einem Visum "C", gültig vom 17. September 2001 bis 24. September 2001, in das Bundesgebiet eingereist und nach Ablauf der Gültigkeit des Visums in Österreich geblieben. Am 9. Oktober 2001 habe er einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung als Student gestellt. Mit Bescheid vom 24. Juli 2003 sei gegen ihn ein auf fünf Jahre befristetes Aufenthaltsverbot erlassen worden, weil er zwecks Erschleichung einer Aufenthaltsberechtigung gefälschte Studienunterlagen vorgelegt habe. Sein damals gestellter Antrag sei in der Folge wegen des Aufenthaltsverbotes mit Bescheid vom 30. Dezember 2003 abgewiesen worden.

Am 22. Jänner 2004 habe der Beschwerdeführer eine österreichische Staatsbürgerin geheiratet und am 9. April 2004 einen Antrag auf Erteilung einer Erstniederlassungsbewilligung für den Aufenthaltszweck "begünstigter Drittstaatsangehöriger" gestellt. Dieser Antrag sei mit Bescheid vom 6. April 2006 - ebenfalls wegen des Bestehens des Aufenthaltsverbotes - abgewiesen worden. Über Antrag des Beschwerdeführers sei das Aufenthaltsverbot letztlich von der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich mit Bescheid vom 7. Juli 2006 aufgehoben worden.

Daraufhin habe der Beschwerdeführer am 3. November 2006 einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens betreffend die Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" gestellt. Dieser Antrag sei von der Bezirkshauptmannschaft B mit Bescheid vom 20. Dezember 2006 abgewiesen worden. Die dagegen erhobene Berufung habe der Bundesminister für Inneres mit Bescheid vom 24. August 2007 abgewiesen. Der Verwaltungsgerichtshof habe die dagegen eingebrachte Beschwerde mit Erkenntnis vom 24. Oktober 2007, Zl. 2007/21/0383, als unbegründet abgewiesen.

Mit Bescheid vom 8. August 2007 habe die Bezirkshauptmannschaft B den Beschwerdeführer aus dem Bundesgebiet ausgewiesen. Einer Berufung sei mit Bescheid vom 14. Jänner 2008 keine Folge gegeben worden. Der Verwaltungsgerichtshof habe die dagegen erhobene Beschwerde mit Erkenntnis vom 5. Juli 2011, Zl. 2008/21/0126, als unbegründet abgewiesen.

Am 26. September 2011 habe der Beschwerdeführer den hier gegenständlichen Antrag auf Erteilung einer "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" nach § 41a Abs. 9 NAG eingebracht. Im Verfahren erster Instanz habe er (ua.) die Heiratsurkunde, einen für seine (nunmehrige) Ehefrau (eine türkische Staatsangehörige) ausgestellten Befreiungsschein, die Geburtsurkunde des gemeinsamen Kindes sowie eine "Kindergartenbestätigung", Lohnabrechnungen der Gärtnerei P vom Juli 2011 bis September 2011, einen "Abrechnungsbeleg" der Ehefrau vom August 2011, den Mietvertrag sowie eine Einzahlungsbestätigung betreffend die Miete, seine "ecard", ein "Prüfungszeugnis für Deutschtest auf dem Niveau 'A2'" und einen arbeitsrechtlichen Vorvertrag vorgelegt. Er habe zudem vorgebracht, geheiratet und eine Familie gegründet zu haben sowie seit dem Jahr 2004 bei der Gärtnerei P zu arbeiten. Ohne ihn wäre seine Ehefrau armutsgefährdet. Infolge seiner regelmäßigen Erwerbstätigkeit, der verantwortungsbewussten Beziehung zur Tochter, der Unbescholtenheit und der Deutschkenntnisse wäre bewiesen, dass öffentliche Interessen des Staates nicht gefährdet wären.

Nach Wiedergabe der maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen und Rechtssätzen aus der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, des Verfassungsgerichtshofes und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte führte die belangte Behörde fallbezogen - auf das hier Wesentliche zusammengefasst - in ihrer rechtlichen Beurteilung aus, die vom Beschwerdeführer ins Treffen geführten integrationsbegründenden Umstände seien bei einer Gesamtbetrachtung nicht von einem solchen Gewicht, dass unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK die Erteilung des begehrten Aufenthaltstitels geboten sei. Einmal habe er sogar versucht, sich einen Aufenthaltstitel zu erschleichen. Er habe zu keinem Zeitpunkt über eine Aufenthaltsberechtigung verfügt und nicht damit rechnen dürfen, sich in Österreich in erlaubter Weise auf Dauer niederlassen zu dürfen. Der langjährige Aufenthalt des Beschwerdeführers sei allein ihm zuzurechnen. Er habe auch von vornherein nicht damit gerechnet, "'auf rechtmäßigem Weg' einen Aufenthaltstitel zu erlangen". Auch zum Zeitpunkt der Geburt seiner Tochter (am 10. Jänner 2008) habe er sich unrechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid gerichtete Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen:

Eingangs ist festzuhalten, dass sich die Beurteilung des gegenständlichen Falles im Hinblick auf den Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides (20. Juni 2013) nach den Bestimmungen des NAG in der Fassung des BGBl. I Nr. 68/2013 richtet.

Der Beschwerdeführer wendet sich gegen den angefochtenen Bescheid mit dem Hinweis auf seine weitgehende Integration. Dazu verweist er auf seinen seit zwölf Jahren dauernden Aufenthalt im Inland, das Familienleben mit seiner Ehefrau und seiner fünfjährigen Tochter, seine "Arbeit in einer Gärtnerei", seine Unbescholtenheit, das Vorliegen eines "ordentlichen" Wohnsitzes und die Einstellungszusage für die (weitere) Tätigkeit "auf seinem alten Arbeitsplatz".

Dieses Vorbringen führt die Beschwerde zum Erfolg.

Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist gemäß § 41a Abs. 9 NAG von Amts wegen (§ 44a NAG) oder auf begründeten Antrag (§ 44b NAG), der bei der örtlich zuständigen Behörde im Inland einzubringen ist, ein Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" zu erteilen, wenn kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, Z 2 oder Z 4 NAG vorliegt (Z 1), dies gemäß § 11 Abs. 3 NAG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist (Z 2) und der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung (§ 14a NAG) erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine Erwerbstätigkeit ausübt (Z 3).

Die belangte Behörde geht - indem sie bei ihrer Beurteilung den während des Aufenthalts des Beschwerdeführers gegebenen unsicheren Aufenthaltsstatus in den Vordergrund rückt - davon aus, im vorliegenden Fall sei die Voraussetzung des § 41a Abs. 9 Z 2 NAG nicht erfüllt. Dem kann nicht beigepflichtet werden.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung darauf hingewiesen, dass es zwar zutrifft, dass den die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Normen aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung - und damit eines von Art. 8 Abs. 2 EMRK erfassten Interesses - ein hoher Stellenwert zukommt. Demgegenüber wurde in der bisherigen Judikatur aber auch bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden wiederholt von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich und damit von einer Unverhältnismäßigkeit einer auf einen bloß unrechtmäßigen Aufenthalt gestützten Aufenthaltsbeendigung ausgegangen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden ausnahmsweise solche Aufenthaltsbeendigungen auch nach so einem langen Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. etwa das zu einer Rückkehrentscheidung ergangene hg. Erkenntnis vom 19. Juni 2012, Zl. 2012/18/0027, sowie das darin zitierte hg. Erkenntnis vom 30. August 2011, Zl. 2008/21/0605, mit zahlreichen Nachweisen zur Rechtslage vor dem FrÄG 2011, sowie das hg. Erkenntnis vom 12. Dezember 2012, Zl. 2012/18/0100; zur Relevanz dieser Rechtsprechung auch für das Verfahren zur Erteilung eines Aufenthaltstitels vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom 29. Mai 2013, Zlen. 2011/22/0133 und 0134, sowie vom 9. September 2013, Zl. 2013/22/0161).

Der Beschwerdeführer hält sich seit dem 17. September 2001 im Bundesgebiet auf; die Dauer seines Aufenthaltes im Inland beträgt somit - anders als zur Zeit der gegen ihn Anfang 2008 erlassenen Ausweisung - zum hier relevanten Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides bereits 11 3/4 Jahre. Schon aufgrund der behördlichen Ausführungen - die belangte Behörde ist erkennbar von der Richtigkeit des Vorbringens des Beschwerdeführers ausgegangen und hat dieses ihrer Entscheidung als tatsächlich gegeben zugrunde gelegt - zum seit vielen Jahren bestehenden Familienleben mit seiner Ehefrau und seiner Tochter, die beide zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt sind, zu der bisherigen und auch weiterhin in Aussicht genommenen Berufstätigkeit, zu der Unbescholtenheit und zu den Deutschkenntnissen des Beschwerdeführers ist davon auszugehen, dass er die Zeit seines Aufenthaltes genutzt hat, um seine Integration mit Erfolg voranzutreiben. Das (gänzliche) Fehlen einer Integration hat im Übrigen auch die belangte Behörde nicht angenommen. Somit kann - auf dem Boden der oben wiedergegebenen Rechtsprechung - die Auffassung der belangten Behörde, der Beschwerdeführer könnte keinen aus Art. 8 EMRK resultierenden Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels geltend machen, vom Verwaltungsgerichtshof nicht geteilt werden.

Am Überwiegen der privaten Interessen des Beschwerdeführers vermag fallbezogen auch das von der belangten Behörde erwähnte früher gegen ihn erlassene Aufenthaltsverbot nichts zu ändern. Eine von ihm weiterhin für die Aufrechterhaltung des Aufenthaltsverbotes ausgehende maßgebliche Gefährdung wurde schon im Jahr 2006 von der nach dem Fremdenpolizeigesetz 2005 zuständigen Behörde als nicht mehr gegeben erachtet und dementsprechend das Aufenthaltsverbot aufgehoben. Dass fallbezogen mit Blick auf das dem Aufenthaltsverbot ursprünglich zugrunde gelegte Fehlverhalten des Beschwerdeführers Gründe vorhanden gewesen wären, die (allenfalls: trotz der mittlerweile vergangenen Zeit immer noch) die Eignung gehabt hätten, das öffentliche Interesse in einem solchen Ausmaß zu vergrößern, dass es (immer noch) gerechtfertigt gewesen wäre, dem Beschwerdeführer die Erteilung des begehrten Aufenthaltstitels zu verweigern, ist vor dem Hintergrund der behördlichen Feststellungen nicht ersichtlich.

Sohin war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Von der Durchführung der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4, 5 und 6 VwGG abgesehen werden.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Wien, am 3. Oktober 2013

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