VwGH 2012/22/0129

VwGH2012/22/012910.12.2013

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, den Hofrat Dr. Robl, die Hofrätin Mag. Merl und die Hofräte Dr. Mayr und Dr. Schwarz als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des O, vertreten durch die Rechtsanwaltsgemeinschaft Mory & Schellhorn OEG in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Salzburg vom 11. Juli 2012, Zl. UVS-8/10290/18-2012, betreffend Rückkehrentscheidung und Einreiseverbot, zu Recht erkannt:

Normen

FrPolG 2005 §52 Abs1 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §53 Abs1 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §61 idF 2011/I/038;
MRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;
FrPolG 2005 §52 Abs1 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §53 Abs1 idF 2011/I/038;
FrPolG 2005 §53 Abs1;
FrPolG 2005 §61 idF 2011/I/038;
MRK Art8 Abs2;
VwGG §42 Abs2 Z1;
VwRallg;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid erließ die belangte Behörde gegen den Beschwerdeführer, einen nigerianischen Staatsangehörigen, gemäß § 52 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG eine Rückkehrentscheidung und gemäß § 53 Abs. 1 und 2 leg. cit. ein auf 18 Monate befristetes Einreiseverbot.

Zur Begründung führte die belangte Behörde auf das Wesentliche zusammengefasst aus: Der Beschwerdeführer sei am 22. April 2002 illegal eingereist und habe noch am selben Tag einen Asylantrag gestellt. Dieser sei in erster Instanz mit Bescheid vom 25. April 2002 abgewiesen worden. Diese Entscheidung sei durch das Erkenntnis des Asylgerichtshofes am 29. September 2010 in Rechtskraft erwachsen. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers sei seither unrechtmäßig. Gegen den Beschwerdeführer sei wegen illegaler Einreise in die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2006 von deutschen Behörden ein Aufenthaltsverbot verhängt worden. Dieses sei zwischenzeitig aufgehoben worden.

Am 11. Mai 2011 habe der Beschwerdeführer die Erteilung einer beschränkten Niederlassungsbewilligung gemäß § 44 Abs. 3 NAG beantragt. Nach Abgabe einer Stellungnahme gemäß § 44b Abs. 2 NAG habe die Bundespolizeidirektion Salzburg eine Rückkehrentscheidung mit Einreiseverbot erlassen. Infolgedessen sei das Verfahren zur Gewährung einer Niederlassungsbewilligung eingestellt worden.

Der Beschwerdeführer halte sich nun mehr als zehn Jahre in Österreich auf. Seit mehreren Jahren sei er aktives Mitglied des B-Centers in S, eines gemeinnützigen Vereins, der sich als evangelische Freikirche mit der Verbreitung christlicher Werte und der Integration von Flüchtlingen und Asylwerbern in Österreich befasse. Dieser Freikirche gehöre der Beschwerdeführer bereits seit dem Jahr 2004 als sehr engagiertes Mitglied an. Deswegen sei er im Jahr 2008 in das Gemeindekomitee dieser Freikirche gewählt worden und verrichte im Verein darüber hinaus verschiedene Reparaturarbeiten an Elektrogeräten.

Nach eigenen Angaben weise der Beschwerdeführer einen intakten Freundeskreis auf und habe insgesamt 31 Unterstützungserklärungen vorgelegt. Er habe ein österreichisches Sprachdiplom "A2 Grundstufe Deutsch 2" übermittelt.

Er habe sich - seinen Angaben und der seines Vertreters zufolge - um die Aufnahme einer Beschäftigung bemüht, was nicht zuletzt "aufgrund der gesetzlichen Vorgaben, der arbeitsmarktbezogenen Gegebenheiten und der restriktiven Verwaltungspraxis" gescheitert sei. Seinen Lebensunterhalt habe der Beschwerdeführer von 2002 bis 2009 aus den Mitteln der Sozialhilfe sowie bis Dezember 2010 und ab April 2011 aus der Grundversorgung bestritten. Im Mai 2011 habe er nach eigenen Ausführungen eine "der Berufungsbehörde jedoch nicht näher belegte" Zusicherung eines L-Centers erhalten, um dort als selbständiger Zeitungszusteller tätig werden zu können.

Der Beschwerdeführer leide an einer chronischen Hepatitis B-Infektion. Deswegen habe er sich regelmäßigen engmaschigen medizinischen Kontrolluntersuchungen zu unterziehen.

Nach seinen Angaben weise er keinerlei Bindungen mehr zu seinem Heimatstaat Nigeria auf.

In rechtlicher Hinsicht folgerte die belangte Behörde, dass sich die integrationsmäßige Gewichtung der langjährigen rechtmäßigen Aufenthaltsdauer dadurch mindere, dass dieser Aufenthalt lediglich auf einem - wie sich im Asylverfahren herausgestellt habe - unberechtigten Asylantrag basiert habe.

Das bisherige Familienleben des Beschwerdeführers sei zur Gänze in Nigeria entstanden und es hätten sich während seines zehnjährigen Aufenthalts in Österreich keine "familiärverwandtschaftlichen Beziehungen" entwickelt. Durch Unterstützungserklärungen sei das Bestehen eines festen Bekanntenkreises bescheinigt worden, jedoch seien "kein Naheverhältnis bzw. keine tiefergehenden freundschaftlichen Bindungen, welche auf eine Verwurzelung in Österreich schließen lassen", nachgewiesen worden. Der Beschwerdeführer weise angesichts seines nunmehr über zehn Jahre langen Aufenthalts noch immer relativ geringe Sprachkenntnisse auf.

Auf Grund seiner Hepatitis B-Infektion habe sich der Beschwerdeführer lediglich Kontrolluntersuchungen zu unterziehen, eine Therapie sei bisher nicht erforderlich gewesen. Diese Krankheit könne auch in Nigeria behandelt werden, was meist mit hohen Kosten verbunden sei. Rückkehrer fänden vor allem in Großstädten ausreichende medizinische Versorgungsmöglichkeiten durch staatliche und private Krankenhäuser vor.

Der Beschwerdeführer sei während seines Aufenthalts in Österreich keiner Arbeit nachgegangen und habe seinen Lebensunterhalt bisher aus Mitteln der Sozialhilfe und der Grundversorgung für Asylwerber bestritten. Die vorgebrachte Zusage des L-Centers der S vom Mai 2011 habe mangels einer übermittelten schriftlichen Bestätigung nicht belegt werden können.

Der Beschwerdeführer sei zwar strafgerichtlich unbescholten, habe jedoch drei Verwaltungsübertretungen nach der StVO, dem KFG und wegen unrechtmäßigen Aufenthalts gemäß dem FPG begangen. Er habe nach seiner Aussage vor dem Asylgerichtshof telefonische Kontakte mit seiner Tochter im Heimatland gehabt. Dort sei zumindest im städtischen Bereich die Basisversorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln gewährleistet. Die massive Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch den knapp zweijährigen illegalen Aufenthalt wiege schwerer als die den Behörden zurechenbare lange Verfahrensdauer, die erst nach dem Zeitpunkt des bewusst unsicheren Aufenthalts entstandene Beziehung zur Freikirche, die Bekanntschaften zu deren Mitgliedern und zu Personen aus dem Alltagsleben, die Einstellungszusage im christlichen Verein bei Erfüllung der arbeitsmarktrechtlichen Voraussetzungen, die Bemühungen hinsichtlich der Erlernung der deutschen Sprache sowie die durchgeführten (gemeint wohl: durchzuführenden) medizinischen Kontrolluntersuchungen auf Grund der Hepatitis B-Infektion.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:

Zunächst ist anzumerken, dass angesichts der Zustellung des angefochtenen Bescheides im Juli 2012 die Bestimmungen des FPG idF BGBl. I Nr. 112/2011 anzuwenden sind.

Der Beschwerdeführer bestreitet nicht die behördliche Ansicht, dass er sich unrechtmäßig in Österreich aufhalte. Er verweist auch nicht auf eine Aufenthaltsberechtigung für Österreich, weshalb gegen die behördliche Ansicht, dass der Tatbestand für eine Rückkehrentscheidung verwirklicht sei, keine Bedenken bestehen.

Der Beschwerdeführer wendet sich aber mit Erfolg gegen die behördliche Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK iVm § 61 FPG. Demnach ist, wenn durch eine Rückkehrentscheidung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen wird, diese nur zulässig, wenn sie zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

Der vorliegende Fall ist dadurch gekennzeichnet, dass sich der Beschwerdeführer wegen der überlangen Dauer des Asylverfahrens in zweiter Instanz schon mehr als zehn Jahre im Bundesgebiet aufhält. Der Begründung des angefochtenen Bescheides ist nicht zu entnehmen, dass sich die belangte Behörde mit der hg. Rechtsprechung (vgl. etwa das Erkenntnis vom 2. Oktober 2012, 2012/21/0044) auseinandergesetzt hat, wonach bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden wiederholt von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich und damit von der Unverhältnismäßigkeit einer Ausweisung bzw. Rückkehrentscheidung ausgegangen wurde. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, seien derartige Ausweisungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig anzusehen.

Zu den integrationsbegründenden Umständen meint die belangte Behörde, dass der Beschwerdeführer "nur geringe Deutschkenntnisse" aufweise, stellt aber selbst fest, dass der Beschwerdeführer das österreichische Sprachdiplom auf der Stufe A2 bestanden hat, wodurch das Modul 1 der Integrationsvereinbarung erfüllt wurde (vgl. § 14 NAG iVm § 7 der Integrationsvereinbarungs-Verordnung BGBl. II Nr. 449/2005 idF BGBl. II Nr. 205/2011).

Hinsichtlich der Beschäftigungszusage führt die belangte Behörde im angefochtenen Bescheid aktenwidrig aus, dass diese Zusicherung nicht näher belegt worden sei. Im Verwaltungsakt erliegt jedoch die mit Schriftsatz vom 2. Juli 2012 vorgelegte Bestätigung der "S Logistikgesellschaft mbH & Co KG" vom selben Tag.

Der Beschwerdeführer ist zwar - worauf die belangte Behörde zutreffend hingewiesen hat - am österreichischen Arbeitsmarkt nicht integriert. Die belangte Behörde trat aber dem Berufungsvorbringen nicht entgegen, dass es im Raum S für Asylwerber auf Grund der ablehnenden Haltung des AMS S "schlichtweg unmöglich" sei, eine Beschäftigungsbewilligung zu erlangen.

Nach den behördlichen Feststellungen ist der Beschwerdeführer überdurchschnittlich in einer Kirchengemeinde engagiert und erhielt zahlreiche Unterstützungserklärungen (die - den Namen zufolge - offensichtlich nicht nur von Landsleuten des Beschwerdeführers stammen).

Zusammenfassend kann der Gerichtshof nicht finden, dass der Beschwerdeführer die lange Zeit des Asylverfahrens überhaupt nicht genützt habe, um sich zu integrieren, weshalb unter Anwendung der dargelegten Rechtsprechung wegen des bereits über zehnjährigen Aufenthalts des Beschwerdeführers in Österreich eine Rückkehrentscheidung als unverhältnismäßiger Eingriff in das Privatleben des Beschwerdeführers zu werten ist. Insofern unterscheidet sich der vorliegende Fall etwa von dem des hg. Erkenntnisses vom 22. Jänner 2013, 2011/18/0036, in dem der Fremde auch nach elf Jahren im Bundesgebiet über keine Deutschkenntnisse verfügte.

Nach dem Gesagten war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit aufzuheben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil dem Beschwerdeführer die Verfahrenshilfe bewilligt wurde.

Wien, am 10. Dezember 2013

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