VwGH 2011/01/0093

VwGH2011/01/009321.4.2011

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. Thienel sowie Hofrat Dr. Blaschek und Hofrätin Mag. Rehak als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Jäger, über die Beschwerde des ZA in W, geboren 1983, vertreten durch Mag. Georg Bürstmayr, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Hahngasse 25/5, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom 28. Juli 2006, Zl. 303.555-C1/E1-IV/12/06, betreffend §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Normen

AsylG 2005 §10;
MRK Art8 Abs1;
MRK Art8 Abs2;
AsylG 2005 §10;
MRK Art8 Abs1;
MRK Art8 Abs2;

 

Spruch:

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, reiste am 2. Mai 2006 aus Deutschland kommend gemeinsam mit seiner Ehefrau (Beschwerdeführerin zur hg. Zl. 2011/01/0114; das in weiterer Folge in Österreich geborene Kind ist Beschwerdeführerin zur hg. Zl. 2011/01/0115) in das Bundesgebiet ein und beantragte am selben Tag internationalen Schutz.

In seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 5. Mai 2006 gab der Beschwerdeführer an, seine Heimat Dagestan im Jahr 2001 gemeinsam mit seinem Vater verlassen und seither in Aserbaidschan gelebt zu haben. Dort habe er im Juni 2002 seine nunmehrige Ehefrau kennengelernt; im August 2005 hätten sie geheiratet. Seine Mutter und sein Bruder seien ebenfalls in Österreich aufhältig; deren konkrete Wohnadresse sei ihm jedoch nicht bekannt. Da sein Vater in Dagestan verfolgt worden sei, habe sich die Familie im Jahr 2001 trennen müssen und seither habe er keinen Kontakt zu seiner Mutter und seinem Bruder mehr gehabt.

Am 29. Mai 2006 übermittelte der Beschwerdeführer dem Bundesasylamt eine psychotherapeutische Stellungnahme von Dr. W. vom 22. Mai 2006. In dieser Stellungnahme führte Dr. W. aus, dass sich die Mutter des Beschwerdeführers bereits seit über zwei Jahren bei ihr in Psychotherapie befinde. Der Beschwerdeführer habe bis zur erzwungenen Trennung im Jahr 2001 gemeinsam mit seinen Eltern und dem jüngeren Bruder in einem Familienverband gelebt, weshalb von therapeutischer Seite dringend ersucht werde, von einer Rückschiebung des Beschwerdeführers nach Deutschland und damit von einer erneuten erzwungenen Trennung abzusehen. In dem die Mutter betreffenden psychotherapeutischen Befundbericht vom 15. Juni 2005 sei bereits auf die dringende Notwendigkeit der Wiederherstellung des Familienverbandes hingewiesen worden.

Am 30. Juni 2006 wurde der Beschwerdeführer erneut vom Bundesasylamt einvernommen, wobei dieser zu seinem nunmehrigen Verhältnis zu seiner Mutter und seinem Bruder angab, jedes Wochenende zu ihnen zu fahren; sie würden in einer Pension in Wien wohnen. Seiner Mutter gehe es gesundheitlich sehr schlecht. Die frühere Situation habe ihre Gesundheit sehr angegriffen und die Trennung von ihren Kindern habe zu einer Verschlechterung derselben geführt. Sie wisse, dass der Verbleib des Beschwerdeführers und seiner Familie in Österreich noch nicht sicher sei und mache sich deswegen große Sorgen. Der Beschwerdeführer fürchte, dass seine Mutter eine neuerliche Trennung nicht überleben werde. Allein der Umstand, dass seine Mutter in Wien und der Beschwerdeführer mit seiner Familie in Traiskirchen leben, sei für sie kaum erträglich. Der Pensionsleiter habe auf Wunsch seiner Mutter bereits darum angesucht, dass sie bei ihr leben könnten. Dem Ersuchen sei auch schon zugestimmt, die Verlegung sei jedoch noch nicht durchgeführt worden, weil seine Ehefrau zu diesem Zeitpunkt wegen der Geburt ihres Kindes im Spital gewesen sei. Der Beschwerdeführer wolle bei seiner Mutter bleiben; sollte ihr etwas passieren, würde zudem sein minderjähriger Bruder allein zurückbleiben.

Mit Bescheid vom 30. Juni 2006 wies das Bundesasylamt den Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück, stellte fest, dass gemäß Art. 13 "der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates" Deutschland für die Prüfung des Antrages zuständig sei, wies den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 dorthin aus und erklärte "demzufolge" dessen Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Deutschland für zulässig.

In seiner dagegen erhobenen Berufung verwies der Beschwerdeführer erneut auf den schlechten Gesundheitszustand seiner Mutter. Das Wiedersehen mit dem Beschwerdeführer habe zu einer erkennbaren Stabilisierung ihres Gesundheitszustandes geführt; die drohende erneute Trennung von ihm käme einer Retraumatisierung gleich. Seine Mutter benötige auf Grund ihrer psychischen Erkrankung die Unterstützung des Beschwerdeführers, auch im Hinblick auf die Pflege und Erziehung seines minderjährigen jüngeren Bruders. Einer Überstellung des Beschwerdeführers und seiner Familie nach Wien sei bereits zugestimmt worden, um ihm ein Zusammenleben mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder zu ermöglichen. Die Ausweisung des Beschwerdeführers und die damit verbundene erneute Trennung von seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder würde daher einen gravierenden und unzulässigen Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers darstellen. Der Berufung angeschlossen war unter anderem eine zweite psychotherapeutische Stellungnahme von Dr. W. vom 8. Juli 2006, in welcher im Wesentlichen ausgeführt wurde, dass die Mutter des Beschwerdeführers an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung leide und die neuerliche Trennung von ihrem Sohn einer Retraumatisierung gleich käme. Darüber hinaus sei sie mit der Erziehung ihres pubertierenden jüngeren Sohnes überfordert und notwendig auf die Unterstützung des erwachsenen älteren Sohnes angewiesen.

Mit Schreiben vom 21. Juli 2006 übermittelte der Beschwerdeführer eine Stellungnahme des seine Mutter behandelnden Facharztes für Psychiatrie und Neurologie, Dr. M., vom 19. Juli 2006, in welcher dargelegt wird, dass die Mutter an einer schweren posttraumatischen Belastungsstörung leide, regelmäßig Psychopharmaka einnehmen und sich zusätzlich zur psychiatrischen Behandlung einer störungsspezifischen Psychotherapie unterziehen müsse. Sollte ihr Sohn, der ihre wichtigste Bezugsperson darstelle, tatsächlich abgeschoben werden, "käme dies einer Retraumatisierung gleich - mit unabsehbaren Folgen".

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die dagegen erhobene Berufung gemäß §§ 5, 10 AsylG 2005 ab. Sie führte unter anderem - mit näherer Begründung - aus, dass keine Verpflichtung der österreichischen Behörden bestanden habe, vom Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch zu machen. In Bezug auf die in Österreich aufhältige Mutter des Beschwerdeführers wies die belangte Behörde zunächst darauf hin, dass unter besonderen Umständen auch weiter entfernte Verwandte, wie insbesondere volljährige bzw. verheiratete Kinder, als Familienangehörige iSd Art. 8 EMRK anzusehen seien. Zu diesen Umständen zählten etwa ein gemeinsamer Haushalt, ein Pflege- oder Betreuungsverhältnis sowie eine finanzielle oder psychische Abhängigkeit. Das gemeinsame Familienleben des Beschwerdeführers mit seiner Mutter habe bereits 2001 geendet; ein Wiedersehen habe erst nach der Asylantragstellung des Beschwerdeführers in Österreich im Mai 2006 stattgefunden, als der Beschwerdeführer bereits verheiratet gewesen sei und selbst ein eigenes Familienleben geführt habe. Im Hinblick auf die Angaben des Beschwerdeführers, seine Mutter jedes Wochenende zu besuchen, und auf Grund seiner Inschubhaftnahme Anfang Juli 2006 habe es lediglich in einem Zeitraum von zwei Monaten einen persönlichen Kontakt gegeben und dies auch nur äußerst sporadisch. Im konkreten Fall liege kein gemeinsamer Haushalt vor, es bestehe keine finanzielle Abhängigkeit und angesichts der Besuchsfrequenz sei auch ein relevantes (intensives) Pflege- oder Betreuungsverhältnis ausgeschlossen, zumal der Beschwerdeführer auch nicht vorgebracht habe, seine Mutter zu pflegen oder zu betreuen. Auch eine sonstige Abhängigkeit sei nicht ersichtlich. Das Argument, die "neuerliche Trennung" käme einer Retraumatisierung der Mutter gleich, führe daher nicht zum Erfolg. Einziges Argument für einen Selbsteintritt bleibe der möglicherweise beeinflussbare Gesundheitszustand der Mutter des Beschwerdeführers, wobei die medizinischen Vorteile einer von Familienmitgliedern unterstützten Therapie nicht verkannt würden. Insgesamt sprächen aber keine ausreichend starken Gründe für einen Selbsteintritt, weil die Mutter des Beschwerdeführers bereits seit dem Jahr 2002 in psychotherapeutischer Behandlung stünde und in den zwei Monaten nach dem Eintreffen des Beschwerdeführers in Österreich kein besonders intensiver Kontakt oder gar eine unmittelbare Einbindung in die Therapie der Mutter feststellbar gewesen sei. In Ansehung der dargestellten Beziehung zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Mutter - ein Familienleben mit dem minderjährigen Bruder sei nicht behauptet worden - liege keine Verletzung von Art. 8 EMRK vor. Auch in Bezug auf die Kernfamilie (Ehefrau und minderjährige Tochter) des Beschwerdeführers könne ein Eingriff in sein Recht auf Familienleben iSd Art. 8 EMRK nicht festgestellt werden, weil diese ebenfalls von der Ausweisung betroffen sei.

Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende Beschwerde über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z. 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

Die Beschwerde beruft sich auf die psychotherapeutische Stellungnahme vom 8. Juli 2006, aus welcher sich ergebe, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers und der regelmäßige Kontakt mit seiner Mutter für diese einen ganz wesentlichen Beitrag zu ihrer (möglichen) Gesundung bzw. zur Erhaltung ihrer Gesundheit darstelle; die Mutter sei somit in ihrer Gesundheit von ihrem Sohn abhängig. Weiters werde darin ausgeführt, dass eine Rückschiebung des Beschwerdeführers nach Deutschland für dessen Mutter einer Retraumatisierung gleichkäme. Bereits in dem der belangten Behörde vorgelegten Befund vom 15. Juni 2005 sei eine Zusammenführung der Familie aus therapeutischer Sicht dringend empfohlen worden. Der Begriff des "Familienlebens" werde zu eng ausgelegt, wenn man ein schützenswertes Interesse leiblicher Kinder daran, durch regelmäßigen Kontakt mit einem Elternteil die akut bedrohte Gesundheit desselben zu erhalten und zu verbessern, verneinen wolle. Der Beschwerdeführer könne dieser Verpflichtung nur durch seine weitere Anwesenheit in Österreich nachkommen.

Damit zeigt die Beschwerde im Ergebnis eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides auf.

Wie die belangte Behörde zunächst richtig erkannt hat, fallen familiäre Beziehung unter Erwachsenen dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 9. Juni 2006, B 1277/04, sowie weiters etwa die hg. Erkenntnisse vom 26. Jänner 2006, Zlen. 2002/20/0423 und 2002/20/0235, vom 8. Juni 2006, Zl. 2003/01/0600, und vom 29. März 2007, Zlen. 2005/20/0040 bis 0042).

Dennoch hat es die belangte Behörde in der Folge unterlassen, alle von ihr selbst dargestellten, für ein Familienleben unter Erwachsenen sprechenden "besonderen Umstände" einer näheren Prüfung zu unterziehen. So hat sie sich insbesondere mit der Frage, ob eine psychische Abhängigkeit der Mutter vom Beschwerdeführer besteht, nicht auseinander gesetzt und ist auf die sich aus einer neuerlichen Trennung vom Beschwerdeführer für die Mutter ergebenden gesundheitlichen Folgen oder die behauptete benötigte Unterstützung durch den Beschwerdeführer bei der Pflege und Erziehung ihres noch minderjährigen Sohnes nicht näher eingegangen.

Im vorliegenden Fall kann jedoch dahin gestellt bleiben, ob zwischen dem Beschwerdeführer und seiner Mutter bzw. seinem jüngeren Bruder tatsächlich ein Familienleben iSd Art. 8 Abs. 1 EMRK bestand. Nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sind Beziehungen zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern, die wegen des Fehlens von über die üblichen Bindungen hinausgehenden Merkmalen der Abhängigkeit nicht (mehr) unter den Begriff des Familienlebens fallen, unter den Begriff des ebenfalls von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Privatlebens zu subsumieren (vgl. dazu die Urteile des EGMR vom 9. Oktober 2003, Slivenko gegen Lettland, Beschwerde Nr. 48321/99, Randnr. 97, vom 15. Juni 2006, Shevanova gegen Lettland, Beschwerde Nr. 58822/00, Randnr. 67, vom 22. Juni 2006, Kaftailova gegen Lettland, Beschwerde Nr. 59643/00, Randnr. 63, und vom 12. Jänner 2010, A. W. Khan gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 47486/06, Randnr. 31 ff). Durch die Ausweisung des Beschwerdeführers lag somit ein Eingriff in ein von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschütztes Recht des Beschwerdeführers vor, weshalb die belangte Behörde jedenfalls gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK zur Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffs und damit zur Vornahme einer Abwägung der betroffenen Rechtsgüter und öffentlichen Interessen verpflichtet gewesen wäre (vgl. dazu das hg. Erkenntnis vom 20. Juni 2008, Zl. 2008/01/0060, mwN).

Wegen des Fehlens der erforderlichen Interessenabwägung lässt sich aber noch nicht abschließend beurteilen, ob die Asylbehörden vor allem unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK im gegenständlichen Fall von ihrem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch machen hätten müssen.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am 21. April 2011

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